Abwanderung: Interview mit Agrarwissenschaftler und Bergler Peter Rieder
Alle Berggemeinden können nicht so bleiben, wie sie heute sind, ist Agrarwissenschaftler und Bergler Peter Rieder überzeugt. Teilzeitdörfer sind für ihn keine Horrorvision.
Beobachter: Gemäss Ihren Studien ist die Hälfte der Schweizer Berggemeinden vom Aussterben bedroht. Haben die Alpen als Lebensraum für die Menschen ausgedient?
Peter Rieder: Der Alpenraum als Ganzes sicher nicht. Was wir feststellen, ist eine wachsende Polarisierung innerhalb des Berggebiets. Die abgelegenen und landwirtschaftlich geprägten Dörfer laufen tatsächlich Gefahr auszubluten. Wenn es nicht gelingt, in diesen Gemeinden wettbewerbsfähige wirtschaftliche und soziale Strukturen zu schaffen, wird die Abwanderung der Bewohner in die besser erschlossenen Gegenden nicht aufzuhalten sein.
Beobachter: Geisterdörfer in einer verwilderten Landschaft: Sieht so die Zukunft aus?
Rieder: Ich bin dagegen, grossflächige Kulturräume sich selber zu überlassen. Dafür ist die Ressource Raum in unserem kleinen Land zu knapp. Die Schweiz hat sich Gesetze gegeben, die dafür sorgen sollen, dass auch abgelegene Talschaften weiterhin kultiviert werden. Diesen Grundsatz der dezentralen Besiedlung halte ich nach wie vor für berechtigt. Das soll aber nicht heissen, dass alle Bergdörfer so erhalten bleiben, wie sie heute sind. Von dieser Wunschvorstellung müssen wir uns verabschieden.
Beobachter: Wie kann denn das Leben an einem Ort aussehen, der wirtschaftlich gar nicht mehr lebensfähig ist?
Rieder: Es gibt solche Gebiete bereits heute. Im Tessiner Malvagliatal, das früher aus sieben Gemeinden bestand, lebt heute kein Mensch mehr ganzjährig. Aber viele frühere Einwohner haben ihre Häuser behalten und kommen regelmässig ins Tal zurück, um einen Teil der Landwirtschaft aufrechtzuerhalten. In der Schweiz sind die Abgewanderten zum Glück reich genug, um wenigstens am Wochenende in die einst aufgegebenen Gebiete wiederkehren zu können.
Beobachter: Teilzeitdörfer ist das keine Schreckensvision für Sie?
Rieder: Ich sehe es pragmatisch: lieber Maiensäss-Siedlungen mit einem gewissen Mindestmass an Leben als gar kein Leben mehr.
Beobachter: Noch besser wäre es, wenn wieder echtes Eigenleben aufblüht, wie das im Bündner Musterdorf Vrin geglückt ist. Bloss ein gern gezeigtes Einzelbeispiel?
Rieder: Nun, das Modell Vrin lässt sich nicht einfach vervielfältigen und auf andere Gemeinden übertragen. Die Verhältnisse sind in jedem Dorf anders, entsprechend müssen die jeweiligen Entwicklungsschritte anders ausfallen. Aber man kann vom Beispiel Vrin viel lernen, wenn es darum geht, schlummernde Kräfte in einem Ort zu wecken. Doch ich bin kein Sozialromantiker, sondern Ökonom: Letztlich müssen die Leute einen Nutzen darin sehen, ein gefährdetes Bergdorf wiederzubeleben.