Daniela Docekal wird am 3. Februar 1961 in der Frauenklinik Zürich geboren. Einige Monate später heisst sie plötzlich Christiane Weideli. Angeblich zur Welt gekommen in Lima, Peru, am 21. Dezember 1961.

«Ich kann bis heute nicht die Person sein, die ich wirklich bin. Ich muss weiter mit der Lüge leben, die meine neuen Eltern kreierten.» Sie erfanden alles: ihren Namen, ihr Geburtsdatum, ihren Geburtsort. Heute sagt sie: «Christiane ist eine Fälschung. Meine Identität wurde mir gestohlen.»

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Die Adoptiveltern Jean-Pierre und Vicky Weideli, mit Baby Christiane; Zwangsadoptiert und sexuell missbraucht Das gestohlene Leben der Daniela D. Die erschütternde Geschichte eines Schweizer Babys, das unter einer neuen Identität nach Peru kam – und durch die Hölle ging.

Der Vater schlug sie und missbrauchte sie sexuell: die kleine Christiane mit den Adoptiveltern Jean-Pierre und Vicky Weideli

Quelle: Privat

64 Jahre alt ist Christiane Weideli inzwischen, lebt in Vancouver, Kanada. Als erste zur Adoption ins Ausland vermittelte Person hat sie mit Hilfe des Beobachters beim Bund ein Gesuch auf Wiedergutmachung eingereicht. So wie andere Fremdplatzierte, administrativ Versorgte – und Zwangsadoptierte wie sie.

Die Vermittlerin

Genau genommen war ihre Fremdplatzierung aber gar keine Adoption, sondern ein Identitätswechsel. Möglich gemacht durch die umtriebige Alice Honegger. Die St. Galler Fürsorgerin vermittelte ab den 1950er-Jahren bis zu ihrem Tod 1997 mehrere Tausend Kinder zu Pflegefamilien und Adoptionseltern.

Es war die Zeit, als Vormundschaftsbehörden gesellschaftliche Moralvorstellungen durchsetzen wollten. Sie nahmen unverheirateten Müttern und «liederlichen» Eltern die neugeborenen Babys weg – und platzierten sie in «intakten» Familien.

Vermittlerin Alice Honegger drängte die werdende Mutter, das Kind zur Adoption freizugeben.

Die umtriebige Alice Honegger war bestens vernetzt mit Behörden, kinderlosen Ehepaaren, Frauenspitälern. Im Fall von Christiane Weideli meldete sich im November 1960 das Pfarramt Zürich-Neumünster bei Honegger: «Wir betreuen eine schwer geprüfte Frau, die in Zürich Kreis 1 lebt.» Die «äusserst tapfere und tüchtige Frau» habe «nach langen Überlegungen eingesehen, dass es ihr niemals möglich sein wird, beide Kinder durchzubringen». Deshalb wolle sie dieses Kind nun «anmelden». 

Die Mutter

Die Frau heisst Edith Docekal, damals 30 Jahre alt, ursprünglich Deutsche. Mit 18 hat sie einen sechs Jahre älteren Lastwagenfahrer aus Zürich geheiratet. So wird Edith Schweizerin. Die Ehe wird nach wenigen Jahren geschieden. Später heiratet sie Oldrich Docekal, er stammt aus der damaligen Tschechoslowakei und betreibt eine Sattlerei in Freiburg im Breisgau. 

Die beiden haben eine Tochter. Sie trennen sich und kommen doch immer wieder zusammen. 1960, Edith arbeitet im «Hiltl» als Küchenhilfe, wird sie erneut schwanger. Oldrich, der mal bei ihr in Zürich ist, dann wieder in Berlin oder sonst wo, hat angeblich ein Alkoholproblem und sei «verschollen», schreibt Alice Honegger in einer Aktennotiz. 

Honegger drängt die werdende Mutter, das Kind zur Adoption freizugeben. Doch Edith Docekal zögert. Was sie nicht weiss: Ihr Baby, noch nicht einmal auf der Welt, ist zu diesem Zeitpunkt bereits versprochen: dem schweizerisch-belgischen Ehepaar Jean-Pierre und Vicky Weideli, wohnhaft in Peru. Das Paar hatte zwei Jahre zuvor schon einen Knaben von Alice Honegger vermittelt bekommen. 

Daniela, das Baby

Am 3. Februar 1961, abends um 21.09 Uhr, kommt Christiane als Daniela Docekal zur Welt. 3,8 Kilo schwer, 50 Zentimeter gross. Weder Kind noch Mutter stehen unter Vormundschaft. Wie Honegger es schafft, die Kleine wenige Tage nach der Geburt bei einer Pflegefamilie in Brunnen SZ zu platzieren, lässt sich anhand der Akten nicht rekonstruieren. 

Die Mutter, inzwischen bei ihrer Schwester in Deutschland, ist hin- und hergerissen. Mal schreibt sie, sie sei mit einer Adoption einverstanden – sie komme finanziell kaum über die Runden. Dann wieder will sie das Baby unbedingt behalten. Zweimal verspricht Honegger, ihr das Kind zu übergeben, sagt dann aber unter einem Vorwand ab.

Akten zur Adoption von Christiane Weideli; Zwangsadoptiert und sexuell missbraucht Das gestohlene Leben der Daniela D. Als Baby wurde sie unter neuer Identität zu Adoptiveltern nach Peru verfrachtet – und ging durch die Hölle.

«Wir empfehlen, der Mutter die Herausgabe des Kindes kurzerhand zu verweigern»: Akten zur Adoption von Christiane Weideli

Quelle: Leslie Knott

Auch die involvierten Behörden zögern. Weil die Mutter den Heimatort im Kanton Bern hat, ist nun die bernische Fürsorgedirektion zuständig: «Man müsste schon irgendwie nachweisen können, dass das Kind bei seinen Eltern in seinem leiblichen oder seelischen Wohle gefährdet wäre.» Doch Honegger insistiert und verweist auf das angeblich unstete Leben des Kindsvaters.

Darauf schreiben die Behörden aus Bern: «Wir empfehlen Ihnen daher, Frau Docekal die Herausgabe des Kindes kurzerhand zu verweigern.» Anfang November 1961 hat Alice Honegger ihr Ziel erreicht: Die Eltern in Deutschland unterzeichnen einen «Verzichtsschein».

Die neue Mutter

Vicky Weideli wartet zu dieser Zeit bereits seit Monaten auf das Baby – bei Verwandten in der Schweiz. Zu Hause in Peru erzählt sie ihrem Umfeld, sie sei schwanger. Gegenüber den hiesigen Behörden gibt sie sich als 43-jährig aus. Tatsächlich ist sie 53 – eigentlich zu alt für eine Adoption. Doch niemand überprüft ihre Angaben.

«Er schwang die Peitsche mit solcher Kraft, dass sie in meine Haut schnitt. Ich trage diese Narben noch heute.» 

Christiane Weideli

Honegger, die nie von einer Behörde beauftragt wurde, besorgt der neuen Mutter bei der Eidgenössischen Fremdenpolizei «einen Reiseausweis für staatenlose Kinder». Sie stellt sogar eigenmächtig eine Art «Reisebewilligung» aus. 

Zu einer ordentlichen Adoption kommt es nie. Nach der Einreise lässt die neue Mutter das Baby in Peru als ihr eigenes registrieren. Gemäss der neuen Geburtsurkunde kam Christiane Weideli am 21. Dezember 1961 zur Welt – unterzeichnet ist das Dokument von einem pensionierten Medizinprofessor.

Das Monster

Zwei Jahre später schicken die neuen Eltern Fotos ihrer glücklichen Familie in die Schweiz. Die Realität sieht bald anders aus. «Die Menschen, die mich hätten beschützen sollen, haben mich stattdessen körperlich misshandelt», sagt Christiane Weideli rückblickend. «Jeder Tag war unvorhersehbar, voller Angst und Furcht.» 

Vicky habe sie jeweils ins Schlafzimmer geschickt, wo sie sich habe ausziehen müssen. Dann kam Jean-Pierre. «Er schwang die Peitsche mit solcher Kraft, dass sie in meine Haut schnitt. Ich trage diese Narben noch heute.» 

«In mir brannte noch der Schmerz des sexuellen Missbrauchs in der Nacht zuvor.»

Christiane Weideli

Die Familie zieht bald in die USA, nach Florida – und es wird noch schlimmer: «Wie soll ich erklären, wie ich mich am Tag meiner Erstkommunion fühlte? Ich posierte für ein Foto, hielt meine Bibel in der Hand und trug ein hübsches weisses Kleid. In mir jedoch brannte noch der Schmerz des sexuellen Missbrauchs in der Nacht zuvor.» 

Das Martyrium dauert gut drei Jahre an – und geht fliessend über in psychischen Missbrauch: Schlafentzug, Essensentzug, stundenlanges Aus-dem-Haus-Sperren.

Mit 15, die Familie ist inzwischen nach Vancouver gezogen, kann Christiane nicht mehr – und vertraut sich einer Lehrerin an. Darauf wird Vicky und Jean-Pierre die elterliche Obhut per Gerichtsentscheid entzogen. Für den Missbrauch wird Jean-Pierre juristisch nie belangt.

Der Bruder

Christianes Bruder ist da schon längst von zu Hause abgehauen und abgetaucht. 17 Jahre lang hat die Schwester keine Ahnung, wo er lebt. Sie spürt ihn schliesslich in der Nachbarprovinz auf, er hat sich einen neuen Vornamen zugelegt. Christiane, inzwischen 29, reist zu ihm – und wird erneut emotional durchgerüttelt. Denn ihr Bruder hatte über all die Jahre mit einem Freund der Familie in Kontakt gestanden und erfuhr – wie nun auch Christiane – von ihrer Schweizer Herkunft. 

Doch Details über sich selbst weiss sie noch immer nicht. Sie findet einen Hinweis auf die Kindervermittlerin Alice Honegger – in einem Brief, in dem die Mutter gegenüber einem Verwandten gesteht, dass die Kinder nicht legal adoptiert worden seien.

Christiane Weideli; Zwangsadoptiert und sexuell missbraucht Das gestohlene Leben der Daniela D. Als Baby wurde sie unter neuer Identität zu Adoptiveltern nach Peru verfrachtet – und ging durch die Hölle.

«Bis heute weiss ich praktisch nichts von meiner leiblichen Mutter»: Christiane Weideli

Quelle: Leslie Knott

Christiane ist bereits über 40, als sie sich auf Spurensuche in der Schweiz macht. 2009 kommt im Zürcher Staatsarchiv ihr Adoptionsdossier zum Vorschein – und damit die Namen ihrer leiblichen Eltern: Edith und Oldrich Docekal. 

Christiane reist in die Schweiz und nach Deutschland, doch ihre Mutter ist 2003 verstorben. «Bis heute weiss ich praktisch nichts von ihr.» 

Gerechtigkeit

«In meinem Leben habe ich gelernt, mit Erinnerungen und Gefühlen umzugehen», sagt Christiane Weideli heute. Sie lebe ein gutes Leben, aber dennoch: «Es ist eine ständige Anstrengung, die Stimmen von Vicky und Jean-Pierre in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen.» Beruflich arbeitete sie jahrelang mit Kindern, selber hat sie keine. Heute ist sie in der Administration und an der Rezeption eines Unternehmens tätig.

Sie hat nun beim Bundesamt für Justiz ein Gesuch für den Solidaritätsbeitrag für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen eingereicht. Davon erhofft sie sich «ein Stück Gerechtigkeit». Jean-Pierre Weideli wurde juristisch nie zur Rechenschaft gezogen.

Und sie möchte eine weitere Frage klären. Im Schweizer Zivilstandsregister steht ihr richtiger Name: Daniela Docekal. Dazu die Namen ihrer Eltern. Nur unter «Heimatort» und «Nationalität» des Kindes steht: nichts.

Mitarbeit: Alessia Cerantola, Leslie Knott

www.babynumbertwelve.com

Quellen

Staatsarchiv Kanton Zürich: Adoptionsdossier Daniela Docekal
Privatarchiv Christiane Weideli: Diverse Korrespondenz
Schweizerische Fachstelle für Adoption: Korrespondenz Herkunftssuche
Bundesamt für Polizei: Korrespondenz Herkunftssuche