Gefahr im Flusspferd-Anzug
Der amerikanische Tierfilmer Brady Barr überlistet wilde Tiere, um ihnen ganz nahe zu kommen. Dabei scheut er weder Strapazen noch bedrohliche Situationen.
Veröffentlicht am 29. Oktober 2012 - 16:24 Uhr
Der Neue beeindruckt die Herde zunächst wenig. Ein Flusspferd wie Dutzende hier am See: die ledrige Haut über und über mit Schlamm bedeckt, vom Schwanz bis zum Maul rund drei Meter lang. Der leicht geneigte Kopf signalisiert den Artgenossen Passivität. Argwohn erregt der Neuzugang erst, als er sich in Bewegung setzt. Könnten Flusspferde nur ein wenig besser sehen, würden sie unter dem Rumpf des Tieres braune Trekkingschuhe erkennen.
Was sich der Herde nähert, ist kein Flusspferd, sondern einer der berühmtesten Tierexperten der Welt: Brady Barr testet im Südluangwa-Nationalpark in Sambia (Südostafrika) seinen selbstentworfenen Flusspferdanzug. Damit will der US-Forscher den Tieren so nahe kommen wie niemand zuvor. Doch die waghalsige Aktion ist mehr als eine Mutprobe: Sie soll der Wissenschaft dienen. Über eine Öffnung im Tierkostüm und einen Greifarm will Barr Proben von Flusspferdschweiss nehmen. Das Sekret soll antibiotisch wirken und könnte in der Medizin helfen, Infekten vorzubeugen.
Bekanntgeworden ist Barr durch seine Filmserie «Gefährliche Begegnungen» für den TV-Sender National Geographic Channel. Inzwischen gilt er als einer der innovativsten Zoologen – erfindungsreich vor allem darin, sich in unkonventionellen Tarnungen so nah wie möglich an Wildtiere heranzupirschen. Brady Barrs Spezialgebiet sind Giftschlangen und Krokodile. Rund 5000 wilde Krokodile hat der Reptilienexperte zu Forschungszwecken schon gefangen. Für sie entwarf er auch seinen ersten Tarnanzug (siehe «Auf Tuchfühlung mit den Krokodilen», Seite 61), der zum Vorbild für die Flusspferdattrappe wurde. Sie kam in Sambia erstmals zum Einsatz.
Keinem Tier in Afrika fallen mehr Menschen zum Opfer als dem Flusspferd. Seine Kiefer entwickeln eine Beisskraft von knapp 900 Kilogramm, seine bis zu 20 Zentimeter langen Zähne durchbohren fast jedes Material. «Ich musste sicher sein, dass ich im Anzug die Attacke eines wilden Flusspferds überleben könnte», sagt Barr. Die Basis der Attrappe besteht deshalb, wie beim Krokodilanzug, aus einem stabilen Alurahmen und einer Schicht Kevlar, dem Material, aus dem auch kugelsichere Westen hergestellt werden. 500 Stunden lang arbeitete Barrs Team daran. «Ob mich die Tiere als Artgenossen akzeptieren, lässt sich allerdings vorher nie sagen», so Barr. «Das finde ich leider immer erst in der Wildnis heraus. Da gibt es oft Momente, in denen mir der Atem stockt.»
Auch in Sambia ist das wieder so, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Barr trifft letzte Vorbereitungen für seinen Versuch, mit Flusspferden erstmals richtig auf Tuchfühlung zu gehen. Um den Kunststoffgeruch seines Anzugs zu überdecken, kleistert er ihn mit Flusspferddung zu. Das funktioniert, die Dickhäuter schöpfen keinen Verdacht, lassen den Neuling näher kommen. Doch die Tarnung hat einen Nachteil: Unter der brennenden Sonne hat sich der Hohlraum im Kostüm auf 65 Grad Celsius aufgeheizt. Der Kot entfaltet sein volles Aroma. «Hier ist es wie im Backofen», stöhnt Barr mit glasigen Augen in seine Handkamera. «Der Gestank ist unerträglich.» Dann übergibt er sich.
Barr ist es gewohnt, an seine Grenzen zu gehen. Er ist Tierforscher aus Leidenschaft – eine Berufung, die ihm nicht in die Wiege gelegt wurde. Seine Kindheit verbrachte er auf dem Land in Indiana, einem US-Bundesstaat, in dem sich Hase und Igel gute Nacht sagen. Zum Leidwesen des neugierigen Jungen sind Hase und Igel auch die exotischsten Tiere, die dort über die Felder streifen. Klein Brady beginnt sich für Zoos und Aquarien zu begeistern. Tierforscher wie Jacques-Yves Cousteau werden seine Idole. Später tut Barr es ihnen gleich: Er wird Zoologe und reist um die Welt.
Vor allem die Krokodile haben es ihm angetan: «Sie sind die ultimativen Überlebenskünstler. Sie sehen heute genauso aus wie vor 200 Millionen Jahren, als noch Dinosaurier lebten. Krokodile mussten sich nicht weiterentwickeln. Sie waren und sind perfekt.» Barr bemüht sich in seinen Filmen, das zwiespältige Image seiner Lieblingstiere aufzupolieren.
Angst vor ihnen hat er trotzdem bei jedem Einsatz: «Ich weiss, wozu sie fähig sind. Die Angst hält mich wach. In dem Moment, wo ich sie nicht mehr spüre, höre ich auf!» Besonders wachsam muss er sein, weil er bei den Annäherungen immer zwei Dinge im Auge behalten sollte: die Tiere und das Drehteam. «Bei jeder Aufnahme gibt es einen kritischen Punkt: jenen, in dem ich den Blick vom Tier abwenden muss, um in die Kamera zu sprechen. Dann können Unfälle passieren.» Eine Boa constrictor bestrafte Barr für einen solchen Moment der Unachtsamkeit schon mal mit einem kräftigen Biss in die Nase.
Nicht nur in solchen Situationen gilt für die TV-Crew die goldene Regel: Alle hören auf Dr. Barr. «Wenn ich sage, das ist zu gefährlich, dann ist das so», stellt er klar. «Ich habe keine Zeit für Diskussionen.» An diese Arbeitsweise mussten sich seine TV-Produzenten erst gewöhnen. «Einer von ihnen – er war noch nicht lange dabei – sagte mal nach einer Aufnahme: ‹Perfekt! Gleich noch mal!› Aber die Wildnis ist nicht Hollywood. Bei mir heisst es: echter Forscher, echte Tiere, echte Gefahr. Wenn ich ein wildes Tier fange, gibts keine zweite Chance.» Dabei geht es Barr auch um die Sicherheit der Tiere. Dauert das Fangen zu lange, können sie an Stress oder Erschöpfung sterben.
Der Forscher selbst blieb in 20 Jahren von schweren Verletzungen verschont. In Costa Rica riss ihm ein Krokodil allerdings einen halben Finger ab. Und dann war da noch die Kobra, die ihn in einem afrikanischen Erdferkelbau überraschte. «Wir lieferten uns einen 15-sekündigen Todestanz», erinnert sich Barr. «Hätte mich ihr Biss getroffen, wäre ich gestorben. Noch heute wache ich nachts oft schweissgebadet auf.»
Der Tod begleitet ihn – aber genauso die Faszination. «Nur wenige haben jemals die Chance, auf einem tonnenschweren Krokodil zu sitzen und seinen Atem zu spüren. Keine Frage, ich bin süchtig nach diesen Erlebnissen. Fast täglich sage ich mir: Das ist der beste Job der Welt.»
Ob heute so ein Tag ist? Abgekämpft, aber erleichtert krabbelt Barr unter seiner Attrappe hervor. Die vergangenen Stunden hat er kriechend verbracht. Unter sich den Morast des Seeufers, über sich mehrere Lagen Flusspferdkot. Die Schweissprobe der Tiere hat er zwar nicht bekommen. Ein Erfolg ist die Expedition dennoch. Dank seiner kreativen Verkleidung ist es Barr gelungen, den unberechenbaren Tieren unglaublich nahe zu kommen. So konnte er ihr Verhalten genauestens studieren.
Der Forscher interessiert sich auch für Hyänen und Walrosse. Dabei sind Tarnungen ebenfalls entscheidend. «Wir arbeiten an künstlichen Termitenhügeln und Eisbergen, aus denen heraus ich meine Beobachtungen machen kann.»
Dann hätte Barr zumindest eines nicht mehr zu befürchten: amouröse Avancen von Krokodilen oder Flusspferden. Die konnte er bislang durch einen simplen Trick vermeiden. «Beim Entwurf der Attrappen achten wir darauf, dass sie möglichst unattraktiv wirken, also keine Begattungswünsche wecken.»