Der Provokateur
Als Chefredaktor des Schweizer Wochenmagazins «Tachles» legt sich Yves Kugelmann wagemutig mit allen möglichen Leuten an. Als Mensch bleibt er unergründlich.
Veröffentlicht am 14. Mai 2013 - 09:14 Uhr
Er ist ein wandelnder Widerspruch. In den Medien gibt er zu jedem möglichen jüdischen Thema eine Stellungnahme ab. Doch «persönlich interessieren mich diese stereotypen jüdischen Themen nicht so», sagt Yves Kugelmann.
Der 42-jährige Basler ist weltweit für die Rechte von Anne Franks Tagebuch verantwortlich, leitet den Zürcher Verlag Jüdische Medien und die Zeitschriften «Tachles», «Aufbau» und «Revue Juive», führt 15 Mitarbeiter und greift oft selbst in die Tasten. Doch wenn er nicht müsste, würde er am Morgen nicht aufstehen: «Ich bin ein grundfauler Mensch.»
Obwohl er innerjüdische Skandale am Laufmeter produziert und sich wegen seiner kritischen Artikel immer wieder vor Gericht verteidigen muss, sagt er: «Ein Porträt über mich? Das ist todlangweilig.» Und erzählt doch dreieinhalb Stunden lang unter den Lüstern des Grand Hotel Les Trois Rois in Basel, jenem legendären Haus, in dem Persönlichkeiten wie Napoleon, Picasso und Königin Elisabeth II. nächtigten – und Theodor Herzl 1897 den Grundstein für einen Judenstaat in Palästina legte. Herzl sei diesbezüglich nicht so wichtig, sagt Kugelmann. Er habe den Ort fürs Interview gewählt, weil er hier viel Zeit verbringe. Den Laptop auf dem Bartischchen, die Ohren gespitzt, sitze er hier, höre den Menschen zu und schreibe.
Journalist hat er nie werden wollen, der Journalismus sei ihm «zugefallen». Als junger Mann hatte Kugelmann hin und wieder für die Zeitung «Jüdische Rundschau» geschrieben und nebenbei «die Redaktionstechnik auf den neusten Stand gebracht». Seine Dienste waren gefragt, doch fest anstellen lassen wollte er sich nicht. «Ich ertrage es nicht, wenn man mich einbinden will. Ich muss dann flüchten. Ich habe einen physischen Drang nach Unabhängigkeit und innerer Freiheit.»
Der Drang nach Unabhängigkeit brachte Kugelmann dazu, sich Schritt für Schritt vom freien Mitarbeiter zum Chefredaktor hochzuarbeiten und schliesslich den Verlag Jüdische Medien zu übernehmen. Seit 2008 redet ihm keiner mehr drein, wenn er sich an die rund 26'000 «Tachles»-Leser wendet.
Und wenn er das tut, lässt er kein Tabu aus: ob die interreligiöse Partnerschaft, die Benachteiligung der Frau in jüdischen Gemeinden, die jüdische Opferrolle. Das Blatt kritisiert Israels Regierung, den Jüdischen Weltkongress, die Führungsriege des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes. Vor allem Orthodoxe empören sich regelmässig über den liberalen Juden Kugelmann.
Zig Mal wurde der «Tachles»-Chef verklagt, von Funktionären jüdischer wie nichtjüdischer Organisationen, vor allem wegen Ehr- und Persönlichkeitsverletzung. Verloren hat er keinen einzigen Prozess.
«Kugelmann hat viele innerjüdische Kritiker», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Israelitischen Gemeindebunds – jener Institution, die Kugelmann besonders oft piesakt. Kreutner zeigt allerdings Verständnis. Es gehöre zum Job eines Chefredaktors, die Arbeit der Dachverbände zu durchleuchten. Er schätze dessen kritischen Journalismus, doch lasse er vielleicht «ab und zu das nötige Fingerspitzengefühl vermissen». Die jüdische Gemeinde in der Schweiz sei klein. «Etwas mehr Selbstkritik und persönliche Distanz zu gewissen Themen schaden da sicher nicht.»
Kugelmann ecke an, meint Erik Petry, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Jüdische Studien der Uni Basel. «Wenn er dem Israelitischen Gemeindebund an den Karren fährt, sorgt das für Unmut.» Kugelmann könne aber auch einstecken. «Wenn ich der ‹Tachles› einen bösen Leserbrief schreibe, nimmt er das nicht persönlich. Er sucht die Diskussion», sagt Petry. Er bringe die Dinge auf den Punkt, sei belesen und stets exzellent vorbereitet. Er bleibe nicht an der Oberfläche.
Das sehen nicht alle so. «Tachles» sei unter Kugelmann trendiger und marktgerechter geworden, sagt Micha Hausmann, Mitglied der streng orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft Basel. Das Blatt habe an Tiefgang verloren. «‹Tachles› ist eine One-Man-Show geworden.» Die Zeitschrift werde von den Orthodoxen nicht mehr so ernst genommen. «Wenn Kugelmann ein Dr. Soundso wäre, wäre das wohl anders.»
Kugelmann hat nicht studiert. «An der Schule interessierte mich nur der Pausengong. Fussballspielen war mein Leben.» Er bewarb sich nach dem Handelsdiplom für eine Banklehre beim Bankverein, der später in der UBS aufging. Alle Schulabgänger wollten diese Lehre. «Aus unerfindlichen Gründen haben sie mich genommen.»
Lange hielt er es dort nicht aus. «Es gab viel zu arbeiten und nichts zu lernen.» Nach drei Monaten kündigte er und sorgte für den ersten Skandal in seinem Leben. Ein Lehrling, der sich freiwillig vom Bankverein abwendete – das hatte es noch nicht gegeben. Kugelmann machte schliesslich die eidgenössische Matur, las Kafka, Camus und Jaspers. Und rutschte in den Journalismus hinein.
«Es ist eine permanente Kampfzone, ein ständiger Spiessrutenlauf», sagt Kugelmann über seine Arbeit. Er kämpfe eigentlich nicht gerne, aber als Journalist müsse er. «Es gibt Dinge, über die muss man einfach schreiben.» Die jüdische Welt sei in der Schweiz klein und konservativ. «Ein Kuchen. Und eine Tratschgemeinde.» Das könne grossen Druck erzeugen. «Wir kennen unsere Leser oft persönlich. Und diese scheuen sich nicht, mir ihre Meinung zu sagen.» Gut schlafen kann er trotzdem. Die Intuition sei sein Gradmesser. «Habe ich bei einer Geschichte ein schlechtes Bauchgefühl, bringe ich sie nicht.»
Er suche die Geschichten nicht, er finde sie. «Als Journalist bin ich wie eine Antenne, die Signale aufnimmt. Oder wie ein Staubsauger, der alles in sich aufsaugt.» Die Geschichten formieren sich dann wie von selbst.
Kugelmann sucht immer wieder das Weite. Am liebsten setzt er sich nach Südfrankreich ab. Dort wohnt er in einer Herberge, in der Chagall, Matisse und Picasso, Sophia Loren und Jean Nouvel Spuren hinterliessen. Im Café sitzen und die mediterrane Atmosphäre geniessen – das entspreche seinem Naturell.
In Zürich, wo die «Tachles»-Redaktion sitzt, hat der Basler zwar seit 20 Jahren eine Wohnung gemietet – «aber eigentlich nur, um sie aufzulösen». Er ist lieber in Basel. Zürich hält er für «eine verbissene Geldstadt. Die humorloseste Stadt, die ich kenne.» Direkt unter seiner Zürcher Wohnung arbeitet der Enkel des Psychoanalytikers C. G. Jung. «Die Psychoanalyse ist ja eine sehr jüdisch geprägte Sache», sagt Kugelmann. Er selbst habe keine gemacht, «obwohl sicher viele sagen würden, ich hätte eine nötig». Er betreibe selbst unaufhörlich Psychoanalyse, das reiche.
Er habe eine glückliche, sehr jüdische Kindheit mit vielen Freiheiten erlebt. «Jüdisch zu sein hatte für mich nie etwas Belastendes. Ich war auch kaum persönlich mit Antisemitismus konfrontiert.» Als kleines Kind hörte er oft das Wort «Auschwitz» – «ich fand es ein schönes Wort. Es klang wie ‹Schwiz›.» Erst später erfuhr er, was es mit Auschwitz wirklich auf sich hatte. Sein Vater, 1941 in Grenoble geboren, gelangte als Baby bei Genf über die Grenze. Dank einem befreundeten Zöllner, der zufällig dort seinen Dienst tat, wurde die Familie nicht zurückgeschickt. Seine Mutter entstammt der jüdischen Textilfamilie Bollag. «Lebemenschen», sagt Kugelmann. Ihr Geschäft litt zwar unter dem Krieg, in der Schweiz war die Familie aber in Sicherheit.
«Wann heiratest du? Es wird langsam Zeit», frage ihn der Rabbiner, wenn er an den Feiertagen in der Synagoge auftauche. Doch auch zur Partnerschaft hat Kugelmann seine dezidierte Meinung. «Die Ehe funktioniert in der Regel nicht. Männer und Frauen passen nicht zusammen.» Besser würde man eine Ehe auf Zeit einführen, bei der alle drei Jahre der Vertrag erneuert werden müsse. «Das wäre ehrlicher. So viele Kinder leiden unter gescheiterten Ehen.»
Kinder hätte er durchaus gerne, aber er ist Single. Mit einer nichtjüdischen Freundin zusammen zu sein ist für ihn zwar kein Thema – aber «wenn ich mich morgen in eine nichtjüdische Frau verliebe, dann wehre ich mich nicht aus einem übergeordneten Prinzip dagegen. Es bräuchte allerdings Kraft, um den Spagat zwischen zwei Denkkulturen zu schaffen.»
Kugelmann kratzt an der konservativen Kruste der jüdischen Gemeinschaft. Unaufhörlich, unermüdlich. «Glauben Sie, dass Ihre Artikel irgendeine Wirkung haben?» – «Nullkommanull.» Seine Antwort kommt blitzschnell – so wie fast all seine Antworten. Präzise sind sie und fast immer das Gegenteil des Erwarteten. Kugelmann irritiert und bleibt ungreifbar. Vielleicht ist das sein Schutzschild in der Kampfzone.