«Das erfüllt den Tatbestand des Völkermords»
Die Schweiz könnte in Sachen «Kinder der Landstrasse» heute noch ein Strafverfahren gegen unbekannt eröffnen, sagt Strafrechtsprofessorin Nadja Capus.
Beobachter: Nadja Capus, Sie ziehen einen harten Schluss zu den systematischen Wegnahmen jenischer Kinder: Es sei «möglich, dass Delikte begangen wurden, die unverjährbar sind, weil sie Verbrechen gegen die Menschheit darstellen».
Nadja Capus: Das Vorgehen der Pro Juventute im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» umfasst möglicherweise einen Angriff auf eine Gruppe, mit der Absicht, sie kulturell auszulöschen. Man wollte die Jenischen nicht physisch zerstören, sondern die Eigenheiten der Völkergruppe unterbinden – durch Kindeswegnahmen.
Also ihre Kultur zerstören?
Ihre Eigenheit. Das, was die Gruppe ausmacht. Die international gültige Definition von Völkermord kennt den «kulturellen Genozid» zwar nicht. Aber laut Konventionstext der Uno handelt es sich auch dann um einen Völkermord, wenn man «Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt oder überführen lässt». Also genau das, was im Fall der Kinder der Landstrasse passiert ist.
Erfüllt das Vorgehen der Pro Juventute
den Tatbestand des Völkermords?
Ja. Weil es darum gegangen ist, die Kinder der Gruppe zu entfremden. Man muss aber eine Absicht nachweisen können, was nicht einfach ist. Nur wenn die konkreten Verantwortlichen die Lebensart der Jenischen absichtlich vernichten wollten, ist es Völkermord.
Die Pro Juventute war wohl der Meinung, sie helfe den Kindern.
Es zählt die Absicht, mit den Kindeswegnahmen die jenische Lebensweise auszulöschen. Ob man sich dachte, dass man damit dem Kindeswohl diene, ist einerlei.
«Die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen unbekannt hätte einen enormen Symbolgehalt.»
Nadja Capus, Professorin für Straf- und Strafprozessrecht, Universität Neuenburg
Die Schweiz trat der Völkermord-Konvention erst im Jahr 2000 bei. Wie kann etwas, was zwischen 1926 und 1973 passiert ist, dann trotzdem als Völkermord verfolgt werden?
Systematische Kindeswegnahmen sind Völkermord gemäss sogenanntem Gewohnheitsrecht. Gewohnheitsrecht gilt auch ohne Verschriftlichung – und galt damit auch schon vor der Konvention.
Sind somit alle Kindeswegnahmen der Pro Juventute heute noch strafbar?
Nein, nicht alle. Die Begründung ist sehr technisch und wird dem Leid der Betroffenen überhaupt nicht gerecht. Entscheidend ist der Unverjährbarkeitsartikel im Schweizer Strafgesetz. Er gilt seit dem 1. Januar 1983 für die «Ausrottung oder Unterdrückung einer Bevölkerungsgruppe». Und zwar für alle Delikte, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren. Alle Verbrechen wie etwa qualifizierte Freiheitsberaubungen, die nach dem 31. Dezember 1972 begangen wurden, sind auch heute noch strafbar.
Könnten also alle Betroffenen, die 1973 noch in den Händen des «Hilfswerks» waren, eine Strafanzeige wegen Völkermords gegen die Pro Juventute einreichen?
Betroffene müssten nicht einmal Strafanzeige einreichen. Es ist ein Offizialdelikt. Ein Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin kann heute noch sagen: Ich möchte das genauer anschauen und eine Untersuchung einleiten. Mit offenem Ausgang natürlich. Die Kinder, die 1973 noch in Obhut der Pro Juventute waren, durften ja nicht alle plötzlich zu ihren Eltern.
Die Hauptverantwortlichen der Pro Juventute sind tot. Gegen wen würde ermittelt?
Gegen Tote kann man keine Strafverfahren führen. Aber die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen unbekannt hätte einen enormen Symbolgehalt. Der Schweizer Rechtsstaat würde sagen: Grundsätzlich sind die rechtlichen Bedingungen für ein Verfahren wegen Völkermords gegeben.
Fänden Sie das gut?
Für einen Rechtsstaat hätte ich es einen guten Ansatz gefunden, wenn man viel früher den Mut gefunden hätte, einen Sonderstaatsanwalt, eine Sonderstaatsanwältin zu beauftragen, den Indizien nachzugehen und Strafverfahren zu eröffnen. Um zu prüfen, was da im strafrechtlichen Sinne dran ist. Der runde Tisch hätte dann Plan B sein können. Angesichts der Schwierigkeiten der Strafverfolgung finde ich das Vorgehen des Bundes mit dem runden Tisch und dem Wiedergutmachungsgesetz aber eine akzeptable Lösung.
Zur Person
«Es war ein rassistisches Programm»
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