Erben, Prämien und Proteste
Wurde die Schweiz diese Woche gerechter, transparenter, fortschrittlicher? Und wo gings rückwärts? Der Nachrichtenüberblick des Beobachters für die Woche vom 8. Juli 2024.
Liebe Leserinnen und Leser
Willkommen zu «Das war richtig wichtig». Hier ordnen wir immer freitags die wichtigsten Nachrichten der vergangenen Woche für Sie ein.
Diesmal:
- Erbschaftssteuer: Wie die Juso reiche Familienunternehmer aufscheucht
- Zugerinnen und Zuger zahlen bald deutlich weniger Krankenkassenprämien
- Kritik von Amnesty International: Friedlicher Protest ist unter Druck
- Tödliche Verkehrsunfälle auf Schulwegen: Eltern warnten vor Gefahr
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Das Zitat der Woche
Gross war die Freude, als Nemo im Mai am European Song Contest den Sieg für die Schweiz holte. Geschäftstüchtig, wie man in diesem Land nun mal ist, wurden schon bald die Chancen aufgezählt, die sich 2025 als ESC-Gastgeberland bieten. Im Wesentlichen: Tourismus- und Standortmarketing für ein weltweites 180-Millionen-Publikum. Gratis ist das freilich nicht zu haben. Und hier schlägt die Stunde der Spielverderber: Diese Woche formierte sich in Bern und Zürich aus konservativen Kreisen politischer Widerstand gegen Millionenkredite für den Anlass. Für die SVP meldete sich im «Tages-Anzeiger» sogar deren Präsident höchstselbst zu Wort.
«Das Geld sollte besser den schwer betroffenen Unwettergeschädigten gespendet statt für diesen peinlichen Regenbogen-Anlass verschwendet werden.» – Marcel Dettling, Präsident SVP Schweiz
Über die herablassende Umschreibung des ESC lässt sich vielleicht hinwegsehen. Die freihändige Vermischung mit einem Unglück, das nicht das Geringste mit dem Anlass zu tun hat, könnte hingegen als reiner Populismus bezeichnet werden – fiele die Einschätzung von höchster Stelle nicht noch deftiger aus: «Das ist Ideologie», befand Albert Rösti. Damit verabreichte der Bundesrat dem Chef seiner eigenen Partei einen medialen Nasenstüber.
Erbschaftssteuer: Wie die Juso reiche Familienunternehmer aufscheucht
Darum gehts: Die Juso verlangt mit einer Initiative, dass Erbschaften künftig stärker besteuert werden sollen. Nur noch 50 Millionen wären für die Nachkommen steuerfrei. Vom Rest des Erbes ginge die Hälfte an den Staat. Genauer gesagt: Mit dem Geld sollen Klimaschutzmassnahmen finanziert werden.
Warum das wichtig ist: Familienunternehmer fühlen sich durch die Initiative bedroht und drohen mit dem Wegzug aus der Schweiz. Viele Firmenchefs monieren, dass ihr Vermögen zu grossen Teilen im Betrieb stecke, sie müssten im Falle einer Annahme der Initiative die Firma verkaufen, um die Erbschaftssteuer bezahlen zu können. Das sehen auch Vertreterinnen und Vertreter der linken Mutterpartei, der SP, so. Die Solothurner Ständerätin Franziska Roth sagte dem «Blick», die Initiative sei wenig durchdacht und wäre für ihren Kanton «verheerend». Auch die SP-Spitze reagierte und lud Interessierte ein, an einem Gegenvorschlag zur Initiative zu arbeiten, sagte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer zum «Tages-Anzeiger».
Das sagt der Beobachter: Die Wissenschaft findet, Erbschafts- oder Schenkungssteuern seien das beste Mittel, um die Schere zwischen Arm und Reich zu reduzieren. Doch bisher waren Erbschaftssteuern Sache der Kantone – und sie haben sich mit immer besseren Bedingungen einen regelrechten Wettbewerb um reiche Erben geliefert. Eine nationale Lösung könnte dem ein Ende setzen. Über die Juso-Initiative stimmen wir frühestens 2025 ab. Dann wird sich zeigen, wie die Bevölkerung auf das Anliegen reagieren wird. Bisher war sie immer skeptisch:
⇒ Jetzt lesen: Verhasst, aber gerecht
Über «Das war richtig wichtig»
Was hat die Schweiz diese Woche gerechter, transparenter, fortschrittlicher gemacht? Und wo gings eher rückwärts? Wo weiterlesen, wenn Sie es genauer wissen möchten? Wir liefern Ihnen immer freitagmittags drei bis vier wirklich wichtige Nachrichten – kompakt, verständlich und mit Haltung aufgeschrieben. Auch als E-Mail abonnierbar.
Zugerinnen und Zuger zahlen bald deutlich weniger Krankenkassenprämien
Darum gehts: Die Zuger Bevölkerung wird in den Jahren 2026/2027 im Mittel rund 700 Franken pro Jahr weniger Krankenkassenprämien zahlen als bisher. Dies, weil sich die Staatsfinanzen des Kantons in den letzten Jahren sehr vorteilhaft entwickelt haben und der Kanton einen Teil der Überschüsse wieder der Bevölkerung zukommen lassen will.
Warum das wichtig ist: «Ich bringe das Geld nicht zum Tempel raus», sagte der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler (SVP) 2022 in einem Gespräch mit der NZZ. Er meinte damit die Überschüsse – 2023 waren es über 461 Millionen Franken –, die aufgrund von zu viel eingenommenen Steuern resultierten. Nun hat der Zuger Regierungsrat einen Weg gefunden, wie er einen Teil des Geldes der Bevölkerung zurückgeben kann: Der Kanton zahlt bei Spitalbehandlungen nicht die Mindestbeteiligung von 55 Prozent, sondern während zweier Jahre 99 Prozent. Dies müssen Krankenversicherer bei der Prämienberechnung berücksichtigen – und so sinkt die mittlere Prämie um etwa 18 Prozent.
Das sagt der Beobachter: Die Schweizer Bevölkerung ächzt unter ständig steigenden Gesundheitskosten. Immer wieder versenkt die Politik Möglichkeiten, um den Kostenschub abzubremsen – etwa eine Praxisänderung bei der Behandlung eines Augenleidens. Sparpotenzial: 150 Millionen Franken pro Jahr. Jüngst hat der Beobachter in einem Artikel aufgezeigt, wie unsozial die Schweiz die Finanzierung löst. Freilich hat nicht jeder Kanton die finanziellen Mittel, um der Bevölkerung so grosse Geschenke aus Steuereinnahmen zu machen. Doch es ist immerhin mal eine kreative Lösung gegen ein derzeit grosses gesellschaftliches Problem.
Übrigens: Wohin unsere Steuern fliessen, hat mein Kollege Raphael Brunner anhand einer Musterfamilie in diesem Artikel gezeigt:
⇒ Jetzt lesen: Wohin fliessen eigentlich unsere Steuern?
Kritik von Amnesty International: Friedlicher Protest ist unter Druck
Darum gehts: Amnesty International warnt in einem neuen Bericht vor «systematischen Angriffen und Einschränkungen» gegen das Recht auf Protest. In den 21 untersuchten Ländern (inklusive der Schweiz) zeigte sich laut Amnesty «ein beunruhigender Trend von repressiven Gesetzen, unnötiger oder übermässiger Gewaltanwendung, willkürlichen Festnahmen und ungerechtfertigten oder diskriminierenden Einschränkungen».
Warum das wichtig ist: Amnesty kritisiert die Schweiz, weil für Demonstrationen weit im Voraus eine Bewilligung eingeholt werden muss. Unbewilligte Kundgebungen würden oft als «rechtswidrig» eingestuft, aufgelöst und Demonstrierende angezeigt. Das sei mit dem Völkerrecht nicht vereinbar, denn die Versammlungsfreiheit sei nicht an eine Bewilligung geknüpft. Zudem kritisiert Amnesty International, dass verschiedene Kantone den Demo-Organisatoren die Kosten für Polizeieinsätze, Reinigung oder medizinische Dienste verrechnen – das könne abschreckend wirken.
Das sagt der Beobachter: Das Recht auf friedlichen Protest ist ein zentraler Teil der Demokratie und muss deshalb geschützt werden. Der Beobachter hat mehrmals darüber berichtet, dass die Schweizer Behörden vermehrt Mühe haben damit: Im Rahmen des Nahostkonflikts wurden Demonstrationen in verschiedenen Städten komplett verboten. Experten sehen das sehr kritisch – der Beobachter auch. Auch beim Einkesseln von Demonstrierenden durch die Polizei müssen die Behörden über die Bücher nach einer Rüge des Menschenrechtsgerichtshofs. Generell nehmen Proteste in der Schweiz zu, die Fronten verhärten sich. Warum ist das so? Der Beobachter hat nachgefragt:
⇒ Jetzt lesen: Widerstand und die Staatsgewalt
Tödliche Verkehrsunfälle auf Schulwegen: Eltern warnten vor Gefahr
Darum gehts: Bei zwei Verkehrsunfällen innerhalb der letzten drei Wochen sind gleich zwei Kinder verstorben: Am Freitag, 28. Juni, wurde in Basel ein Elfjähriger von einem Lastwagen überrollt und getötet. Der Knabe befand sich um kurz nach zwölf Uhr auf dem Schulweg. Diesen Dienstag starb in Uetikon am See ZH eine Fünfjährige auf dem Kindergartenweg. Ein Mann kollidierte beim Rechtsabbiegen mit dem Mädchen. Trotz sofortiger Reanimation starb es noch am Unfallort.
Warum das wichtig ist: Immer wieder warnen Eltern vor gefährlichen Schulwegen. Im Nachgang an die beiden Unfälle zeigte sich: Auch hier hatten Eltern von den jeweiligen Gemeinden Massnahmen gefordert. In Uetikon am See etwa, dass die Tempolimite von 50 auf 30 Kilometer pro Stunde gesenkt wird. In Basel warnten Eltern vor der gefährlichen Kreuzung, weil die Ampel für Fussgänger und rechts abbiegende Fahrzeuge gleichzeitig auf Grün steht. Lediglich ein oranges Warnlicht signalisiert den Vortritt der Fussgänger. Anwohner forderten seit Jahren eine Umgestaltung der Kreuzung und die Einführung von Tempo 30. Das Amt winkte hingegen ab.
Das sagt der Beobachter: Eine gross angelegte Umfrage des Beobachters zeigte vor zwei Jahren: Nicht nur die Anwohner und Eltern in Uetikon am See und Basel werden von den Behörden nicht erhört, wenn sie vor gefährlichen Schulwegen warnen. Denn die subjektive Wahrnehmung von Gefahren lässt sich nicht in Zahlen und Formeln darstellen. Doch genau das forderte Verkehrsexperte Thomas Hug 2023 im Nachgang zu einem tödlichen Unfall in Hunzenschwil AG in einem Interview mit dem Beobachter. Das Problem ist nur: Verkehrsanalysen werden nach wie vor aus der Optik der motorisierten Verkehrsteilnehmer erstellt – statt aus der Perspektive der Schwächsten: der Kinder, Fussgängerinnen und Velofahrer.
⇒ Jetzt lesen: «Zur Sicherheit: Macht keinen Zebrastreifen!»
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Geschrieben haben diesen Überblick diesmal Chantal Hebeisen, Daniel Benz und Andri Gigerl.
Bis nächste Woche. Wir bleiben für Sie dran.