Geraubt und gerettet
Vor 100 Jahren wurde in der Schweiz der erste Steinbock neu angesiedelt. Die Rettung des einst fast ausgestorbenen Tiers liest sich wie ein Krimi.
Veröffentlicht am 1. April 2011 - 15:01 Uhr
Am 22. Juni 1906 findet beim Restaurant Veuve Darbélay in Martigny VS ein streng geheimes Treffen statt. Robert Mader vom Wildpark Peter und Paul, St. Gallen, ist mit Joseph Berard verabredet, einem gefürchteten Wilderer und Schmuggler aus dem Aostatal. Der Italiener führt im Gepäck zwei Steinbock-Kitze mit, die er aus dem Besitz des italienischen Königs gestohlen und nachts über die grüne Grenze geschmuggelt hat. 800 Franken verlangt Berard pro Tier – heute würde das rund 30'000 Franken entsprechen. Mader zahlt den stolzen Preis und nimmt die Kitze nach St. Gallen mit. Pikant: Die Behörden in Bern wissen um die illegalen Machenschaften. Doch sie unterstützen den Deal und lassen den Schmuggler gewähren.
Filme über historische Steinwild-Aussetzungen sind als DVD erhältlich: www.dokumentarfilme.ch
Das heimliche Treffen im Wallis markiert den Beginn der erfolgreichen Wiederansiedlung des Steinbocks in der Schweiz. Wilderer und Schmuggler, aber auch Jäger und Könige sind die Protagonisten in dieser spannenden Geschichte. Erstmals vollständig aufgezeichnet haben sie fünf Steinbock-Liebhaber, darunter der Veterinärmediziner und Jäger Marco Giacometti und der Sankt-Galler Naturfilmer Jost Schneider. Während zweier Jahre durchstöberten sie Dutzende Archive im In- und Ausland, stiessen auf uralte Tagebücher, Briefwechsel und vergilbte Fotos und setzten die Einzelteile dann zu einem Ganzen zusammen. Am 8. Mai jährt sich die Aussetzung des ersten Steinbocks zum hundertsten Mal.
«Anfang des 19. Jahrhunderts war der Steinbock das wohl seltenste Säugetier der Welt», erzählt Jost Schneider. Jahrhundertelang hatten Jäger dem Steinwild im ganzen Alpenraum nachgestellt, bis nur noch eine einzige Population von 60 bis 100 Tieren übrig war. Ihr letztes Rückzugsgebiet war die Gegend um den Gran Paradiso im Aostatal südlich des Wallis.
Die Rettung kam in letzter Minute. Man erzählt, dass sich um 1820 zwei englische Bergsteiger bei einem Einheimischen erkundigten, was das für seltsame gehörnte Ziegen seien, die sie am Berg gesehen hatten. Der Talbewohner informierte die königliche Akademie der Naturwissenschaften. Kurz darauf erliess der König von Sardinien das erste Schutzgesetz und verbot die Jagd auf den Steinbock.
Für sich selber machte König Vittorio Emanuele II. allerdings eine Ausnahme, denn er war ein begeisterter Hochgebirgsjäger. Um seinem prestigeträchtigen Hobby zu frönen – der exklusiven Jagd auf das seltenste Tier der Welt –, errichtete er am Gran Paradiso königliche Jagdbezirke, stellte 50 Wildhüter ein und liess Saumpfade und Jagdhütten bauen. Trotzdem begann sich die Population der Steinböcke langsam zu erholen – was auch die Wilderer freute, die ab 1850 auf den Plan traten.
Männer wie Joseph Berard, der sich später in Martigny zum geheimen Treffen einfinden sollte, kümmerten sich keinen Deut um das königliche Schutzgesetz und schossen die schönsten Böcke. Das Wildbret brachten sie in dunkler Nacht nach Hause, die Trophäen verkauften sie an reiche Sammler. Zudem begannen sie, mit eingefangenen, wenige Tage alten Steinbock-Kitzen zu handeln – ein besonders lukratives Geschäft. Käufer waren reiche Liebhaber, aber auch Zoos wie der Zolli Basel.
«Nach den Jägern, die in den Jahrhunderten zuvor die Steinböcke beinahe ausgerottet hatten, brachten die Wilderer den Steinbock erneut in Bedrängnis», erzählt Schneider. «Zugleich ermöglichten sie mit ihren illegalen Machenschaften paradoxerweise aber auch die Wiederansiedlung des Steinwilds in der Schweiz.» Denn um an schnelles Geld zu kommen, belieferten die Wilderer auch jene Idealisten mit Kitzen, die den Steinbock hierzulande wieder heimisch machen wollten.
Federführend bei der Ansiedlung in der Schweiz war zu Beginn die Sektion Rhaetia des Schweizer Alpenclubs (SAC). «Die Bergsteiger experimentierten schon 1879 mit der Aussetzung von 15 Mischlingen aus Steinböcken und Hausziegen», erzählt Jost Schneider. Doch die meisten Mischlinge, die man bei Arosa freigelassen hatte, überstanden den Winter nicht.
Die entscheidende Idee hatte die Kommission des Wildparks Peter und Paul in St. Gallen: Man wollte reinrassige Tiere kaufen, sie möglichst ohne menschliche Kontakte züchten und dann aussetzen. «Das Problem war aber, dass Steinböcke legal nicht aufzutreiben waren», so Schneider. Also begann man um 1905, mit den Wilderern aus dem Aostatal zu verhandeln.
Das Treffen in Martigny vom Juni 1906 war der Beginn einer langen Zusammenarbeit zwischen den Wilderern und dem Sankt-Galler Wildpark. 59 Tiere schmuggelten die Wilderer in die Schweiz, wie aus Dokumenten im Kantonsarchiv St. Gallen hervorgeht. Um an die Jungtiere zu kommen, stellten die Wilderer den trächtigen Steingeissen wochenlang nach. Spätestens zwei Tage nach der Geburt fingen sie die Kitze ein und versteckten sie oberhalb der Dörfer in Höhlen. «Die Wilderer mussten sehr raffiniert vorgehen», erzählt Schneider. «Wenn sie tagsüber mit Ziegen auf die Alp gingen, brachten sie heimlich eine Geiss zum Steinbock-Kitz im Versteck.» Die Ziege säugte das Junge, bis der Wilderer es in die Schweiz schmuggeln konnte. Im Wildpark wurden die Tiere dann aufgezogen und auf die Freilassung vorbereitet.
Das Eidgenössische Departement des Innern unterstützte den Kauf der illegalen Tiere auch finanziell und gab den Zöllnern sogar den Auftrag, die Schmuggler gewähren zu lassen. Der Grund findet sich im ersten Jagdgesetz von 1875: Dort hatte das Parlament die Wiederansiedlung des Steinbocks als Ziel festgeschrieben. Daher sah sich der Bund verpflichtet, das Projekt des Wildparks zu unterstützen.
Am 8. Mai 1911 kam endlich der grosse Tag der ersten Auswilderung. Begleitet von viel Publikum, trugen fünf Männer Holzkisten mit Steinböcken ins Weisstannental bei Sargans. Die fünf Tiere kamen in ein Auswilderungsgehege auf einer Alp. Doch schon am zweiten Tag sprangen drei von ihnen über den Zaun. Darauf öffnete der Wildhüter auch den anderen Tieren das Tor. Später entliess man am selben Ort 45 weitere Steinböcke in die Freiheit.
Neben dem St. Galler Wildpark kaufte und züchtete ab 1915 auch der Alpenwildpark Harder in Interlaken Steinböcke. Insgesamt 140 Tiere setzte man bis 1938 an neun Stellen aus. Später wurden auch viele in Freiheit geborene Tiere in neue Lebensräume umgesiedelt. Das Wiederansiedlungsprojekt wurde zum Grosserfolg: Heute zählt man in der Schweiz wieder 15'000 Steinböcke. Dass sie alle von wenigen Kitzen abstammen, die einst aus Italien über die grüne Grenze geschmuggelt wurden, weiss kaum jemand.
Der ganze Film ist als DVD für 40 Franken erhältlich: www.dokumentarfilme.ch
Buchtipp
Marco Giacometti (Hrsg.): «Von Königen und Wilderern»; Salm-Verlag, 2006, 224 Seiten, 45 Franken.