Fast drei Stunden lang war da kein Laut und keine Regung, doch um 14.40 Uhr nimmt einer der beiden Privatdetektive im Auto seinen Blick vom Haus gegenüber und notiert: «Beide Rollläden werden geöffnet.» Es geht wieder los. Die Detektive machen die Kamera klar. Es ist der 6. September 2011, der siebte Tag, an dem sie in diesem St. Galler Aussenquartier auf der Lauer liegen.

Die Zielperson verlässt das Haus um 14.48 Uhr. Eine junge Frau, zierlich, die Haare braun, Pferdeschwanz. Sie schiebt einen Kinderwagen mit einem kleinen Kind auf den Vorplatz, neben ihr trottet ein etwas grösseres Kind, 14.49 Uhr, die Kamera läuft, das Bild ist gestochen scharf. Nach wenigen Metern trifft die Frau auf zwei andere Mütter, man kennt sich, kommt ins Gespräch. Die Kamera ist dabei. Zoomt auf die rechte Hand der Zielperson, klebt an den Gesichtern der Frauen. Um 14.55 Uhr blickt sich eine von ihnen unvermittelt um und blickt direkt in die Kamera, als spüre sie ihre Anwesenheit.

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Simuliert die junge Mutter oder nicht?

Ein Jahr später erhält die 30-jährige Patrizia Roth von ihrer Unfallversicherung ein dickes Kuvert zugeschickt. Der Inhalt: zwei DVDs und zwei je knapp 20 Seiten starke Dokumente – Ermittlungsberichte der Detektive. «Ich las die Berichte, sah mir die Aufnahmen an und fühlte mich wie im falschen Film», sagt sie heute. «Überall war man mir auf den Fersen, um mir Versicherungsbetrug nachzuweisen. Beim Einkaufen, beim Spazieren mit meiner Mutter, auf dem Spielplatz mit den Kindern. Unheimlich.» Unheimlich – und fragwürdig. Denn einen begründeten Verdacht, Roth betrüge ihre Versicherung, gab es nicht.

Unstrittig und in mehreren Gutachten dokumentiert ist vielmehr: Patrizia Roth kann ihre Rechte nach einem Arbeitsunfall und einer missglückten Bandrekonstruktion nur noch als Hilfshand gebrauchen. Unstrittig ist auch, dass ihr die Axa Winterthur als Unfallversicherung seit Jahren 50 Prozent des Lohns ihrer letzten Festanstellung bezahlt. Bis die Versicherung plötzlich – und im Widerspruch zu sämtlichen Gutachten – auf den Verdacht verfällt, die junge Mutter simuliere die Schmerzen und die Schwächen ihrer rechten Hand.

Um Gewissheit zu erhalten und gegebenenfalls die Versicherungsleistungen kürzen zu können, erteilt die Axa Winterthur 2011 der Securitas-Tochter Crime Investigation Services (CIS) für 15'000 Franken einen Überwachungsauftrag. Deren Detektive machen sich umgehend ans Werk: Zwischen Mai 2011 und Februar 2012 observieren sie Roth einmal während fünf und zweimal während je zehn Tagen. Im Migros-Restaurant, vor der Post, im Café. Dabei unterlaufen ihnen Fehler. So unterstellen sie der Frau, ein handgeschaltetes Auto zu fahren, wozu sie ihre rechte Hand benötigen würde – in Wirklichkeit ist ihr Wagen ein Automat. Sie nehmen ihren «körperlichen Bewegungslauf» als «dynamisch und geschmeidig» wahr – als hätte ihre handicapierte rechte Hand Einfluss auf Gangart oder Haltung. Sie behaupten, sie trage ihr jüngeres Kind abwechslungsweise auf dem linken, dann auf dem rechten Arm – obwohl ihr Video zeigt, dass sie es ausschliesslich links trägt. Die Momente, in denen Roth laut Ermittlungsbericht für schwere Lasten die rechte Hand einsetzt, sind filmisch nie festgehalten, die Szenen davor und danach dagegen schon.

Die Resultate der Überwachung sind dünn

Um an belastendes Material zu kommen, filmen die CIS-Leute in die geöffnete Garage Roths, ihre Berichte blasen sie auf mit belanglosen Beobachtungen: «Sie setzte sich auf die Parkbank und kaute an den Nägeln», heisst es einmal. Selbst für eine plumpe Verfolgungsfahrt sind sie sich nicht zu schade. «Ich war mit dem Auto unterwegs, als mir auffiel, dass mir ein Wagen ständig folgte», erinnert sich Patrizia Roth. «Ich geriet in Panik und rief meinen Mann an. Er sagte, ich solle an seinem Arbeitsort vorbeifahren, er stelle sich dann auf die Strasse und fange den Verfolger ab.» Der Plan geht auf, Roths Mann stellt den Detektiv zur Rede. Dieser gibt an, sich verfahren zu haben. «Ich war danach tagelang verängstigt. Ich dachte, ein Psychopath habe es auf mich abgesehen», sagt Roth.

Die Resultate der Observationen sind dünn, die Axa Winterthur übergibt sie im Frühjahr 2012 dennoch ihrem ärztlichen Dienst. Dieser gelangt aufgrund der Videos zum Schluss, dass Roths Erwerbsunfähigkeit «allerhöchstens 20 bis 25 Prozent» betrage, nicht 50 Prozent wie bisher. Für Roths Anwalt Peter Schmuck ist das unhaltbar. «Da stellt eine Versicherung auf Berichte ab, die keine aussagekräftigen und zulässigen Beweismittel sind», sagt er. Für ihn ist klar: Die Observationen fanden ohne konkreten Anhaltspunkt statt und waren damit nicht gerechtfertigt – zudem hätten die CIS-Leute durch Filmaufnahmen ins Innere der Garage auf unerlaubte Weise in den Privatbereich der Familie Roth eingegriffen. «Die Detektive haben da die Grenzen überschritten», sagt Schmuck.

Doch mit den Grenzen ist es so eine Sache. Denn es fehlen griffige Vorschriften dazu, wie weit Unfallversicherungen gehen dürfen, um an Informationen über ihre Kunden zu kommen. Der Ständerat wies im März 2011 als zweite Kammer eine Revision des Unfallversicherungsgesetzes zurück, die erstmals die Überwachung regeln wollte. Der neue Artikel hätte ausdrücklich festgehalten, dass Observationen erst bei begründetem Betrugsverdacht und als letztes Mittel erlaubt sind und nur auf öffentlichem Grund stattfinden dürfen. Ein neuer Vorschlag liegt nicht vor.

Jetzt observieren die Versicherer selbst

Dabei wäre ein Gesetz, das den Einsatz von Detektiven im Versicherungsbereich explizit regelt, durchaus angezeigt, sagt Francis Meier, wissenschaftlicher Mitarbeiter des eidgenössischen Datenschutzbeauftragten. «Die Observierung von Versicherten stellt einen starken Eingriff in deren Persönlichkeitsrechte dar», so Meier. «Heute gibt es da grossen Interpretationsspielraum. Im Einzelfall klären Richter, was erlaubt ist und was nicht.» Sicher ist nach heutiger Gesetzeslage nur: Versicherungen dürfen durch Dritte abklären lassen, ob an Schadensmeldungen etwas dran ist. Orientierungshilfe bieten zwei Urteile des Bundesgerichts. Sie halten fest, dass Beschattungen nur für kurze Zeit zulässig sind und im Privatbereich nur dann, wenn die Handlungen der Observierten von aussen ohne weiteres wahrnehmbar sind.

So ungenau die Bestimmungen sind: Die Versicherungen sind zurückhaltender geworden in der Zusammenarbeit mit Privatdetektiven. «Die Aufträge sind in den letzten Jahren massiv eingebrochen», bestätigt Markus Wegst, Sekretär des Fachverbands Schweizerischer Privatdetektive. Firmen wie Zurich, Bâloise oder Axa Winterthur bauten stattdessen intern Teams zur Betrugsbekämpfung mit bis zu zwei Dutzend Angestellten auf; zum Einsatz kommt auch Computersoftware, die Schadensmeldungen auf Betrugshinweise analysiert. «Das grosse Geld liegt mit Observationen nicht mehr drin», sagt Wegst. «Die meisten der dubiosen Detekteien, die vor zehn Jahren auf diesen damals lukrativen Markt drängten, sind heute weg.» Was nichts daran ändert, dass nach wie vor Detektiv werden kann, wer mag – die meisten Kantone kennen weder Prüfungen noch Lizenz, niemand kontrolliert die schätzungsweise 200 bis 400 Detektive im Land.

Immerhin: Im Fall von Patrizia Roth verzichtet die Axa Winterthur nun darauf, die Beobachtungen der Detektive zu verwenden. Sie ist zwar nach wie vor der Ansicht, die Observierung sei gerechtfertigt gewesen. «Im Sinne eines fairen Verfahrens» ist sie aber bereit, ein neues Gutachten anfertigen zu lassen, um den Grad der Erwerbsunfähigkeit festzustellen. Patrizia Roth entfährt ein Seufzer: «Diesen Alptraum mit den Detektiven hätten sie mir auch ersparen können.»