«Skandale, Betrug und Sex werden immer wichtiger»
Wenig Tiefgang, hoher wirtschaftlicher Druck: Medienministerin Doris Leuthard über den Wandel und die Zukunft der Schweizer Medien.
Veröffentlicht am 12. September 2017 - 14:05 Uhr,
aktualisiert am 12. September 2017 - 11:59 Uhr
Beobachter: Frau Bundespräsidentin, Sie sind in der Regierung auch für die Medienpolitik zuständig. Welche Zeitungen und Zeitschriften lesen Sie denn?
Doris Leuthard: Unter anderem den Beobachter. Ich habe ihn sogar abonniert. Zum Lesen komme ich aber fast nur, wenn ich im Auto, Zug oder Flieger unterwegs bin. Von der Schweizer Tagespresse erhalte ich täglich Zusammenfassungen der wichtigsten Meldungen. Aber es genügt nicht, nur Nachrichten zu lesen, die mein Departement und die Schweiz betreffen. Wir sind ja mit der EU und der ganzen Welt eng verflochten. Ich lese daher auch regelmässig die «Financial Times» und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung».
Beobachter: Lesen Sie die Medien auf einem Computer oder einem Tablet?
Leuthard: Infos in Kurzform lese ich auf Online-Diensten. Sonst bevorzuge ich Papier. Ich schneide sogar Artikel aus und lege sie auf eine Beige, um sie dann später zu lesen. Leider schaffe ich das nicht immer.
Beobachter: Ist für Sie Zeitunglesen auch Unterhaltung?
Leuthard: Weniger. Wenn ich mal Zeit für Unterhaltung habe, setze ich mich doch lieber vor den Fernseher.
«Glaubwürdige Medien müssen auch ihre Fehler offenlegen. So weit sind viele noch nicht.»
Doris Leuthard, Bundespräsidentin
Beobachter: Überrascht oder enttäuscht es Sie als Bundesrätin, was die Medien über Regierungsgeschäfte schreiben?
Leuthard: Wenn Sie lange in der Politik sind, relativiert sich einiges. Ich rege mich heute etwas weniger auf, wenn in einer Geschichte nicht alles stimmt. Man kann daran ja nichts mehr ändern. Es gibt aber immer noch mehr gute als schlechte Artikel.
Beobachter: Wie hat sich die Qualität der Medien während Ihrer Zeit im Bundesrat verändert?
Leuthard: Viele Journalisten haben offensichtlich nicht mehr die Zeit, in die Tiefe zu recherchieren. Man hört oder liest etwas Brisantes und übernimmt die These einfach. Es wird in der Verwaltung oder beim Bundesrat kaum mehr nachgefragt, ob etwas wirklich so ist. Das war früher selbstverständlich. Vielleicht geschieht das auch aus Angst, dass die Geschichte dann relativiert werden müsste.
Beobachter: Sind die Journalisten heute weniger kompetent?
Leuthard: Nein. Ich sehe zwei andere Gründe für den Verlust an Qualität. Beide haben mit ökonomischem Druck zu tun. Journalisten haben weniger Zeit und harte Deadlines. Gleichzeitig müssen sie thematisch ein viel breiteres Feld abdecken. Sie können sich nicht mehr auf zwei, drei Gebiete spezialisieren. Journalisten sind zwar sehr gut ausgebildet und beherrschen ihr Handwerk. Aber das wirtschaftliche Umfeld lässt kaum noch Tiefgang zu.
Beobachter: Offenbar verkaufen sich differenziert erzählte Geschichten schlechter, es braucht immer eine knackige Schlagzeile. Deshalb verzichten einzelne Medien gleich auf solche Beiträge…
Leuthard: Ich stelle vor allem fest, dass positive Geschichten leider kaum mehr gehört werden wollen. Skandale, Betrügereien, Events und Sex werden immer wichtiger. Offenbar braucht es für eine gute Geschichte immer Leute, die etwas falsch gemacht haben, was man dann skandalisieren kann.
Beobachter: Ist es nicht die zentrale Aufgabe der Medien, die Arbeit von Verwaltung und Regierung kritisch zu hinterfragen und Fehler öffentlich zu machen?
Leuthard: Doch. Der Bundesrat und die Verwaltung haben auch kein Problem mit dieser Kontrollfunktion der Medien, solange sauber recherchiert wird. Zu oft aber kommt es zu Vorverurteilungen. Wenn sich dann herausstellt, dass die Vorwürfe nicht zutreffen, liest man jedoch nichts mehr zum Thema. Glaubwürdige Medien müssen auch ihre Fehler offenlegen. So weit sind viele noch nicht.
Beobachter: Wer genau übt die sogenannte vierte Gewalt heute aus? Immer mehr soziale Medien wie Facebook und Twitter?
Leuthard: Nein, diese Position haben die sozialen Medien nicht. Über sie lassen sich Informationen und Meinungen zwar schnell verbreiten. Für die eigene Meinungsbildung sind Printmedien aber nach wie vor zentral.
Beobachter: Diese Aufgabe ist aber immer schwieriger zu erfüllen. Die gedruckten Zeitungen kämpfen überall mit sinkenden Erträgen. Was kann man dieser Entwicklung entgegensetzen?
Leuthard: Wenn Verlage nur noch im Internet investieren, wo viele Werbegelder hinfliessen, haben wir tatsächlich ein Problem. Es wird dann nicht mehr in die publizistische Tätigkeit investiert, sondern in andere, rentablere Geschäftsfelder. Der Qualitätsjournalismus droht auszubluten. Das wäre schlecht für unsere Demokratie, die auf einer gut informierten Bevölkerung aufbaut. Als Politiker können wir keine journalistischen Geschäftsmodelle entwickeln. Aber wir können die Rahmenbedingungen verbessern, die Qualität trotz sinkenden Werbeerträgen ermöglichen.
Beobachter: Texte, die von Werbekunden gesponsert sind, nehmen zu. Ist denn alles förderungswürdig, was heute mit dem Etikett Journalismus produziert wird?
Leuthard: Wir fördern ja nichts direkt. Über die Verbilligung der Postzustellung von Zeitungen gibt es heute lediglich eine indirekte Förderung. Es sollte auch keine Staatsaufgabe werden, mediale Inhalte direkt zu fördern.
Beobachter: Wieso arbeiten Sie dann an einem Mediengesetz?
Leuthard: Wir sind tatsächlich das erste Land, das sich an ein Mediengesetz wagt, das Radio, Fernsehen, Internetmedien und Online-Angebote der Verleger unter einen Hut bringt. Das hat einen Grund. In unserer direkten Demokratie spielen Medien staatspolitisch eine enorm wichtige Rolle. Wir stimmen regelmässig über konkrete Sachvorlagen ab, die sehr anspruchsvoll sein können. Darüber müssen die Medien unabhängig und in hoher Qualität berichten, damit sich die Bürger eine Meinung bilden können. Diese Art von Journalismus ist in Gefahr.
Beobachter: Von der NZZ über soziale Medien bis hin zum Youtube-Kanal – überall findet man heute qualitativ hochstehende Beiträge neben völlig unjournalistischen Inhalten. Wenn die Politik nicht einzelne Unternehmen unterstützen will, will sie dann spezifische Leistungen unterstützen wie zum Beispiel die Berichterstattung über den Parlaments- oder den Kulturbetrieb?
Leuthard: Es müssen sicherlich Ideen in diese Richtung entwickelt werden. Aber es ist zu früh, jetzt einzelne Ansätze zu bewerten.
«In unserer direkten Demokratie spielen Medien staatspolitisch eine enorm wichtige Rolle.»
Doris Leuthard, Bundespräsidentin
Beobachter: Sie sagen, es sei wichtig, dass die Medien die Politik und die Verwaltung kontrollieren. Als Journalisten stellen wir aber fest, dass es schwieriger wird, direkt mit kompetenten Vertretern in der Verwaltung zu sprechen. Dazwischen stellen sich immer mehr Kommunikationsverantwortliche.
Leuthard: Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Fachleute den Journalisten immer noch direkt Auskunft gibt. Es gibt natürlich auch Gründe, warum sich Kommunikationsfachleute einschalten. Die Mitarbeiter der Bundesverwaltung stehen unter ständiger Kontrolle der Politik, zum Beispiel durch die Geschäftsprüfungskommissionen. Und manche Politiker erwarten, dass Mitarbeiter der Verwaltung reine Vollzugsbeamte sind, die möglichst keine eigenen Meinungen abgeben. Wenn sie dann etwas sagen, was den Politikern nicht passt, wird auf den Mitarbeitern oder auf der ganzen Verwaltung herumgehackt. Ich bedaure diese Entwicklung. Ich finde, unsere Fachleute sollten direkt mit Journalisten sprechen können. Sie dürfen dabei eigene Überlegungen oder politische Erläuterungen abgeben.
Beobachter: Diese Entwicklung führt zu einem gefährlichen Ungleichgewicht. Die Medienhäuser sparen Journalisten ein, die Verwaltungen bauen gleichzeitig ihre Kommunikationsstäbe aus – oft mit ehemaligen Journalisten.
Leuthard: Die Kommunikationsleute beantworten nicht nur Journalistenanfragen. Sie haben einen allgemeinen Informationsauftrag und beantworten zum Beispiel auch Zuschriften und E-Mails der Bürgerinnen und Bürger. Und das in allen Landessprachen. Wenn wir heute etwas nur online stellen, erhalten wir sofort Beschwerden, warum die Publikation nicht auf Papier erhältlich ist.
Beobachter: Manche Bürger sind überzeugt, dass Eliten das politische Geschehen über undemokratische und intransparente Wege bestimmen. Verschwörungstheorien und Fake News gewinnen an Bedeutung. Beschäftigt Sie diese Entwicklung?
Leuthard: Eigentliche Bewegungen, die über Verschwörungstheorien und Radikalisierungen an Bedeutung gewinnen, sehe ich in der Schweiz nicht. Das hat sicher auch damit zu tun, dass unsere Prozesse sehr transparent ablaufen und der Bürger selber ständig in Vernehmlassungen oder an der Urne mitentscheiden kann.
Beobachter: Für jüngere Menschen ist es nicht mehr selbstverständlich, täglich eine Zeitung zu lesen. Es gibt unterhaltsamere Newsangebote. Kann seriöser Journalismus in diesem Kampf um Aufmerksamkeit überhaupt noch Erfolg haben?
Leuthard: Ja, denn das Bedürfnis nach seriöser Information und kompetenten Recherchen wird gerade in Zeiten von Fake News noch stärker werden. Qualitätsjournalismus hat durchaus eine Zukunft. Vielleicht wird er aber gerade für das Zielpublikum der Jüngeren via Apps stattfinden.
Beobachter: Auch der Bundesrat muss die Aufmerksamkeit der Bevölkerung gewinnen, damit sie Verständnis für die Regierungspolitik aufbringt und politische Vorlagen versteht. Gelingt das der Regierung noch?
Leuthard: Bis jetzt schon. Man darf die Bevölkerung auch nicht unterschätzen. Das vermeintlich veraltete Abstimmungsbüchlein wird zum Beispiel nach wie vor sehr gut gelesen. Über andere Formen, zum Beispiel Comics und Animationen, sprechen wir auch andere Bevölkerungsteile an. Beim Energiegesetz haben wir auf diese Weise mehrere zehntausend Leute erreicht.
So erkennen Sie Fake News
«Fake News» sind allgegenwärtig – und einfacher zu entlarven, als man denkt. Wir zeigen an einem konkreten Beispiel, wie dies innert 15 Minuten gelingt.
Beobachter: Nutzen Sie Social Media, um etwas zu vermitteln? Der amerikanische Präsident macht das ja sehr intensiv.
Leuthard: Als Bundespräsidentin habe ich gar keine Zeit dafür. Und lediglich zu twittern, dass ich demnächst den Präsidenten eines anderen Landes treffe, finde ich unnötig.
Beobachter: Sachargumente haben gegenüber emotionalen Argumenten immer weniger Gewicht. Wie kommen wir dennoch zu guten Entscheidungen, die von der Bevölkerung mitgetragen werden?
Leuthard: Ich brauche das Wort Elitengesellschaft nicht gern. Aber es ist eine Aufgabe der gut ausgebildeten Leute, der Intellektuellen, sich einzubringen und Gegensteuer zu geben.
Beobachter: Passiert das zu selten?
Leuthard: Ja, es gab Zeiten, in denen sich zum Beispiel Schriftsteller viel stärker eingemischt haben. Wir haben in der Schweiz auch kaum Thinktanks, die sich grossen Themen annehmen und kompetente Vorschläge in Debatten einbringen. Das ist schade.
Beobachter: Was wünschen Sie sich von den Journalisten?
Leuthard: Dass sie bei komplexeren Themen – zum Beispiel bei der AHV-Revision – nicht einfach einen Seitenaspekt herauspicken und diesen skandalisieren. So kann sich der Bürger kein Bild über das Ganze machen. Er würde es bestimmt schätzen, zuerst einmal verständlich und objektiv zu erfahren, worum es überhaupt geht. Die Erläuterung von Grundlagen findet immer weniger statt.
Beobachter: Worüber würden Sie schreiben, wenn Sie nicht Bundesrätin, sondern Journalistin wären?
Leuthard: Ich weiss nicht, ob ich für eine knackige Schlagzeile sorgen könnte. Was mich aber stört, sind die spekulativen, allsommerlichen Berichte über Flüchtlinge, die vielleicht bald an der Grenze stehen, vielleicht aber auch nicht. Es folgt dann meist eine Debatte über Repression. Als Journalistin würde ich das Thema viel grundsätzlicher angehen. Was machen wir, wenn Menschen wegen Wassermangel in vielen Ländern schlicht nicht mehr leben können, weil es zu heiss ist und nichts mehr wächst – und deshalb zu uns flüchten? Dieses Szenario zeichnet sich sogar für Inseln in Südeuropa ab. Akut wird es vielleicht erst in einigen Jahrzehnten. Nach Lösungen müssen wir aber bereits heute suchen, zusammen mit der Bevölkerung.
Beobachter: Sind es nicht gerade Politiker, die solche unangenehmen Fragen verdrängen, weil sie keine mehrheitsfähigen Lösungen präsentieren können?
Leuthard: Ja, ich gebe Ihnen recht. Auch die Politik denkt oft zu kurzfristig, von Wahl zu Wahl. Ein weiterer Grund, warum wir vielfältige und qualitativ hochstehende Medien brauchen.