Die Jury des Prix Courage besteht aus engagierten Vertreterinnen und Vertretern aus Gesellschaft und Politik. Das Publikumsvoting und die Einschätzungen der Jury entscheiden schliesslich über die Gewinnerin oder den Gewinner des Preises.
Eveline Widmer-Schlumpf, ehemalige Bundesrätin und Präsidentin der Prix-Courage-Jury
Eveline Widmer-Schlumpf, was bedeutet für Sie Mut?
Mut ist, wenn man aus tiefer Überzeugung Missständen die Stirn bietet, obwohl es nachteilige Konsequenzen haben kann.
Wann mussten Sie mutig sein in Ihrem Leben?
Einige Male. Ich erinnere mich noch gut an jene mündliche Prüfung im Studium. Da hat mich ein Professor gefragt, ob ich einmal heiraten wolle. Als ich bejahte, meinte er, dann könne ich das Studium gleich abbrechen. Ich widersprach. Da drohte er mir eine schlechte Note an. Ich entgegnete: Entweder ich bekomme eine anständige Note, oder ich verklage Sie. Das hat etwas Mut gebraucht.
Wie ging die Geschichte aus?
Ich habe eine genügende Note bekommen. Aber ich war dennoch völlig perplex.
Perplex?
Ja, perplex, denn sachliche Diskussionen mit diesem Professor habe ich stets geschätzt. Und wenn meine Leistung einmal nicht genügte, war auch klar, dass ich dafür schlecht benotet wurde. Aber dass er Leistung und Note von meinem Geschlecht und von meinen Lebensplänen als Frau abhängig machte, das hat auch meinen Kollegen, der damals zusammen mit mir geprüft worden ist, schockiert. Hätte ich meine Empörung einfach runtergeschluckt, hätte ich mir Ärger erspart. Aber das konnte ich nicht. Ich wollte gleichbehandelt werden.
Sarah Akanji, Mitbegründerin des Frauenteams des FC Winterthur, alt SP-Kantonsrätin in Zürich, studiert Gesellschaftswissenschaften im Master in Basel
Was war Ihre mutigste Tat?
Die Gründung des Frauenteams des FC Winterthur. Winterthur hatte lange kein Spitzenteam für Frauen, aber sehr viele gute Fussballerinnen. Die Ressourcen waren aber allesamt in der Hand von Männern, und viele fanden zahlreiche «Argumente», warum es in der Region keinen Spitzenfussball für Frauen brauche. Wir haben dann trotzdem ein Spitzenteam gegründet. Gerade sind wir erneut in die zweithöchste Liga aufgestiegen.
2019 wurden Sie mit sehr gutem Resultat für die SP in den Zürcher Kantonsrat gewählt. 2022 traten Sie nach nur einer Amtszeit zurück. War das mutig?
Ich habe als Kantonsrätin viele rassistische und sexistische Anfeindungen erhalten. Das wollte ich mir nicht mehr gefallen lassen. Es brauchte Mut, meine politische Karriere zu beenden, ohne zu wissen, wohin mich mein Weg als Nächstes führt. Sicher ist: Ich werde mich weiterhin für die Rechte von Minderheiten einsetzen.
Kann man Mut trainieren?
Ja. Mit jedem Schritt, der Überwindung kostet, fühlt man sich sicherer. Zurück bleibt das Gefühl: Es hat sich gelohnt!
Mut klingt nach Trommelwirbel und Superwoman. Ist Mut immer gleich Heldentum?
Die Frage ist, was wir als Heldentum bezeichnen. Ich studierte Geschichte und finde: Das Bild des mutigen Helden hat auch mit einer Geschichtstradition zu tun, die lange auf solche Heldenfiguren, meistens Männer, fokussierte. Sehr viele Menschen leisten Grossartiges, sie beweisen Mut und Zivilcourage – aber werden nicht gesehen. Mut ist in meinen Augen keine objektiv messbare Leistung. Es hat auch damit zu tun, wem wir wofür Mut attestieren. Mut hat viele Gesichter und ist individuell, vielfältig und manchmal für viele unsichtbar.
Wann handelt jemand mutig?
Mutig handelt jemand, der oder die für moralische Werte einsteht und sich gegen Ungerechtigkeiten wehrt – im Wissen, dass dies heftige Gegenreaktionen hervorrufen kann. Mutig ist jemand, der oder die sich aus der eigenen Komfortzone wagt und die Welt nicht nur für Privilegierte, sondern auch und insbesondere für weniger Privilegierte besser macht.
Warum stellen Sie sich für die Jury des Prix Courage zur Verfügung?
Das schliesst an die Frage an, wer als mutige Person gesehen wird. Als Jurymitglied möchte ich ein Auge haben für Menschen, die bislang vielleicht noch nicht so auf dem Radar der Öffentlichkeit waren. Natürlich fühle ich mich auch geehrt, dass ich angefragt und gesehen wurde als jemand, der auch schon Mut bewiesen hat im Leben.
Natallia Hersche, Gewinnerin des Prix Courage 2022, sass für ihre demokratische Überzeugung als politische Gefangene unschuldig in belarussischen Gefängnissen
Im Februar 2022 kamen Sie nach fast anderthalb Jahren Haft frei – gesundheitlich angeschlagen. Wie geht es Ihnen heute?
Es geht mir gut, ich fühle mich psychisch wieder ziemlich stabil. Auch körperlich, ich halte mich mit Yoga und Krafttraining fit. Aber es hat viel Zeit gebraucht.
Sie sind dieses Jahr in der Jury des Prix Courage. Auf welche Art von Kandidaten freuen Sie sich am meisten?
Ich freue mich auf alle Nominierten, freue mich darauf, sie und ihre Taten kennenzulernen. Für mich wird ausschlaggebend sein, was den mutigen Menschen bewogen hat, so zu handeln, wie er oder sie gehandelt hat.
Von wem hätten Sie sich in letzter Zeit mehr Mut gewünscht?
Ich wünsche mir, dass die EU-Staaten und auch die Schweiz Sanktionen gegen Russland und Belarus aussprechen für ihre Missachtung der Menschenrechte. Und wegen der Tausenden von politischen Gefangenen.
Waren Sie selbst seither wieder einmal mutig?
Nur im ganz Privaten. Ich mache nach 15 Jahren Pause in meinem angestammten Beruf eine Weiterbildung im Rechnungswesen. Und ich frage mich immer wieder, ob es das Richtige ist, ob ich es überhaupt schaffen werde.
Cindy Kronenberg, Gewinnerin des Prix Courage 2021
«Wenn ich über meine Vergewaltigung spreche, fühlt es sich jedes Mal an, als würde ich mich nackt ausziehen», sagt Cindy Kronenberg. Jedes Wort, jede Erinnerung daran schmerzt. «Es ist, als würde ich der ganzen Öffentlichkeit einen Blick in mein Innerstes gewähren.» Trotzdem tut sie es immer und immer wieder. In Gesprächen mit Betroffenen, mit Journalisten und mit Parlamentarierinnen. Sie tut es für die rund 430'000 Frauen in der Schweiz, die laut Amnesty International schon Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen gehabt haben. «Eine riesige Zahl. Aber niemand spricht darüber. Und alle Betroffenen haben das Gefühl, sie seien mit ihrer Geschichte allein.» In ihrem Kampf gegen das Tabu gründete die 29-jährige Luzernerin die Plattform Vergewaltigt.ch. Dort tauscht sie sich mit anderen Betroffenen aus. Vielen Opfern von sexueller Gewalt fehlt es an Unterstützung und an wichtigen Informationen.
Immer wieder wird Cindy Kronenberg mit dem Vorwurf einer Mitschuld konfrontiert. Von Betroffenen, von ihrem Umfeld, von der Polizistin, die ihre Anzeige aufnahm. «Wieso hast du dich nicht stärker gewehrt?» Deshalb setzt sich die Jugendarbeiterin auch für die laufende Revision des Sexualstrafrechts ein. «Egal, ob man getrunken oder geflirtet hat, egal, ob es ein Fremder oder ein Ehemann war, egal, ob man sich gewehrt hat oder in Schockstarre verfallen ist – es ist nie okay, wenn die sexuelle Selbstbestimmung missachtet wird.»
Für ihren Mut und für ihr Engagement wurde Cindy Kronenberg 2021 mit dem Prix Courage ausgezeichnet.
Jakob Kellenberger, Diplomat und früherer Präsident des IKRK
Bei welcher Gelegenheit waren Sie das letzte Mal mutig?
Ich erinnere mich nicht an ein erstes und ein letztes Mal. Nur soviel: Ein IKRK-Präsident begibt sich in alle Gefahrenlagen, wo die Mitarbeitenden tätig sind. Es fehlte somit nicht an Gelegenheiten.
Welches war die mutigste Tat überhaupt in Ihrem Leben, beruflich oder als Privatperson?
Ich wüsste nicht, welche einzelne Tat das gewesen sein könnte. In meiner Zeit als Staatssekretär war Zivilcourage vor allem in Fragen gefordert, welche die Beziehungen der Schweiz zur EU betrafen. Da galt es, seinen Überzeugungen treu zu bleiben.
Und in welcher Situation hat Ihnen der Mut gefehlt bzw. wären Sie gerne mutiger gewesen?
Gefühle der Angst überfallen alle Menschen in bestimmten Lebenslagen. Ich glaube, gelernt zu haben, zur Überwindung des lähmenden Gefühls die ganze Willenskraft aufzubieten.
Welchen bekannten Persönlichkeiten, tot oder lebendig, würden Sie uneingeschränkt das Prädikat «mutig» geben? Und weshalb?
Mit «uneingeschränkt» habe ich grundsätzlich Mühe. Der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus gehört für mich zu diesen Persönlichkeiten, die Sie ansprechen, seines intellektuellen und physischen Mutes wegen.
Sind Mut und Zivilcourage in jedem Fall etwas Selbstloses und Bewundernswertes?
Auch wenn nicht selbstlos, verdienen Mut und Zivilcourage immer Respekt und Anerkennung.
Beim Prix Courage geht es um verschiedene Formen von Mut und Zivilcourage: Der Mut der Lebensretterin, jener des Whistleblowers, jener von einer Person, die sich beharrlich gegen Missstände engagiert. Von welcher Sorte Mut braucht es in unserer Gesellschaft unbedingt mehr?
Mut und Zivilcourage, für die eigenen Überzeugungen gegen erdrückende Mehrheiten einzustehen.
Weshalb engagieren Sie sich in der Jury des Prix Courage?
Die Gemeinschaft braucht Menschen mit Mut und Zivilcourage. Sie verdienen hohe öffentliche Anerkennung.
Nora Scheidegger, Juristin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg i. Brsg. D
Wann waren Sie das letzte Mal mutig?
Es braucht immer wieder etwas Mut, offen über meine Erfahrungen mit Depressionen zu sprechen. Leider gibt es noch viel Unverständnis und Unwissenheit darüber, was Depressionen wirklich bedeuten und wie sie sich auf das Leben von Betroffenen auswirken.
Welches war die mutigste Tat überhaupt in Ihrem Leben?
Wohl als ich mich öffentlich für eine Änderung des Sexualstrafrechts eingesetzt habe – mir war bewusst, dass mir da sehr viel Gegenwind entgegenkommen würde.
Und in welcher Situation wären Sie gern mutiger gewesen?
Als ich jünger war, habe ich manchmal rassistische, sexistische oder homophobe Bemerkungen ignoriert, weil mir der Mut gefehlt hat, unbequem zu sein. Ich glaube aber, dass Mut im Kleinen – eben beispielsweise Haltung zeigen in Gesprächen – genauso wichtig ist wie in grossen, spektakulären Situationen.
Welchen Persönlichkeiten würden Sie uneingeschränkt das Prädikat «mutig» geben?
All den Frauen, die im Iran für ihre Freiheit demonstrieren. Sie tun dies im Wissen, dass sie dafür verhaftet, misshandelt und getötet werden können. Diese Frauen sind unfassbar mutig.
Ist Mut in jedem Fall etwas Selbstloses und Bewundernswertes?
Nicht unbedingt – es kommt schon auch auf die Motivation hinter der mutigen Handlung an. Jede Zivilcourage braucht Mut, aber nicht jeder Mut beinhaltet Zivilcourage.
Beim Prix Courage geht es um verschiedene Formen von Mut: den Mut der Lebensretterin, jenen des Whistleblowers, jenen von Personen, die sich beharrlich gegen Missstände engagieren. Von welcher Sorte Mut braucht es in unserer Gesellschaft unbedingt mehr?
Es braucht mehr Menschen, die sich gegen Missstände engagieren für jene, die das selbst nicht tun können. Nicht alle können es sich «leisten», mutig zu sein.
Weshalb engagieren Sie sich in der Jury des Prix Courage?
Weil der Prix Courage eine tolle Möglichkeit ist, Geschichten über Zivilcourage zu teilen und andere zu inspirieren.
Thomas Ihde-Scholl, Chefarzt psychiatrische Dienste Berner Oberland
Meine mutigste Tat: Als junger Assistenzarzt auf der Kinderonkologie sterbende Kinder und trauernde Eltern zu begleiten, war etwas vom Schwierigsten, das ich je gemacht habe. Innerlich wäre ich da gerne oft einfach weggerannt …
Hier wäre ich gerne mutiger gewesen: Als Kind, wenn andere Kinder ausgegrenzt und geplagt wurden
Der mutigste Mensch der Geschichte: Mahatma Gandhi
Ich bin in der Jury, um etwas sehr Wichtiges zu unterstützen. Zivilcourage ist in der heutigen doch recht selbstbezogenen Zeit wichtiger denn je.