Leben mit Krebs
Die Diagnose ist längst nicht für alle das Todesurteil, sondern der Beginn eines Lebensabschnitts unter neuen Vorzeichen. Krebs bleibt bedrohlich, doch dank Fortschritten der Medizin überlebt heute mehr als die Hälfte der Erkrankten.
Lange drückte sich Alexandra Rosetti davor, das Unsägliche auszusprechen: «Wenn du es sagst, dann hast du es.» Heute wundert sich die 37-Jährige aus Zürich selber etwas über ihren Versuch, verzweifelt beiseitezuschieben, was objektiv betrachtet unumstösslich war. Doch im Frühjahr 2009, als bei ihr nach quälend langen Abklärungen ein aggressiver Tumor in der Brust festgestellt wurde, erschien ihr die Diagnose als blanker Horror. «Ich habe Krebs» – diese Worte klangen für Rosetti wie ihr eigenes Todesurteil.
Krebs ist ein Tabu, obwohl er allgegenwärtig ist. In der Schweiz erkranken daran jedes Jahr mehr als 35'000 Menschen. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung erhalten irgendwann im Leben einen Krebsbefund, und in der Liste der häufigsten Todesursachen rangiert er nach den Herz-Kreislauf-Krankheiten auf Platz zwei. Kein Zweifel: Krebs gehört mit zum Bedrohlichsten, was einem Menschen zustossen kann.
Längst nicht für alle, aber für viele Betroffene ist die niederschmetternde Diagnose jedoch nicht mehr die Ankündigung des baldigen Todes, sondern markiert den Beginn eines anderen, eines neuen Lebens – den stetig besseren Behandlungserfolgen sei Dank. Bei 55 Prozent aller Erkrankungen kommt es heute zu einer Heilung, wobei die Prognosen je nach Tumorart sehr unterschiedlich sind (siehe nachfolgende Grafik). Noch vor 20 Jahren lag dieser Durchschnittswert deutlich tiefer. Als «geheilt» gelten Patienten, bei denen fünf Jahre nach dem Befall der Tumor nicht wieder aufgetreten ist. Für diese wachsende Schar der Davongekommenen hat die Fachwelt auch bereits einen Namen: «Survivors», «Überlebende». Doch auch für sie bedeutet der Krebs eine Zäsur. Der Schritt ins Leben nach dem Überleben ist kräftezehrend und hinterlässt in jeder Biographie Narben.
Alexandra Rosetti gehört nicht zu jenen, die das Schicksal aus heiterem Himmel traf. Sie war wachsam, weil sich bei ihr immer wieder Zysten in der Brust bildeten. 2006 wurden ihr aufgrund eines Verdachts zwei Gewebeproben entnommen, doch erwiesen sich die Befürchtungen als unbegründet. Danach ging sie regelmässig zur Kontrolle und machte einmal jährlich eine Mammographie. Auf den letzten Frühling hin plante die Frau, die als Mediensprecherin von Unicef Schweiz eher zu viel als zu wenig arbeitet, eine längere Auszeit. Entgegen ihren Gewohnheiten schmiedete sie dafür keine konkreten Pläne – «als hätte ich geahnt, dass da etwas kommt».
Es kommt so heftig, dass Alexandra Rosetti heute ihr Leben in ein Davor und ein Danach aufteilt. Die Trennlinie bilden jene schrecklichen Tage im vergangenen März. Zuerst diese Delle an der linken Brust, die sich fast über Nacht gebildet hat. Darauf erste Abklärungen bei der Ärztin, deren offensichtliche Bestürzung das dumpfe Gefühl weckt, es könnte etwas Ernstes sein. Gewissheit bringt eine schmerzhafte Stanzbiopsie, bei der eine Nadel durch den verdächtigen Knoten getrieben wird. Befund: bösartig.
Gegen den Schock und die Angst in dieser Phase vermögen auch die Gespräche mit Freundinnen nicht anzukommen – die Hilflosigkeit ist beiderseitig. «Am Schluss ist man doch allein mit all dem», erinnert sich Rosetti. Abends allein in ihrer Wohnung, fliessen die Tränen.
Die nüchternen Informationen der Ärzte bringen etwas Sicherheit zurück. Der Termin der Operation wird festgelegt, deren Ablauf erklärt, Fragen werden beantwortet. Alexandra Rosetti fasst langsam Vertrauen, macht sich bewusst, «dass ich stark genug bin, um mit diesem Krebs fertigzuwerden». So kann sie sich noch in den letzten Tagen vor der OP ihrer Leidenschaft hingeben: Tango – als gelte es, negative Emotionen wegzutanzen. Die Operation verläuft gut. Bei Alexandra Rosetti muss nur ein Teil der linken Brust entfernt werden. Die Prognosen sind günstig, dereinst zu den «Survivors» zu gehören.
Später wird klar, dass wohl eine mehrwöchige Bestrahlung nötig ist, aber keine Chemotherapie. Davor hatte sie sich gefürchtet. «Ohne Haare bist du ausgestellt, jeder sieht, dass du Krebs hast.» So aber konnte Rosetti selber entscheiden, wann und wem sie von ihrer Krankheit erzählte. Und doch nimmt ihr der Krebs, auch wenn er fürs Erste besiegt ist, einen Teil der Selbstbestimmung. Um die Gefahr eines Rückfalls zu senken, muss die 37-Jährige eine Hormontherapie machen, die ihren Körper gleichsam in die Wechseljahre versetzt. Die Therapie ist auf fünf Jahre ausgelegt, was den lange gehegten Kinderwunsch unerfüllbar erscheinen lässt. Eine perfide Form der Bevormundung, die ihr, wie sie sagt, «härter vorkommt als die Erkrankung selber».
Doch auch das Leben danach ist eine Achterbahn – ab dem Sommer geht es steil bergauf. Rosetti lernt bei Freunden in Wien einen Mann kennen, verliebt sich in ihn. Die Schmetterlinge im Bauch drängen das Böse im Körper in den Hintergrund. Erstmals nach langer Zeit gibt es wieder Tage, an denen sie trotz allen Medikamenten keinen Moment an den Krebs denken muss.
Wie Rosetti nehmen schätzungsweise 10 bis 20 Prozent der Krebspatienten die traumatische Diagnose zum Anlass, ihr Leben zum Positiven zu verändern, weiss Alfred Künzler, der sich als Psychoonkologe mit den seelischen Folgen des Krebses befasst. Laut Befragungen wird Krebs unter allen Krankheiten subjektiv als höchste Bedrohung bei gleichzeitig schlechtesten Schutzmöglichkeiten wahrgenommen (siehe nachfolgende Grafik). Entsprechend sei der Krebs für viele Betroffene «eine ausserordentliche psychische Herausforderung». Neben der Bewältigung der Akutphase gilt dies in zunehmendem Mass auch für die Zeit danach. So sorgen sich die «Survivors» oft noch nach Jahren, der Krebs könnte erneut ausbrechen. «Unabhängig von der medizinischen Prognose fühlt sich ein grosser Teil der Krebsbetroffenen so stark bedroht, dass die Angst das krankheitsfreie Leben dominiert», umschreibt Künzler das Dasein unter dem Damoklesschwert.
Das 2005 lancierte Nationale Krebsprogramm, zu dem im Frühling ein erster Bericht erscheint, will die Psychoonkologie als Bestandteil einer umfassenden Krebsversorgung verankern. Bislang fristet die junge Disziplin in der Schweiz ein Schattendasein; noch kennen Patienten und selbst Ärzte das Angebot zu wenig. In der Psychoonkologie am Kantonsspital Aarau, das eine Vorreiterrolle innehat, nimmt heute laut Alfred Künzler jeder zweite Patient oder seine Partnerin früher oder später eine psychoonkologische Leistung in Anspruch. Dabei geht es um die Begleitung von Depressions- und Angstzuständen oder um Hilfestellungen bei der «Fatigue», der anhaltenden Müdigkeit, die viele Patienten mitunter jahrelang plagt. An erster Stelle geht es aber darum, den Diagnoseschock aufzufangen – und dieser trifft jeden.
Bei der Frage nach dem persönlichen Empfinden wurde Krebs als höchste Bedrohung bei schlechtesten Schutzmöglichkeiten wahrgenommen. Jahr 2004; Anzahl Befragte: 2076.
Quelle: Prof. Reinhold Schwarz
«Ich bin grosszügiger geworden, auch mir selber gegenüber. Heute kann ich auch mal fünf gerade sein lassen.» Peter Schneeberger, 52, Kantonspolizist
Auch für Peter Schneeberger war vor bald vier Jahren der Befund Dünndarmkrebs wie ein Schlag ins Gesicht. Dabei ist sich der 52-Jährige aus dem bernischen Schüpfen durch seine «beeindruckende Krankheitskarriere», wie er augenzwinkernd sagt, einiges gewohnt. Aber Krebs, das war noch einmal eins drauf: «Theoretisch wusste ich zwar, dass ich zu einer Risikogruppe gehöre, aber zu Ende denken wollte ich das nie. Als ich hörte, dass ich Krebs habe, dachte ich nur noch: ‹Jetzt ist es vorbei!›» Dass der Arzt gleichzeitig von guten Heilungschancen sprach, registrierte er nicht.
Auch die aussichtsreichste Prognose ist immer nur ein Durchschnittswert, der mitunter für den Einzelfall keine Bedeutung hat. Bei Peter Schneeberger war es zum Glück nicht so: Alles ist gutgegangen. Nach fast einem halben Jahr mit neun Zyklen Chemotherapie konnten die Ärzte Entwarnung geben. Eine Metastase in der Leber, die 2007 entdeckt und operiert wurde, erforderte keine neue Chemo.
Seither schluckt der Vater zweier fast erwachsener Söhne seine tägliche Ration Medikamente, und vor den regelmässigen Nachkontrollen überkommt ihn jeweils ein banges Kribbeln, aber sonst geht es ihm gut. Gelassener sei er geworden, grosszügiger, auch sich selber gegenüber. «Heute kann ich auch mal fünf gerade sein lassen», sagt der Kantonspolizist.
Seine «Krankheitskarriere» fordert im Alltagsleben aber auch ihren Tribut: Peter Schneeberger hat einen künstlichen Darmausgang, ein sogenanntes Stoma. Die am Bauch angebrachte Vorrichtung ist mit einem Plastiksack ausgestattet. Dort laufen die Ausscheidungen – «das Zügs» – ein, die sein Körper nicht mehr kontrollieren kann. Eine «saubere Sache» sei das, sagt er, weil er weiss, dass man das Gegenteil vermutet. Schneeberger kann gewisse Sachen nicht mehr essen, er darf nicht schwer tragen, ansonsten gebe es kaum Einschränkungen. Sogar schwimmen könnte er – «aber dann müsste ich Badehosen bis auf Brusthöhe haben». Der Mann hat Humor.
Versehrt zu sein ist trotzdem ein Zustand, auf den man sich einstellen muss. Peter Schneeberger kennt ihn seit 1996, als ihm erstmals ein Stoma zur Entlastung seines Darms angelegt wurde, der durch die chronische Krankheit Morbus Crohn seit jungen Jahren geschwächt ist. Um anderen Patienten die Angst vor dem Leben mit dem Stoma zu nehmen, engagiert er sich in der Selbsthilfeorganisation Ilco Schweiz (www.ilco.ch), wo er im Vorstand sitzt und die Berner Regionalgruppe leitet. Beim regelmässigen Erfahrungsaustausch merkt er, dass es längst nicht allen so leichtfällt wie ihm, offen über ihre Erkrankung zu reden, oft aus Scham. «Es braucht einen unbefangeneren Umgang damit», wünscht er sich deshalb, und zwar von Betroffenen wie von ihrem Umfeld.
Und von Gesundheitspolitikern, wäre anzufügen. Denn diese tun sich mit dem Thema schwer, so eine Erkenntnis des Nationalen Krebsprogramms (NKP) 2005–2010. Dieses strebt eine nationale Strategie bei der Krebsbekämpfung an. Die diversen, teils privaten, teils kantonalen Aktivitäten bezüglich Gesundheitsförderung, Prävention, Früherkennung, Therapie und palliative Nachsorge sollen verbessert und koordiniert werden, damit die vorhandenen Ressourcen effizienter genutzt werden können. Bislang mit mässigem Erfolg: «Es wurde nicht die Wirkung erzielt, wie wir sie erwartet und erhofft haben», so die Bilanz von Bruno Meili, NKP-Verantwortlicher der Schweizer Krebsliga.
Letztlich soll mit dem Programm die Zahl der Krebskranken und -toten gesenkt werden. Dass der hiesige Gesundheitsföderalismus höher gewichtet wird als dieses Ziel, ist für Meili «eine bittere Schlussfolgerung». Für die zweite Phase des NKP, die im März angestossen wird, sucht die Krebsliga deshalb Verbündete, um mehr Wirkung zu erzielen. Ein möglicher Partner ist die Herzstiftung, die sich im Bereich der Herz-Kreislauf-Krankheiten engagiert – daran sterben in der Schweiz noch mehr Leute als an Krebs. Zusammen sind die beiden Ursachen für 80 Prozent der Todesfälle verantwortlich.
Ein wichtiger Stein im Mosaik ist das neue Präventionsgesetz, das voraussichtlich diesen Sommer in die eidgenössischen Räte kommt. Der vom Bundesrat im vergangenen September vorgelegte Entwurf sieht im Wesentlichen eine bessere Steuerung der Massnahmen in den Bereichen Vorsorge und Früherkennung vor. Bezogen auf den Krebs, sieht Bruno Meili von der Krebsliga hier einiges Potential. Denn verglichen mit anderen industrialisierten Ländern, erkranken in der Schweiz überproportional viele Menschen an Krebs, und nur dank den guten Behandlungsmethoden gibt es nicht mehr Tote. Meilis Analyse: «Die zahlreichen kantonalen und kommunalen Bemühungen, dem Krebs vorzubeugen, sind wenig koordiniert und folgen zu selten bewährten Programmen, die ihre Wirkung in anderen Ländern bestätigt haben. Da fehlt eine gemeinsame Strategie und ein erfolgskontrolliertes Vorgehen.»
Dass bei Sigi Kramer die Prävention zu kurz kam, hat indes mehr mit seiner eigenen Sorglosigkeit zu tun, wie er selber einräumt. Kramer arbeitet seit gut zehn Jahren als Spitalseelsorger im luzernischen Regionalspital Wolhusen. Der weissbärtige, schmale 62-Jährige strahlt eine Ruhe und Zuversicht aus, wie man sie sich von einem katholischen Geistlichen wünscht.
Obwohl er täglich mit Ärzten zu tun hat, lässt sich der gelernte Maschinenzeichner nie medizinisch durchchecken, geschweige denn einen sogenannten PSA-Bluttest durchführen, der für Männer ab 40 Jahren empfohlen wird und Hinweise auf eine Prostataerkrankung – eine gutartige Vergrösserung, eine Entzündung oder Krebs – geben kann.
Im Herbst 2007 muss er plötzlich nachts dauernd auf die Toilette. Kramer geht zum Hausarzt, vermutet eine Blasenentzündung. Wenig später steht jedoch fest: Es ist Prostatakrebs. Die Operation findet im Dezember 2007 im Kantonsspital Luzern statt, kurz nach seinem 60. Geburtstag.
In seinem kleinen Büro im Personalhaus des Spitals erzählt Kramer von seinem Tumor. Die Prostata ist ein kastaniengrosses Organ, das beim Mann unter der Harnblase liegt und die Harnröhre umgibt. Es produziert einen grossen Teil der Samenflüssigkeit und ist für den Geschlechtsverkehr zentral. Prostatakrebs ist mit knapp 30 Prozent die häufigste Krebserkrankung bei Männern. Kramer ist ein kommunikativer Mensch, kennt fast das ganze Spitalpersonal beim Namen und ist mit den meisten per du. Der Diakon ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.
Er sei von der Diagnose nicht überrollt worden, sagt er, «ich habe schliesslich gespürt, dass etwas nicht stimmt». Aber die Umkehr der Perspektive, sein Rollentausch vom Seelsorger hin zum Erkrankten, habe ihn schon sehr gefordert. «Ich stand schon x-mal an Spitalbetten bei Patienten mit der Diagnose Krebs – nun war ich plötzlich selber einer von ihnen.»
Vor der Operation hat er mit vielen «seiner» Ärzte gesprochen und wusste Bescheid über die Risiken: Inkontinenz und Impotenz. Wenn die ganze Prostata entfernt werden muss, ist kein Samenerguss mehr möglich, und wenn die Potenznerven verletzt werden, «geht gar nichts mehr». Sigi Kramer sagt: «Das sind schon massive Pflöcke, die vor mir standen.»
Bei ihm ist die rechte Seite der Prostata verkrebst, der rechte Potenznerv muss vorsichtshalber entfernt werden. Die Operation dauert ganze fünf Stunden. Nach einer knappen Woche wird er nach Hause entlassen und ist danach weitgehend inkontinent und impotent. Auch heute noch trägt er Einlagen, weil er seinen Urin nicht immer kontrollieren kann. «Das ist zwar nicht sehr angenehm, aber man kann gut damit leben.»
Vom Arzt erhält Kramer ein Medikament, das die Durchblutung anregt und das Hirn stimuliert. Nach einem halben Jahr ist seine Potenz wieder da, nach einem Jahr kann er das Mittel absetzen. «Zurzeit läuft alles normal.»
Seit seiner Erkrankung war Sigi Kramer schon zweimal auf dem Jakobsweg unterwegs. Allein. «Ich brauchte das, um mit mir ins Reine zu kommen, mich wieder zu finden.» Diesen Herbst lässt er sich mit 63 Jahren frühpensionieren, um mehr Zeit zu haben. Für sich und seine Frau, die Familie, für Wanderungen und weitere Jakobswegbegehungen. Und für seine Modelleisenbahn. «Ich vertraue darauf, dass Gott mich führt. Und ich plane weiter und hoffe, dass mir noch eine Reihe von Jahren geschenkt sind.»
Schon kurz nach dem Befund hat Kramer seinen Freunden und Bekannten, den Ärzten, dem Pflegepersonal, den Patienten und dem Putzdienst im Spital seine Erkrankung mitgeteilt. «Ich musste das loswerden, konnte doch nicht einfach sang- und klanglos ein paar Wochen verschwinden», sagt er. Zu seinem 60. Geburtstag organisierte er einen Tag der offenen Tür, es kam viel Besuch. Als er wenig später die Krebsdiagnose erhielt, schrieb er all seinen Besuchern einen Dankesbrief. Unten auf dem Brief stand «Alles hat eine Kehrseite». «Auf der Rückseite hatte ich geschrieben, dass ich Prostatakrebs habe und operiert werden müsse.» Diese offene Kommunikation habe viel Überwindung gebraucht, aber er habe ausschliesslich positive Reaktionen erhalten.
«Ich plane weiter und hoffe, dass mir noch eine Reihe von Jahren geschenkt sind.» Sigi Kramer, 62, Spitalseelsorger
Die Art und Weise, wie Krebspatienten ihr persönliches Umfeld informieren und für die Bewältigung ihrer Krankheit einbeziehen, ist höchst individuell. Genauso soll es auch sein, sagt der Psychoonkologe Alfred Künzler: «Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Jeder soll es so machen, wie es ihm dabei wohl ist.» Authentisch bleiben, Empfindungen und momentane Stimmungen nicht unterdrücken, das sei die Devise. Problematisch sei deshalb, wenn jemandem ein positives Denken aufgedrängt wird. «Bei einem eher skeptisch eingestellten Menschen erzeugt das Stress, genau das Gegenteil des Beabsichtigten.»
Die Zürcherin Manuela Kleiner hat sich aus eigenem Antrieb für die bedingungslose Offensive entschieden: Sie sagt ihrem Krebs, einem Hodgkin-Lymphom, den Kampf an. Brüllend laut schreit und schreibt sie gegen ihre drei Tumore im Lymphsystem an, den grössten, der direkt hinter dem Brustbein sitzt, nennt sie Adolf, ein Name als Verkörperung des Bösen. «DER ADOLF....der leidet....nach der dritten chemo hat der sich jetzt mit schmerzen bemerkbar gemacht....er ist am ringen um sein leben..... das wichtigste bleibt aber – egal wie viel zeit vergeht: CANCER IS A BITCH!!!!» Schon kurz nach ihrer Diagnose schreibt die 25-Jährige Krebsmails an ihre Freunde und Bekannten, in denen sie sehr direkt, teilweise fast brutal offen ihre Gefühle, Schmerzen und Gedanken zur Krankheit und zu ihrem Befinden mitteilt. An Weihnachten bringt sie Ärzten und Pflegepersonal des Unispitals, wo sie behandelt wird, Kekse in Krebsform mit. Ihr Arzt reagiert witzig, sagt: «Jetzt kann ich meiner Familie sagen, ich hätte Krebs bekommen von einer Patientin.»
Bei Kleiner, einer 1,85 Meter grossen Frau, die sich Lebenskünstlerin nennt, bricht die Krankheit im letzten Herbst an Proben für eine Theateraufführung aus. Sie vermutet eine Stimmbandentzündung, da sie kaum noch reden kann, die Lymphknoten geschwollen sind und der Hals wehtut. Im Spital wird ihr schnell klar, dass «der Knoten» mehr ist als eine Entzündung. Nach einer Biopsie steht fest: Es ist das Hodgkin-Lymphom, ein sehr lokaler Krebs, der meist junge Menschen befällt und zu 90 Prozent heilbar ist, weil er gut auf Chemotherapie anspricht. Doch von diesen ermutigenden Aspekten bleibt nichts hängen. «Ich habe nur das Wort Krebs gehört, wurde aggressiv, rauchte eine Zigarette nach der anderen und erzählte es sofort allen. In meinem Kopf lief ein Film ab: Krebs gleich Tod, Spital, Siechtum, Sterben.» Nach der Hauptprobe ihres Theaterstücks ein stiller Moment: Als der Vorhang fällt, muss sie weinen. Es sind echte Tränen.
Langsam lernt sie, sich mit der Diagnose abzufinden. Ihre Familie, zu der sie auch ihren Partner und die engsten Freunde zählt, sind eine grosse Stütze. Drei Wochen später beginnt die Chemotherapie. Manuela Kleiner sitzt am Wohnzimmertisch ihrer Dreizimmerwohnung mitten in Zürich und erzählt. «Am meisten Angst hatte ich vor dem Verlust meiner langen Haare.» Neben der Tür hängt ihr Rossschwanz, 70 Zentimeter schönstes blondes Haar. Heute ist sie kahl, hat sieben Chemotherapien hinter sich und ist körperlich mitgenommen. «auf jeden fall waren die beiden wochen nach der chemo geprägt von NERV WUT FLUCH MÜDIGKEIT SCHMERZEN SCHLAFLOSIGKEIT SCHWÄCHE öhm...also. Dieser arschlochkrebs. Und vor allem auch diese medikamente dagegen.-------da geht’s häufig einfach mal so den berg runter – mit kaputten knien..... krebs nervt gewaltig!» Zitate aus ihrer jüngsten Krebsmail.
Doch Manuela Kleiner, die kämpfende Löwin, lässt sich nicht unterkriegen. Schon gar nicht von gutgemeinten Ratschlägen oder Sprüchen. «viele leute denen ich so im alltag begegne.......die meinen alle.... das hätte ja schon irgendwie seinen sinn mit dem krebs.......so von wegen fürs leben lernenundso...... ich will nix mehr davon hören. Ich kann gern über einen sinn sprechen......aber dann NUR wenn ich den sinn erfunden hab – bitteschön. Ich hab genug scheisse in meinem leben erfahren um zu wissen WAS WICHTIG IST FÜR MICH UND WAS NICHT....es ist nicht der erste kampf in meinem leben.......tut richtig gut........dieses BRÜLLEN......»
In den nächsten Tagen wird Kleiner erfahren, wie es mit der Therapie weitergeht, ob weitere Chemos folgen oder doch noch Bestrahlung ansteht. Sie schaut jedenfalls nach vorn: «Im Sommer will ich wieder als Schauspielerin auf der Bühne stehen – mit dem Stück, das ich letzten Herbst frühzeitig abbrechen musste.» The show must go on. Das richtige Leben auch.
«Ich habe nur das Wort Krebs gehört, wurde aggressiv und rauchte eine Zigarette nach der anderen.» Manuela Kleiner, 25, Schauspielerin
Nach der Diagnose: Erdrückende Informationslawine
Drei Wörter veränderten am 13. Oktober 2004 mein ganzes Leben: «akute myeloische Leukämie». Mein Lebenspartner Markus wird mehrere Monate in einem Isolationszimmer verbringen und drei Hochdosis-Chemotherapien über sich ergehen lassen müssen, später noch eine Knochenmarktransplantation. Eine Informationsflut bricht über mich herein. Die Ärzte erklären die Therapie und ihre Risiken. Freunde recherchieren im Internet. Sich widersprechende Prozentzahlen über Heilungschancen zirkulieren, Artikel über alternative Therapiemethoden und wundersame Spontanheilungen.
Durch meinen Beruf bin ich gewohnt, grosse Informationsmengen zu verarbeiten, in Gesprächen auf Zwischentöne zu achten und Fragen zu stellen. Doch jetzt ist alles ganz anders. Was ich erfahre, kann ich nicht einordnen. Wissen verwässert mit Halbwissen und Wunschdenken. Ich recherchiere, verdränge, immer auf der Suche nach einem Strohhalm, an dem ich mich festhalten könnte. Mir fällt auf, dass die Ärzte das Wort «Heilung» meiden. Deshalb traue ich mich nicht, jene Fragen zu stellen, die mich am meisten quälen. Schliesslich suche ich Kontakt zu anderen Betroffenen. Diese Gespräche geben mir eine Vorstellung dessen, was auf mich zukommt, sie geben mir eine Perspektive und sie helfen mir, Vertrauen zu den Ärzten aufzubauen. Denn Vertrauen ist wichtig in diesem Moment.
In der Akutphase: Darüber reden wird schwierig
Während der Chemotherapie besuche ich Markus drei Monate lang fast jeden Tag im Isolationszimmer. Das Pflegepersonal ist meine grösste Stütze. Man nimmt sich Zeit für mich und hilft mir, mich in dieser ungastlichen Umgebung zurechtzufinden. Die ständige Angst und die Hilflosigkeit sind kaum auszuhalten. Bei jedem Handyklingeln rast mein Puls. Ich bringe meinem Partner alltägliche Dinge von «draussen»: Bücher, Tee und chinesisches Essen. Zu Weihnachten dekoriere ich das sterile Zimmer mit Elektrokerzen. Er hasst diesen Kitsch, schaltet ihn mir zuliebe aber dennoch ein. Statt ins Fitnessstudio gehe ich in den Wald. Ich ertrage in dieser Zeit weder gutgelaunte Sportskanonen noch Musik.
Gespräche mit Freunden werden schwierig. Fast alle haben Schuldgefühle, wenn sie mir von ihren Alltagssorgen erzählen, oder sie versuchen krampfhaft, mir Hoffung einzureden – was wiederum Schuldgefühle bei mir hervorruft. «Krankheit als Chance?» Ich sehe das nicht so: Einer tödlichen Krankheit kann ich nichts Positives abgewinnen. Eine Bekannte will beten. Das macht mir Angst. Andere fragen, wie es mir geht. Sie lassen mich erzählen, wenn mir danach ist, ohne etwas von mir zu erwarten und ohne mir Ratschläge aufzudrängen. Im Büro stellt eine Kollegin eine Rose auf mein Pult. Auf der Karte steht, dass sie an mich denkt. In diesen Momenten fühle ich mich getragen. Eine Freundin erzählt, wie sie ihrem Vater die Hand gehalten hat, als er starb. «Einen geliebten Menschen nicht allein zu lassen ist das Grösste, was du für ihn tun kannst.» Mir laufen Tränen übers Gesicht. So etwas will ich nicht hören. Trotzdem bin ich froh, dass sie es mir erzählt hat.
Ein Jahr danach: Rückeroberung des Alltags
Vier Monate nach der Knochenmarktransplantation und fast genau ein Jahr nach der Diagnose nimmt Markus seine Arbeit wieder auf. Er will zurück in sein früheres Leben. Ich bin erschöpft, würde am liebsten verreisen, um alles zu vergessen. Dennoch versuche auch ich, ins frühere Leben zurückzufinden, Kontakte wieder aufzubauen. Doch überall wird mir bewusst, wie rasend schnell das Leben an mir vorbeigezogen ist. Vieles hat sich verändert. Auch ich habe mich verändert, bin nicht mehr so unbeschwert wie früher. Und es gibt Dinge, über die ich nicht mehr lachen kann. An früher vertrauten Orten fühle ich mich fast fremd. Trotzdem höre ich wieder Musik und gehe wieder zu den gutgelaunten Sportskanonen. Aus einigen Begegnungen ergeben sich neue Freundschaften.
Trotz Normalität: Das Damoklesschwert bleibt
Ein Jahr nach der Transplantation geht es meinem Partner wieder besser. Wir verbringen viel Zeit in der Natur, wandern, reisen. Wir reden über die Krankheit, die Zeit im Spital und schmieden wieder erste Pläne – nachdem wir in den letzten anderthalb Jahren statt einer Zukunft nur noch eine Gegenwart hatten. Nächstes Jahr wollen wir ans Meer reisen. Und trotzdem: Die ständige Angst vor Komplikationen beherrscht weiterhin unseren Alltag. Jede Erkältung, jeder diffuse Schmerz setzt eine Untersuchungsmaschinerie in Gang, die einen tagelang in Atem hält.
Der Rückschlag: Die Hilflosigkeit ist wieder da
reagiert der Körper mit heftigen Abstossungsreaktionen auf das fremde Knochenmark. Das Immunsystem von Markus wird unterdrückt, er leidet unter Schmerzen und den Nebenwirkungen der vielen Medikamente, ist geschwächt und deprimiert. Die Therapie zeigt nicht die gewünschten Erfolge. «Sie haben statt der Pest jetzt die Cholera», resümiert der Arzt. Mein Lebenspartner schätzt diese klaren Worte. Der Alltag wird kompliziert und anstrengend. Reisen müssen abgesagt werden. Die Angst ist wieder da, wenn das Handy klingelt. Nach drei vergleichsweise guten Jahren ist die Lebensqualität stark eingeschränkt.
Ich hadere mit dem Schicksal, habe Schuldgefühle, wenn ich Markus aus lauter Hilflosigkeit mit Ratschlägen eindecke. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir Freiräume herausnehme, mit den Sportskanonen ein Bier trinke, allein zu einer Bergtour aufbreche, mit Freundinnen einen ausgelassenen Abend verbringe und versuche, dem Leben trotz allem glückliche Momente abzutrotzen, während er zu Hause leidet. Abwarten, aushalten und hoffen – mehr kann man nicht tun.
Gabriela Baumgartner, 46, arbeitet als Juristin und Redaktorin für das Beobachter-Beratungszentrum. Nach der Erkrankung ihres Lebenspartners hat sie sich im Rahmen eines Nachdiplomstudiums an der Uni Bern mit den rechtlichen Aspekten der ärztlichen Aufklärungspflicht befasst.
Weitere Infos
Ratgeber der Krebsliga Schweiz für Freunde von Krebspatienten: «Krebs trifft auch die Nächsten» (PDF, 488 kb)
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