Wo den Alten tierisch wohl ist
Vierbeiner machen alte Menschen glücklich: Im Appenzellischen leben die Bewohner eines Heims eng mit Haus- und Nutztieren zusammen. Und wer rüstig ist und Freude daran hat, kann sogar auf dem hauseigenen Bauernhof mit anpacken.
Veröffentlicht am 7. Mai 2010 - 07:19 Uhr
Hulda hat Mausi entdeckt. «Alles Gute», sagt Hulda, sehr bestimmt. Mausi, die es sich auf dem Kratzbaum im grossen Gemeinschaftsraum bequem gemacht hat, gähnt. Hulda sagt, nicht minder bestimmt: «Tagesschau!» Mausi gähnt und streckt sich. Wohlig. Die sonst so wuselige Frau dreht sich um, trottet zu einem der Stühle und setzt sich beruhigt hin. Katze sei Dank.
Hulda Bänziger ist 83, demenzkrank und lebt seit einigen Wochen im «Torfnest», einem Alters- und Pflegeheim in Oberegg AI. Das «Torfnest» ist nicht nur Alters- und Pflegeheim, sondern ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Es gehört, obwohl ein Dienstleistungsbetrieb in öffentlicher Hand, zur aussterbenden Gattung der bäuerlichen Grossfamilie. Das Ehepaar Fürer – sie leitet das Heim, er bewirtschaftet den Hof, schon seit 32 Jahren – wohnt selbst im Heim. Ihre Kinder wuchsen unter den Alten auf. «Unsere Kinder hatten viele Grosspapi und Grossmami und mehr Erwachsene, die mit ihnen spielten, als andere Kinder», sagt Doris Fürer.
Wer will und noch kann, darf mithelfen, sei es Wäsche zusammenlegen, Gemüse rüsten oder Katze füttern. Der Gemeinschaftsraum ist, je nach Bedarf, Uhrzeit und Wochentag, mal Speisesaal, Fernseh-, Wohn-, Turn-, Bügel-, Spiel- und Andachtszimmer.
Mit viel gesundem Menschenverstand und noch mehr persönlichem Engagement professionell führen ist die Devise im «Torfnest». Bis auf fünf Ferienwochen im Jahr – die muss Doris Fürer als Angestellte des Kantons nehmen – ist sie für die Bewohner da, selbst an ihren freien Tagen. Einem geistig behinderten Pensionär hat sie kurzerhand die Duplo-Steine ihrer längst erwachsenen Kinder zum Spielen gegeben. Seither baut er zufrieden Türme, oft stundenlang. Die Tür zu Fürers Wohnung ist immer offen, zeitweise auch nachts, etwa wenn ein Neuzugang wie Hulda nächtens im Haus umherwandert oder es jemandem nicht gut geht.
Nicht nur deshalb ist das «Torfnest» eine Ausnahme unter den Schweizer Alters- und Pflegeheimen: Tiere waren in Heimen lange Zeit selten anzutreffen. Hygienebedenken wurden als Grund angeführt und der grosse Aufwand fürs ohnehin gestresste Personal. Aber auch Rücksichtnahme auf Allergiker und auf Bewohner, die Tiere nicht mögen oder gar fürchten.
Mittlerweile ist der therapeutische Nutzen von Tieren in Heimen unbestritten. Es gibt eine Unmenge Literatur zum Thema, von Tieren als «sozialen Katalysatoren» ist da die Rede, von «psychosozialem Wohlbefinden» und «sozio-emotionaler Bezogenheit». Oder wie Lars und Eileen Hegedusch in ihrem Buch «Tiergestützte Therapie bei Demenz» schreiben: «Tiere bieten die Möglichkeit, über die Ansprache aller menschlichen Sinne Kontaktprozesse zu initiieren, die sich wiederum positiv auf den gesundheitlichen, kognitiven, sozialen und emotionalen Status dementiell erkrankter Menschen auswirken.»
Grosse Worte für einen einfachen Sachverhalt: Tiere tun alten Menschen gut. Die akademische Auseinandersetzung mit dem Thema ist dennoch wichtig. «In unserer technologisierten Welt war und ist der wissenschaftliche Diskurs nötig für die gesellschaftliche Akzeptanz von Heimtieren», sagt Barbara Schärer von der Fachstelle «Leben mit Tieren im Heim». Sie berät Heime bei Anschaffung, Haltung und Pflege von Tieren und gibt Kurse fürs Heimpersonal. Doris und Max Fürer haben sie nicht nötig: Sie tun es einfach.
«Ich hatte es schon immer gern, wenn Katzen ins Bett kamen.»
Rösli Roth, Pensionärin im Altersheim Torfnest
Im multifunktionalen Aufenthaltsraum sitzen vier Frauen in der Fernsehecke. Bis vor kurzem haben sie der Stimme des Oberegger Pfarrers gelauscht, dessen Messe wie jeden Dienstag aus der Kirche übertragen wird. Zwar ohne Bild, dafür live übers Internet. Für die besinnliche Stimmung vor Ort sorgen ein Kerzlein und zwei kleine Heiligenstatuetten auf dem Couchtisch. Die werden später abgeräumt.
Jetzt ist der Pfarrer vergessen: Wer noch sieht, schaut auf den Hof. Dort schlägt Herr Pfau, getrieben von heftigsten Frühlingsgefühlen, sein Rad. Seine Herzensdame scheinen die Bemühungen des gefiederten Kavaliers aber kaltzulassen. «Ein Wunder der Natur ist das», sagt Amanda Schmid, 103. Zustimmendes, andächtiges Gemurmel. Statt ferngesehen wird in die Ferne gesehen, durch die grossen Fensterscheiben. Zu beobachten gibt es mehr als nur das turtelnde Pfauenpaar: Hund Mira, die beiden Katzen Mausi und Schägg, letztere auch einfach «d Chatz» genannt, einige Kaninchen, ein Entenpaar, 24 Hühner und 70 Stück Braunvieh teilen sich das «Torfnest» mit 16 Pensionären und den Fürers. Geplant ist auch die Anschaffung von Zwergziegen. Ein Wunsch, den sich Doris Fürer zu erfüllen wissen wird. Mit den Pfauen hat es ja auch geklappt.
Das «Torfnest» mit seinen 37 Hektaren Weideland und 12 Hektaren Wald liegt idyllisch auf einer voralpinen Hügelkuppe auf rund 800 Meter über Meer. In der Ferne ist die Turmspitze der Oberegger Kirche zu sehen. Kein Verkehrslärm stört die Ruhe, nur das Kreischen des Pfaus und ab und zu ein Muhen ertönen. Und manchmal, beim Training am Schlitten, bellen die Huskys eines Nachbarn das ganze Tal zusammen. Hinter dem Stall zieht ein Dutzend Roter Milane seine Kreise.
Das Heim hat eine bewegte Geschichte. Am 27. Mai 1861 beschloss die Verwaltung der Rhode Hirschberg, die Liegenschaft zur Unterbringung armer Leute zu erwerben. Später wurde sie zur Waisenanstalt unter der Leitung von Ordensschwestern. 1948 übernahmen Anna und Jakob Fürer, die Eltern von Max Fürer, die Leitung. Ab 1967 wurde das «Torfnest» dann wieder zum Alten- und Invalidenheim. Zweimal brannte es. Es wurde um- und wieder aufgebaut. Und immer lebten auch Tiere auf dem Hof.
«Nicht mehr ‹wärche›? Das wäre ein Seich, dann würde mir ja langweilig!»
Johann Dopple, ehemaliger Knecht und Pensionär im «Torfnest»
Später riss der Bund auseinander, was einst organisch zusammengehörte. Als Mitte der neunziger Jahre die Direktzahlungen an Institutionen mit angegliedertem Landwirtschaftsbetrieb eingestellt wurden, waren viele Gemeinden gezwungen, ihre Bauernhöfe entweder zu verkaufen oder zu verpachten. So kommt es, dass Max Fürer den Hof zur Pacht bewirtschaftet und somit dem Landwirtschaftsdepartement des Kantons Appenzell Innerrhoden unterstellt ist, während seine Frau als Heimleiterin Angestellte des Gesundheitsdepartements ist. Und auch der geplante Umbau im Aussenbereich wird finanziell von beiden Departementen getragen.
Lange kämpfte Doris Fürer dafür, dass der bereits vorhandene «Streichelzoo» schöner und grösser und zudem das Terrain aufgeschüttet wurde. «Damit unsere Bewohner mit ihren Rollatoren besser zu den Tieren kommen», erklärt sie.
«Wir gehen immer wieder gern zu den Schafen im Stall.»
Erika Zgraggen, Pensionärin im Heim Watt, mit ihrem Mann Erich
Pensionäre, die wollen, dürfen sozusagen departementsübergreifend im Stall mithelfen. Der eine oder andere würde wohl eher morgen als übermorgen seines Lebens überdrüssig, könnte er nicht mehr zu den Tieren. Johann Dopple ist so einer. Ein kleiner Mann mit riesigen Gummistiefeln, Stallkleidung und einer massiven Hornbrille. Jeden Morgen hilft er beim Füttern der Kälber, trägt Zaine um Zaine voller Heu über den Hof, die leere Zaine zurück. Seit er sieben Jahre alt ist, arbeitet Dopple in Stall und Hof. Damals kam der heute 79-Jährige auf eine Alp, weg vom schwierigen Zuhause. Zeitlebens hat er sich sein Leben als Knecht verdient, hat von einem ehemaligen Arbeitgeber sogar ein Diplom für treue Dienste erhalten. Nun ist er, Zeuge einer vergangenen Zeit, schon über zehn Jahre im «Torfnest» und kann vom Chrampfen noch immer nicht lassen. Nicht mehr «wärche»? Das kann er sich nicht vorstellen: «Das wäre ein Seich. Dann wäre mir ja langweilig.» Eine Lieblingskuh hat er nicht. «Ich hab sie alle gern», sagt er strahlend in breitem Innerrhoder Dialekt und nickt bestätigend.
Einzige Bedingung, die an Arbeit im Stall geknüpft ist: Zum Essen müssen alle in sauberer Kleidung erscheinen, keine Gummistiefel, keine Übergwändli. Und saubere Hände sind auch erwünscht. «Sonst hab ich plötzlich den halben Stall im Haus», sagt Doris Fürer. So sitzt Johann Dopple im hellblauen Edelweisshemd am Tisch und lässt sich die Hausmannskost schmecken. Vier verschiedene Salate, eine Gemüsesuppe, Trutenbraten mit Lauchgratin und Ofenkartoffeln. Statt Einheitsbrei das Essen, das die Leute ein Leben lang gewohnt waren. «Nur das Fleisch», sagt Doris Fürer, «muss etwas weicher sein. Es beissen nicht mehr alle so gut.»
Als endlich auch die Heimeltern zum Essen kommen, läutet das Telefon. Ein Bekannter will zwei junge Kätzchen loswerden. Doris Fürer sagt ohne Zögern zu. In etwa drei Monaten werden Mausi und d Chatz Verstärkung bekommen. Wenn alles gut geht. Den Pensionären will Fürer noch nichts verraten. «Bei Bauernhofkätzchen weiss man nie, ob sie überleben.»
Rösli Roth, auch «Chatzemueter» gerufen, wird der Neuzugang besonders freuen. Sie liegt auf ihrem Bett und streichelt d Chatz, die sich gemütlich auf ihr niedergelassen hat und ihr die Hand leckt. Nachmittagsroutine. «Mein Vater hatte so ein Gerät zum sauber Töten», erzählt die 88-Jährige. Deshalb hätten ihm die Leute aus der Umgebung überzählige Welpen, Kätzchen, Chüngel gebracht. Manchmal behielten sie dann eins. «Ich mochte es schon immer, wenn die Katzen zu mir ins Bett kamen.» Mit der Heirat war es aber vorbei mit den Haustieren – ihr Mann verbot sie ihr. Jetzt hat sie zwar schon lange keinen Mann mehr, dafür endlich wieder eine Katze, auch wenn sie sie mit den andern Heimbewohnern teilen muss. «Wenn d Chatz mal eine Nacht bei jemand anderem schläft, ist sie richtig eifersüchtig», verrät Anni Fürer, mit der sich Rösli ein Zimmer teilt. Die zwei alten Frauen kichern wie kleine Mädchen.
Eifersucht kennt man auch vier Kilometer und eine Halbkantonsgrenze weiter im Altersheim Watt in Reute AR. Hier ist die Katzenmutter Erika Zgraggen, das Objekt der Begierde heisst Tigerli. Auch ihr Mann Erich mag Tigerli gern. Sehr gern. So gern, dass es der gelernten Damenschneiderin manchmal fast zu viel wird. Vor allem morgens. Dann nämlich schafft der Vierbeiner, was ihr partout nicht gelingen will: ihren Mann aus dem Bett zu locken. Dabei sei er derjenige gewesen, der früher nie eine Katze wollte: «Jetzt ist er richtiggehend vernarrt in sie. Man könnte fast eifersüchtig werden.»
Geleitet wird das «Watt» von Helen Nessensohn. Seit ihr Mann Bruno aus gesundheitlichen Gründen die Pacht des früher angegliederten Bauernhofs aufgeben musste, gehören nur noch drei Tiere zur Belegschaft: zwei Wellensittiche und eben Katze Tigerli. Es sollen aber mehr werden: «Die Tiere tun den Leuten einfach gut», sagt Helen Nessensohn. Immerhin erlaubt die neue Pächterin des Hofs, dass die Pensionäre im Stall ein und aus gehen. Dieses Angebot wird rege genutzt.
Sind die Tiere auf der Weide, schauen ihnen die Bewohner, so auch die Zgraggens, immer wieder gerne einfach zu. Oft würden sie sich als sehr gute Beobachter erweisen, erzählt Nessensohn: «Meist merken sie als Erste, wenn es einer Kuh nicht gut geht oder ein Schaf abgehauen ist.» So haben alle etwas vom Zusammenleben: die Pensionäre Unterhaltung, geistige Anregung und Gedächtnistraining, die Tiere im Notfall schnellere Hilfe und der Bauer freiwillige «Hirten».
Dass insbesondere Katzen sehr sensibel auf die Befindlichkeiten von Menschen eingehen, ist keine Mär, weiss Nessensohn. «Wir hatten einen Pensionär, der längere Zeit vor seinem Tod gepflegt werden musste. Tigerli kam ihn jeden Tag besuchen», erzählt sie. «Und nachdem der Mann gestorben war, sass sie einen Monat lang jeden Tag vor der Tür seines Zimmers.» Die Katze habe mit der Mahnwache erst aufgehört, als ein neuer Bewohner einzog.
D Chatz vom «Torfnest» hält es anders. Zwei Tage bevor es mit jemandem zu Ende geht, besucht sie den Bewohner nicht mehr. Und dann wissen alle: Jetzt ist es so weit.
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