Warum Dazwischengehen so schwer fällt
Die Zürcher Polizei ruft zu mehr Zivilcourage auf. Doch oft ist es nicht einfach, die Situation richtig einzuschätzen. Was ist Mut und was spiessig?
Veröffentlicht am 30. April 2018 - 15:28 Uhr,
aktualisiert am 30. April 2018 - 15:15 Uhr
Ein Dienstagabend im März. Ich eile, mit Blick auf das Handy, die Rampe zur Bahnhofunterführung in Zürich-Altstetten runter. Da fällt mir eine Gruppe von sechs Jugendlichen auf, die an der Ecke stehen. Sie scheinen rumzualbern, doch plötzlich wird die Diskussion lautstark . «Hey Bro, mach das nicht noch einmal mit mir, du verdammter Pisser», sagt einer. Er baut sich vor dem anderen auf, die Situation wirkt auf mich bedrohlich. Der junge Mann streckt die Brust raus und schubst den anderen brüsk weg.
Ein paar Passanten drehen sich nach ihnen um . Nun klopfen sich die beiden vermeintlichen Kontrahenten kumpelhaft auf die Schulter. Ich gehe an der Gruppe vorbei. Doch als ich die Treppe zum Gleis hochgehe, höre ich, dass die Diskussion wieder lauter wird.
Was tun? Die beiden Bahnpolizisten auf dem Perron informieren und sie bitten, sich um die Situation zu kümmern? Oder doch nicht? Vielleicht ist das ja doch alles nur spielerisches Geplänkel unter Jugendlichen. Schliesslich will ich mich vor den beiden Beamten nicht als humorlose Spiesserin blamieren . «Schamgefühle sind einer der Hauptgründe, in einer brenzligen Situation nicht einzugreifen», sagt Philipp Schläpfer.
Der 42-Jährige ist Projektleiter der aktuellen Zivilcourage-Kampagne der Zürcher Stadtpolizei und Fachspezialist für Kriminalprävention und kennt mögliche Gründe. «Vielleicht hat man früher mal einen Vorfall gemeldet und fühlte sich von den Beamten nicht oder zu wenig ernst genommen.» Davon sollte man sich aber nicht abhalten lassen, ein nächstes Mal wieder hinzuschauen und zu handeln.
«Auch ich muss erst stehen bleiben und gaffen.»
Philipp Schläpfer, Fachspezialist Kriminalprävention, Stadtpolizei Zürich
Doch wie weiss ich, ob jemand tatsächlich Hilfe braucht? «So einfach es klingt: das beste Rezept ist hinschauen», sagt Schläpfer. Auch er als ehemaliger Streifenpolizist und Fahnder in der Kripo müsse heute noch erst stehen bleiben und «gaffen», wie er sagt. «Gerade wenn Junge Streit haben untereinander, machen sie gerne einen auf «Jacky-lässig», wenn sie sich beobachtet fühlen – und erst wenn der wohl störende Zuschauer weg ist, fliegen die Fäuste.»
Angenommen, ich komme dann tatsächlich zum Schluss, dass die Situation aus dem Ruder läuft. Was tu ich dann? Den Angreifer bitten, mit den Pöbeleien aufzuhören? «Wichtig ist in einem nächsten Schritt, die Situation einzuschätzen», sagt Schläpfer. Manchmal sei es ratsam, andere Passanten zum Helfen zu animieren oder die Polizei zu alarmieren. «Beobachte ich aber, wie jemand eine Colabüchse ins Gebüsch wirft, kann ich diese Situation in der Regel gut alleine meistern und dem Gegenüber mitteilen, dass mich das stört.»
Immer sei aber der Tonfall und das eigene Auftreten entscheidend. «Offene Fragen tragen eher zur Entspannung der Situation bei als jemanden zu massregeln», weiss Schläpfer. Eine Patentlösung gebe es aber nicht.
«Es braucht immer Mut, sich einzumischen – egal in welcher Situation.»
Philipp Schläpfer, ehemaliger Fahnder der Kripo Zürich
Eine sich anbahnende Schlägerei oder achtlos weggeworfener Abfall – sind das nicht zwei verschiedene Paar Schuhe? «Ja, aber es sind beides Schuhe», findet Schläpfer. Beide Male passiere etwas, das gegen die Werte unserer demokratischen Gesellschaft laufe – und es brauche Mut sich einzumischen. «Das bewusste Hinschauen muss man wollen und lernen, das passiert nicht von alleine», ist Schläpfer überzeugt. Das fange im Kleinen an.
Mischt man sich ein, wird aber das Gegenüber kaum erfreut sein, mich vielleicht beschimpfen. Häufig bleibt danach ein ungutes Gefühl zurück und die Frage, bin ich nun mutig oder schlicht intolerant gegenüber anderen Verhaltensweisen? Davor fürchte wohl auch ich mich insgeheim, als ich neulich am Abend auf die Jugendlichen treffe – ich steige in den Zug und hoffe, dass sich die Situation bald beruhigen wird. «Der Böse sein fühlt sich nie gut an, auch als Polizist nicht», weiss Schläpfer aus seiner Erfahrung. «Aber das ist auch ein Teil der Zivilcourage: sich im Anschluss selbst hinterfragen zu können, ob man richtig gehandelt hat.»
Die Stadtpolizei Zürich will die Bevölkerung für mehr Zivilcourage sensibilisieren. Gemeinsam mit den Zürcher Verkehrsbetrieben lancierte sie Mitte April die Plakatkampagne «Andrea kann HEH! Und du?». HEH steht dabei für «Hinschauen! Einschätzen! Handeln!».
«Wenn grundlegende Anstands- und Verhaltensregeln verletzt werden, geht das alle etwas an», schreibt die Stadtpolizei in ihrer Mitteilung. Damit die Bevölkerung das richtige Verhalten trainieren kann, tourt die Stadtpolizei in den nächsten zwei Jahren mit einem sogenannten Live-Experience-Projektor durch die Stadt. An verschiedenen Veranstaltungen kann man in interaktiven elektronischen Schattenspiele testen, wie man sich selbst in brenzligen Situationen verhalten würde und welche Auswirkungen das eigene Handeln hat.
Weitere Informationen zur Kampagne finden sich auf der Webseite www.hehdu.ch.