Wie lange dauert Trauer?
Frage: Vor zwei Jahren wurde meine Mutter durch einen Unfall plötzlich aus dem Leben gerissen. Ich dachte, ich hätte das gut verkraftet, aber merke nun doch, dass ich irgendwie auf der ganzen Linie den Verleider habe. Wie lange dauert es, bis man einen solchen Verlust überwunden hat? Kurt S.
Veröffentlicht am 15. März 2005 - 14:56 Uhr
Es kommt darauf an, wie man mit Traumata umgeht, wie man Schicksalsschläge, aber auch Verletzungen und Kränkungen verarbeitet. Verdrängen ist naheliegend. Schmerz, Wut und Enttäuschung werden ins Unbewusste verbannt, damit sie einen nicht weiter quälen. Dieser Mechanismus kann kurzfristig sinnvoll sein und einem das Weiterfunktionieren ermöglichen. Langfristig ist er keine Lösung, denn das Unbewusste kennt keine Zeit. So kann der ganze Gefühlskomplex nach Jahren wieder hervorbrechen – oder er kann chronische psychosomatische Störungen erzeugen.
Das Verdrängen verbraucht ausserdem ständig Energie, die der Lebensfreude und der Vitalität entzogen wird. Darum haben Sie den Verleider. Es gibt nur einen Weg zur Heilung: Man muss durch die Gefühle hindurch. Leider besteht in unserer Kultur die Erwartung, man könne immer glücklich sein. «Aufgestellt sein» ist Pflicht. Der Komiker Steve Martin sagt in einem seiner Filme dazu treffend: «Ich habe mich derart angestrengt, glücklich zu sein, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie unglücklich ich war.»
Zum Menschen gehört eben ein ganzes Gefühlsspektrum. Unsere Seele ist dafür ausgerüstet, neben Freude und Lust auch Trauer, Wut, Hass, Liebe, Verzweiflung und Angst zu erleben. Die Tatsache, dass Menschen zum Beispiel Filme anschauen, die auch negative Gefühle auslösen, beweist, dass unsere Seele Abwechslung braucht. Wir identifizieren uns mit den Filmhelden und füllen dabei unsere emotionalen Lücken mit Thrillern, Horror- und Katastrophenfilmen, Dramen und Tragödien. Wenn die Seele für andauerndes, ungetrübtes Glück konstruiert wäre, gäbe es am Fernsehen nur Komödien und Liebesgeschichten.
Der Stossseufzer «Wenn ich bloss nicht so sensibel wäre, käme ich viel leichter durchs Leben» beruht übrigens auf einem Irrtum. Es gibt Menschen, die nichts fühlen können. Es handelt sich dabei aber um eine schwere, quälende seelische Störung. Um dem Zustand zu entkommen, fügen sich Betroffene oft selber Schmerzen zu.
Am besten stellen wir uns also darauf ein, dass ein gutes Leben alle möglichen Emotionen mit sich bringt. Es ist wie mit dem Wetter: Neben strahlend blauem Himmel ist es auch mal bewölkt oder regnerisch. Die Atmosphäre bleibt aber immer dieselbe und kommt von selbst wieder ins Gleichgewicht. Wenns genug geregnet hat, so hört es wieder auf. So ist es auch mit den Gefühlen. Mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt, mal wütend, mal ängstlich: Alles geht vorbei, aber wir bleiben immer dieselben.