Die Nacht der Schwarzkittel
Im Aargau wüten besonders viele Wildschweine – es drohen Rekordschäden. Die Jäger würden gern ein paar Tiere schiessen. Aber die sind zu schlau.
Veröffentlicht am 16. September 2013 - 13:52 Uhr
Ein schnelles Handzeichen, ein kurzes «Pst !», dann greift Rainer Klöti behutsam nach dem Gewehr und legt an. Das kleinste Geräusch kann den Erfolg zunichtemachen. Das Klicken des Verschlusses, wenn er einrastet, mögen Wildschweine gar nicht. Das wissen auch die Büchsenmacher. Rainer Klötis Gewehr bleibt beim Entsichern leise wie eine schleichende Katze. Er äugt durch das Zielfernrohr vom Hochsitz hinunter, sucht langsam den Waldrand ab. Dann sagt er, wieder in normalem Gesprächston: «Das war wohl nur ein Schatten.»
Wer Wildschweine jagen will, braucht vor allem eines: Geduld. Die Tiere hören sehr gut, haben einen ausgezeichneten Geruchssinn – und vor allem sind die urigen Viecher clever. Deshalb hat die Aargauer Jagdgesellschaft Berg im Frühling die Flinten beiseitegelegt. Weil die Jäger den marodierenden Wildschweinrotten nicht mehr Herr wurden, beschlossen sie die Auflösung der Gesellschaft, denn es drohte ein finanzielles Desaster: Die Jäger müssen bis zu einen Viertel der von Wildschweinen verursachten Schäden selber tragen. So will es das Gesetz im Kanton Aargau.
Das soll der Jagdgesellschaft Schinznach-Dorf nicht passieren. «Wir haben das Problem im Griff», sagt Obmann Rainer Klöti, der auch den Aargauischen Jagdverein präsidiert. Einmal pro Woche geht der 59-jährige Rheumaarzt auf die Pirsch. «Hier draussen in der Natur komme ich nach einem harten Tag zur Ruhe.» Oft werde er gefragt, wie das zusammengehe, die Liebe zur Natur und das Töten von Tieren. Die Frage sei wichtig, er habe viel darüber nachgedacht, sagt Klöti. «Ich vergleiche es mit einem Landwirt, der seine Tiere hegt und umsorgt, zuletzt aber doch ins Schlachthaus bringt. Solange wir Fleisch essen, müssen wir auch dazu stehen, dass wir Tiere töten.» Eine Stunde noch, dann ist es dunkel. Rainer Klöti deutet auf einen kleinen Waldausläufer. «Wenn wir Wildschweine zu Gesicht bekommen, werden sie wahrscheinlich da hinten aus dem Gestrüpp kommen.» Sehr optimistisch klingt das nicht. Die Felder seien etwas zu trocken: «Das erschwert den Tieren das Wühlen bei der Nahrungssuche. Da bleiben sie lieber im Wald, dort ist es feuchter.»
Kaum hat er das gesagt, bewegt sich etwas. Die Spannung steigt sofort, Klöti kauert nieder. Doch es ist nur ein Fuchs. Zielstrebig wie ein Handelsreisender trippelt das Tier der Steinmauer entlang, hält alle paar Schritte inne, reckt kurz die Nase in den Wind. Klöti führt seinen Handrücken zum Mund und saugt die Luft ein. Es klingt, als quietsche eine Feldmaus. Der Fuchs schaut auf, kommt näher, horcht, wagt sich ein paar Meter heran. Dann dreht sich der Wind. Wie vom Donner gerührt, erstarrt das Tier, macht einen Riesensatz rückwärts und verschwindet im Gebüsch.
«Eigentlich müssten wir auch Füchse schiessen», sagt Klöti. Wenn der Bestand zu gross wird, steigt die Gefahr von Seuchen wie Tollwut und Staupe. Doch im Sommer sei das Fuchsfell wertlos. Nur das dichtere Winterfell eigne sich zur Verarbeitung. «Ein Tier zu schiessen, nur um es in die Kadaversammelstelle zu geben, das geht irgendwie gegen meine Jägerethik.»
Für das laufende Jahr hat sich Klöti ein Ziel gesetzt: Drei Wildschweine möchte er schiessen und drei bis vier Rehböcke. «Wildschweinfleisch schmeckt hervorragend, vor allem vom Grill», schwärmt er. Mit einem Teil der Beute eines Jahrs deckt er etwa die Hälfte des Fleischbedarfs in seinem vierköpfigen Haushalt.
Im Gebiet der Jagdgesellschaft Schinznach-Dorf halten sich meist drei bis fünf Wildschweingrossfamilien mit bis zu 15 Tieren auf. Eine Rotte umfasst meist zwei bis drei Bachen, also weibliche Tiere, mit mehreren Jungtieren. Die Keiler, die älteren männlichen Tiere, werden nach einem Jahr verstossen und leben allein. Angeführt wird die Rotte von der Leitbache, dem erfahrensten Tier in der Gruppe.
Die starke soziale Struktur ist gemäss Tierforschern der wichtigste Grund, warum Wildschweine so schwer zu jagen sind. In der Gruppe entsteht eine Art kollektives Wissen darüber, wo die Tiere gefährliche Begegnungen erlebt oder schlechte Erfahrungen gemacht haben. Diese Stellen meidet die Leitbache für lange Zeit.
Auch am Hochsitz bleiben die Sauen aus. «Heute Nacht wird das hier nichts mehr. Machen wir einen Pirschgang bei den Maisfeldern», sagt Rainer Klöti. Er verriegelt die Tür des hölzernen Hochsitzes und steigt ins Auto. Zuvor hat er am Wegrand noch ein paar Brombeeren gepflückt. «Die wären eigentlich das Dessert», sagt er schmunzelnd.
Auf dem Pirschgang wird gejagt, aber auch Präsenz markiert. Die Lernfähigkeit der Wildschweine hat nämlich ihr Gutes: Die Tiere reagieren auf Jagddruck und Störungen. 2200 Hektaren misst das Gebiet der Jagdgesellschaft Schinznach-Dorf. Davon sind 1000 Hektaren Wald. Die Schweine sollen lernen, dass sie im Wald sicherer sind als in den Feldern.
Die vielen Wildschweine im Kanton Aargau haben sich heuer zu einer regelrechten Plage ausgeweitet. Das vergangene Jahr war sowohl für die Buchen als auch für Eichen ein sogenanntes Mastjahr. In diesen zyklisch vorkommenden Jahren bilden die Bäume besonders viele Früchte – ein Trick der Natur, um sich gegen Fressfeinde zu schützen. Das Überangebot soll dafür sorgen, dass möglichst viele Samen in den Früchten keimen und so den Fortbestand der Pflanze sichern. Für die Wildsäue bedeuten Mastjahre ein Schlemmerparadies. Der reich gedeckte Tisch lässt ihre Zahl förmlich explodieren.
Wildschweine weisen sehr rasche Generationenfolgen auf. Bei optimalen Bedingungen kann ein Bestand von 1000 Tieren innert eines Jahrs auf 3000 ansteigen, in zwei Jahren theoretisch gar auf 27 000. Damit übertreffen sie die Vermehrungsfähigkeit von Rehen um das Sechsfache und die von Hirschen gar um das Zwölffache.
Die Leidtragenden sind die Landwirte. Auf der Suche nach Essbarem pflügen Wildschweine mit ihren Eckzähnen ganze Felder um. Dieses Jahr ist es besonders schlimm. Im Aargau zeichnet sich ein Rekordschaden ab. Landwirte beklagen Verwüstungen in Höhe von mehr als einer halben Million Franken. Ein Feld, das von Wildschweinen heimgesucht wurde, muss eingeebnet und neu ausgesät werden.
Die Strasse Richtung Bözberg wird enger und holpriger. Der Lichtkegel der Scheinwerfer streicht über ein ansteigendes Maisfeld. Klöti fährt rechts heran, steigt aus und horcht. Ein Landwirt hat gemeldet, er habe im Feld Spuren von Schwarzkitteln gesichtet, so nennen Jäger die Wildschweine.
Während Klöti den Hang hochsteigt, wird deutlich, wie lärmig die Nacht in der Zivilisation ist. Eine kleine Ewigkeit lang rattert ein Güterzug auf der nahen Bahnlinie vorbei. Die Autobahn sorgt auch noch um diese Zeit für ein stetiges Grundrauschen. Aus einer Landbeiz dringt Gelächter und Gläserklirren herüber. Und vom Tal her trägt der Wind Musikfetzen aus Verdis «Trovatore» hoch: eine Freiluftaufführung in Schinznach-Dorf.
«Ein Jäger muss immer die mögliche Schussposition im Hinterkopf behalten. Wir dürfen nur schiessen, wenn wir genau abschätzen können, wohin die Kugel fliegt, falls es zu einem Durchschuss kommt oder falls wir nicht treffen», sagt Klöti. Fehlschüsse kämen vor.
Schiessen im Dunkeln ist anspruchsvoll. Nachtsichtgeräte oder Restlichtverstärker würden helfen. Aber die sind verboten. Zu Recht, findet Klöti: «Man muss dem Tier eine Chance lassen und darf es nicht permanent unter Stress setzen.» Aus demselben Grund sind auch die Wildwechsel im Wald als Jagdgelegenheit tabu: Pfade, auf denen die Wildschweine von einem Gebiet ins andere wandern. Es gehe um ein gedeihliches Miteinander. «Ein gewisses Mass an Wildschäden ist natürlich und muss akzeptiert werden. Nur wenn dieses vertretbare Mass überschritten wird, regulieren wir», sagt Klöti.
In dieser Nacht aber wollen sich die Schweine partout nicht regulieren lassen. Auch der Pirschgang verläuft ergebnislos. «Wären Schweine im Feld, würden wir sie hören. Sie veranstalten einen Höllenlärm, quietschen und schmatzen.» Für eine Viertelstunde legt sich Klöti dennoch auf die Lauer. Der Geruch von frisch gemähtem Gras steigt in die Nase. Er atmet tief ein, schaut in die dunkle Weite und flüstert: «Ist das nicht herrlich hier?»
Kurz vor Mitternacht treffen sich Jägerkollegen zum Bier in der Schinznacher Dorfbeiz. Beute hat niemand gemacht. Einer hat die Sauen zumindest gehört. Der fröhlichen Stimmung am Tisch tut der Misserfolg keinen Abbruch. «Prost miteinander», sagt Klöti.
Unten im Tal ist Leonora ihren Operntod gestorben, Verdis Musik verklungen. Die Schweine kümmerts kaum. In einer weiteren Nacht hat die weise Leitbache dafür gesorgt, dass keine Sau aus ihrer Rotte Leonoras Schicksal ereilt.