Kloster Ingenbohl bittet demütig um Entschuldigung
Die weltlichen und kirchlichen Behörden tragen eine «institutionelle Schuld», dass in Kinderheimen des Klosters Ingenbohl während Jahrzehnten Kinder hilflos ihren Peinigern ausgeliefert waren. Zu diesem Schluss kommt eine unabhängige Expertenkommission.
aktualisiert am 23. Januar 2013 - 16:25 Uhr
Die Schilderungen einstiger Heimkinder sind erschütternd: In Heimen des Klosters Ingenbohl, etwa in der berüchtigten Kinderanstalt Rathausen oder im Waisenhaus «Maria Hilf» in Laufen BL wurden sie gedemütigt, mussten drakonische Strafen über sich ergehen lassen mussten oder wurden sogar sexuell missbraucht. Jetzt kommt eine unabhängige, vom Kloster Ingenbohl eingesetzte Expertenkommission nach zweijähriger Tätigkeit zum Schluss: Das Kloster müsse «den Opfern Gehör schenken und ihr Leid anerkennen».
«Wir wollten Antworten finden, warum eine nicht unerhebliche Anzahl von Kindern so hilflos ihren Peinigern ausgesetzt war», sagte Magnus Küng, Notar aus Wettingen und Präsident der externen Expertenkommission. Der Bericht bestätigt die Schilderungen ehemaliger Heimkinder, die auch im Beobachter von unwürdigen Strafen, Demütigungen und sexuellen Übergriffen von Hauspriestern und Direktoren berichteten (siehe «Kinderheime: Düstere Jahre»).
«Das Ganze hat uns menschlich sehr berührt», sagte Küng. «Die Kommission traf auf ehemalige Heimkinder, die leiden mussten und noch heute leiden, auf Aufsichtsorgane, die ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, auf Heimleitungen und Schwestern, die ihren Aufgaben nicht gewachsen waren und auch nach damaligen Massstäben schwerwiegende Fehler begangen und den Kindern Leid zugefügt hatten.»
Gleichzeitig betonte Kommissionspräsident Küng, dass nur eine differenzierte Sicht Opfern und Tätern gleichermassen gerecht werden könne. Die aus Juristen, Historikern, Erziehungswissenschaftlern und einer Psychologin zusammengesetzte Gruppe sei auch auf gravierende Zustände in finanzieller Hinsicht gestossen, auf «mangelhafte infrastrukturelle Zustände», «unzumutbare Betreuungsquoten», «unzureichende Ausbildung» von Erziehungsverantwortlichen und Schwestern. Das Fazit der Kommission: «Die institutionelle Schuld von Behörden, Aufsichtsorganen, Heimdirektionen, aber auch auf Seiten der Leitung der Gemeinschaft ist klar belegt.»
Auch wenn es in den Heimen des Klosters Schwestern gegeben habe, die unter misslichsten Verhältnissen Gutes für Kinder geleistet hätten, sei «nicht auszuschliessen, dass es in den verschiedenen Heimen Täter und Täterinnen gab, welche Kindern systematisch abscheuliches Leid zufügten», sagte Präsident Magnus Küng.
Wenig Neues ergaben die Abklärungen zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauch. «Leider ist es der Expertenkommission nicht gelungen, die Rolle der Ingenbohler Schwestern befriedigend zu erhellen», sagte Erziehungswissenschaftler Anton Strittmatter, Mitglied der externen Untersuchungsgruppe. Die Kommission führt dies auf die «jahrelange Tabuisierung» der Thematik und auf fehlende beziehungsweise «verklausulierte Quellen» zurück. «Die Kommission erachtet es aufgrund der Zeugnisse von Betroffenen als plausibel, dass auch Schwestern sexuelle Übergriffe begangen haben, dass es Mitwisserschaft oder gar erzwungene Gehilfenschaft gab.
Abgeklärt hat die Expertenkommission auch die Vorwürfe, es sei im Kinderheim Rathausen zu mehreren Todesfällen gekommen (Suizid, Gewalteinwirkung). Die Vorwürfe, wonach drei namentlich bekannte Jugendliche Selbstmord begangen hätten, habe die Kommission widerlegt, erklärte der ehemalige St. Galler Oberrichter Hardy Notter. Nicht vollständig entkräften konnte die Kommission aber einen Vorwurf, wonach ein Mädchen in der Folge eines Gewaltausbruchs einer Ordensschwester starb. Notter sprach in diesem Fall von «unterlassener Nothilfe», weil das Mädchen darauf schwer krank wurde, aber weder zum Arzt noch ins Spital kam, sondern wenige Tage später im Heim verstarb. «Für unnatürliche Todesfälle können die Ingenbohler Schwestern – abgesehen von einer Unterlassung der Nothilfe – nicht verantwortlich gemacht werden.»
Die Expertenkommission fordert in ihrem Bericht das Kloster Ingenbohl auf, sich bei Opfern und ihren Angehörigen «aufrichtig» für das Fehlverhalten von Ordensangehörigen zu entschuldigen. Gleichzeitig soll sich der Orden an einem Mahnmal für das Geschehene beteiligen und sich finanziell für benachteiligte Kinder einsetzen. Präsident Magnus Küng: «Es war höchste Zeit, dass den Betroffenen Gehör und Mitgefühl geboten wurde.»
Provinzoberin Marie-Marthe Schönenberger zeigte sich an der Präsentation des Untersuchungsberichts demütig: «Mit Traurigkeit und grossem Bedauern stellen wir fest, dass auch unsere Mitschwestern in Einzelfällen in der Erziehungsarbeit unangemessen gehandelt haben.» Und: «Wir bitten um Verzeihung für das Leid, das wir als einzelne Schwester, als Ordensleitung und als Gemeinschaft mit unserem Verhalten verursacht haben.»
Bericht downloaden
Hier finden Sie den vollständigen Bericht der Expertenkommission: herunterladen (PDF)