Die Angst, dass es in die Hose geht
400'000 Menschen in der Schweiz leiden unter Inkontinenz. Im Bus, im Einkaufszentrum oder beim Joggen plagt sie die Angst, den Urin nicht halten zu können. Die gute Nachricht: In den meisten Fällen kann man etwas dagegen tun.
aktualisiert am 18. September 2017 - 14:44 Uhr
Wenn Vreni H. den steilen Weg zum Bahnhof hinunterging, verlor sie stets einen «Gutsch» Urin. Dies war ihr sehr peinlich. «Ich hatte Angst, unangenehm zu riechen, musste stets Wäsche zum Wechseln mit mir herumschleppen», erzählt die rüstige 75-Jährige. Sie will nicht namentlich genannt werden: Inkontinenz ist noch immer ein Tabuthema.
Dabei leidet in der Schweiz jede vierte Frau und jeder zehnte Mann an einer Blasenschwäche - in Alters- und Pflegeheimen sind es gar 90 Prozent der Frauen und 50 Prozent der Männer. Während die einen «nur» bei körperlicher Anstrengung Urin verlieren, haben andere ihre Blasenfunktion gar nicht mehr unter Kontrolle.
Einen Arzt sollte man aufsuchen sobald die Lebensqualität eingeschränkt ist und man aufgrund des Urinverlusts nicht mehr wie zuvor leben kann. Viele Betroffene leiden aus Scham jahrelang im Stillen und richten ihr ganzes Leben nach der Toilette aus. Manche Frauen trauen sich nicht einmal mehr, Familienmitglieder zu besuchen. Zu gross ist die Angst, dass sie Urin verlieren und auf dem Sofa einen Fleck hinterlassen könnten. Auch kann eine Inkontinenz die Partnerschaft erheblich belasten. Etwa jede dritte betroffene Frau verliert auch beim Geschlechtsverkehr Urin. Weil sie sich schämen, mit dem Partner darüber zu sprechen, verzichten viele auf Sexualität. Nur wenige Patientinnen haben den Mut ihr Problem beim Arzt anzusprechen. Deshalb versuchen manche Ärzte die Hemmungen ihrer Patientinnen zu nehmen und fragen sie, ob sie Urin verlieren.
Spezialisten unterscheiden zwischen zwei Erkrankungstypen: der Drang- und der Belastungsinkontinenz. Die Dranginkontinenz ist die Folge einer überaktiven Blase, auch Reizblase genannt. Betroffene leiden an einem ungewöhnlich häufigen, starken Harndrang, der ganz plötzlich auftritt - so auch Margot R. Deshalb hält die 70-Jährige immer und überall vorsorglich nach der nächsten Toilette Ausschau. Trotzdem reicht es manchmal nicht mehr.
In ungefähr 60 bis 80 Prozent der Fälle lässt sich die Dranginkontinenz gut mit einer Kombinationstherapie behandeln. Dies bedeutet: Medikamente, die den Blasenmuskel entspannen, kombiniert mit einem Blasentraining. Letzteres umfasst auch ein Training des Trinkverhaltens.
Bei manchen Frauen verbessert auch eine Elektrostimulation mit einer Vaginalsonde die Dranginkontinenz. Sie beruhigt den Blasenmuskel. Die Sonde wird vier- bis fünfmal pro Woche 30 Minuten lang eingesetzt. Ist die Patientin bereits in der Menopause, können lokal anwendbare Östrogensalben, -tabletten oder -zäpfchen hilfreich sein. Die trockene Scheide wird dadurch wieder spannkräftiger. Viele Patientinnen sagen, dass sich durch diese Behandlung die Inkontinenz verbessert habe.
Auch Männer leiden mit zunehmendem Alter öfter unter Inkontinenz. Häufige Ursache: eine vergrösserte Prostata. Sie engt die Harnröhre ein und verhindert, dass sich die Blase beim Urinieren vollständig entleert. Der nächste Toilettengang ist bald wieder fällig.
Wer hauptsächlich beim Husten, Niesen, Lachen, bei sportlicher Betätigung und beim Heben schwerer Lasten Urin verliert, leidet an einer so genannten Belastungs- oder Stressinkontinenz. Diese tritt häufig nach Schwangerschaften auf und erfordert eine andere Therapie als die Dranginkontinenz. In etwa 60 Prozent der Fälle verschwindet das Problem durch konsequentes Beckenbodentraining oder verbessert sich zumindest. Nützt dieses zu wenig, erweist sich - nach sorgfältigen Abklärungen - oft die Schlingenoperation als beste Lösung. Indem ein Kunststoffband unter die Harnröhre gelegt wird, verbessert sich der Harnröhrenverschluss.
Vreni H. hat diesen Eingriff keine Sekunde lang bereut. Endlich kann sie wieder unbeschwert mit dem Zug verreisen, ohne dass ihre Unterwäsche bereits am Bahnhof nass ist. Und Margot R. kann es kaum erwarten, schöne Spaziergänge in der Natur zu unternehmen - wo es keine Toiletten gibt. Demnächst hat sie ihren ersten Termin beim Spezialisten.
- Vermeiden Sie grundsätzlich schädliche Druckeinwirkungen auf den Beckenboden.
- Vermeiden Sie es, den Bauch mit engen Hosen einzuschnüren.
- Schonen Sie Ihren Beckenboden durch korrektes Heben und Bücken.
- Halten Sie den Rücken beim Husten oder Niesen gerade.
- Vermeiden Sie zu häufiges Entleeren der Blase, da diese sonst mit der Zeit die Fähigkeit verliert, grössere Urinmengen zu speichern.
- Nehmen Sie sich genügend Zeit auf der Toilette, setzen Sie sich aufrecht hin und pressen Sie nicht.
Tipps und Hausmittel
- Sie müssen nachts öfter aufstehen zum Wasserlassen? Gewöhnen Sie sich an, abends weniger zu trinken. Trinken Sie dafür tagsüber aber etwas mehr. Verzichten Sie zudem abends auf koffeinhaltige und alkoholische Getränke, die harntreibend sind.
- Wenn Sie abends ein entwässerndes Medikament gegen Bluthochdruck einnehmen müssen: Fragen Sie Ihren Arzt, ob es eine Alternative gibt.
- Pflanzliche Mittel wie Roggenpollen, Kürbiskerne oder Sägepalmenfruchtextrakte führen bei manchen Patienten zu einer Linderung. Wissenschaftlich belegt ist die Wirkung nicht, aber es gibt auch keine Nebenwirkungen.
Medikamentöse Behandlung
- Wenn die Prostata noch relativ klein ist, kann ein Alphablocker – eine neuere Version der bekannteren Betablocker – helfen. Alphablocker lassen die glatte Muskulatur erschlaffen, wodurch sich die Harnröhre erweitert und der Urin besser abfliesst. Das verbessert die Situation oft schon innert Wochen und kann zu monatelanger Beschwerdefreiheit führen. Aber: Da Alphablocker auch auf die Blutgefässe wirken, kann der Blutdruck etwas absinken. Wer einen niedrigen Blutdruck hat oder blutdrucksenkende Mittel nimmt, muss erst mit dem Arzt reden.
- Bei grösserer Prostata kommt meist ein Alphareduktasehemmer ins Spiel. Er hemmt ein bestimmtes Enzym, so dass die Prostata nicht weiter wächst und in vielen Fällen sogar bis zu 25 Prozent kleiner wird. Gemäss Studien lässt sich so eine Operation hinauszögern. Allerdings wirken Alphareduktasehemmer relativ langsam und vermindern manchmal die Potenz.
Operation
- Wenn Hausmittel und Medikamente nicht ausreichend nützen, kann man die Prostata operativ verkleinern. Meist genügt ein minimalinvasiver Eingriff, bei dem der Chirurg via Harnröhre das eindringende Prostatagewebe entfernt. Danach leben die meisten Patienten jahrelang beschwerdefrei. Die Potenz bleibt unbehelligt, aber die Samenflüssigkeit fliesst beim Orgasmus in die Harnblase, nicht mehr nach aussen.
- Inselspital Bern: www.insel.ch
- Schweizerische Gesellschaft für Blasenschwäche: www.inkontinex.ch