«Ich bitte Sie von ganzem Herzen um Entschuldigung»
Am Gedenkanlass für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in Bern versprach Bundesrätin Simonetta Sommaruga, der Anlass sei kein Abschluss, sondern der Anfang einer umfassenden Aufarbeitung. Betroffene können sich ab sofort bei kantonalen Anlaufstellen beraten lassen.
aktualisiert am 12. April 2013 - 10:51 Uhr
Am 11. April wird sich hinter der klassizistischen Fassade des Kulturcasinos in Bern Denkwürdiges abspielen. Justizministerin Simonetta Sommaruga, Bischof Markus Büchel, Vertreter der Kantone und Gemeinden, des Bauernverbands und des Heimwesens werden auf Menschen treffen, die eine finstere Seite der Schweiz kennenlernen mussten – auf ehemalige Verding- und Heimkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, auf Mütter, denen die Vormundschaftsbehörden die Kinder weggenommen haben.
Die offizielle Schweiz will mit dem Anlass «einen Beitrag zur Anerkennung der schwierigen Umstände» leisten, in denen diese Menschen aufgewachsen seien, heisst es in der Einladung. Das ist löblich. Doch für Ursula Biondi, 1967 von den Vormundschaftsbehörden als schwangere 17-Jährige ein Jahr lang als «Erziehungsmassnahme» ins Frauengefängnis Hindelbank gesteckt, ist klar: Mit salbungsvollen Reden und belegten Brötchen geben sich die Betroffenen am 11. April nicht zufrieden. «Was es braucht, ist eine offizielle Entschuldigung», sagt sie. Und: «Aufs Tapet kommen muss nun endlich auch die Frage der finanziellen Entschädigung.»
Ein grosser Teil der Opfer lebt in finanziell prekären Verhältnissen. Selbst jene, die genügend Kraft und Glück gehabt hätten, sich eine Existenz aufzubauen, seien bis heute traumatisiert und innerlich gebrochen, so Biondi. «Entschädigungen machen die Verletzungen, die man uns zugefügt hat, nicht rückgängig», sagt sie. «Aber sie wären ein Zeichen dafür, dass man anerkennt, uns Unrecht angetan zu haben.»
Bislang konnte sich die Politik jedoch nicht zu Entschädigungen durchringen. Selbst der Entwurf zu einem Bundesgesetz, das die Opfer rechtlich rehabilitieren und den Bund zu einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschehnisse verpflichten will, klammert diese Frage explizit aus. Der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner, der den Gesetzesentwurf angestossen hatte, sagte Ende 2012 dem Beobachter: «Das war eine Bedingung der bürgerlichen Parteien, die ein Rehabilitierungsgesetz sonst nicht unterstützen würden.» Es ist offensichtlich: Die bürgerliche Schweiz tut sich schwer mit finanziellen Entschädigungen für Menschen, die mit behördlichem Segen ausgebeutet, misshandelt oder ohne Gerichtsbeschluss weggesperrt wurden. Andere Länder mit ähnlich dunklen Kapiteln in ihrer Geschichte sind ihr dabei bereits meilenweit voraus.
- Nachdem in Irland 1998 eine Serie von Dokumentarfilmen Missbräuche in kirchlichen und staatlichen Heimen aufgezeigt hatte, bat Premierminister Bertie Ahern 1999 die Betroffenen um Entschuldigung. Eine Untersuchungskommission nahm ihre Arbeit auf, gleichzeitig wurden Entschädigungen mit dem «Residential Institutions Redress Act» gesetzlich geregelt. Irland stellt für misshandelte Heimkinder insgesamt 1,28 Milliarden Euro bereit, die Kirche musste dem Staat dafür Ländereien und Gebäude im Wert von 128 Millionen Euro abtreten. Das dürfte nicht alles gewesen sein: Anfang Februar lag eine Untersuchung über Frauen vor, die als «gefallene Mädchen» in Zwangsarbeitsinstitutionen eingewiesen und dort häufig Opfer sexuellen Missbrauchs geworden waren. Bis im Sommer soll für die rund 1000 Überlebenden ein Entschädigungsplan vorliegen.
- In Schweden, wo zwischen 1920 und 1980 rund eine Viertelmillion Kinder in Heimen oder bei Pflegeeltern fremdplatziert wurden, erhalten die Opfer von Misshandlung, Vernachlässigung und Gewalt eine Entschädigung von je 250'000 Kronen (rund 37'000 Franken). 2011 bat der bürgerlich-konservative Parlamentspräsident Per Westerberg an einer Zeremonie in Anwesenheit von Königin Silvia und rund 1300 Betroffenen die einst Fremdplatzierten um Entschuldigung.
- In Deutschland nahm 2009 unter der Leitung der damaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer der «Runde Tisch Heimerziehung» seine Arbeit auf. Dies, nachdem zunehmend Berichte über Körperstrafen, sexuelle Übergriffe, Zwangsarbeit und mangelhafte Ernährung in
Anstalten der Nachkriegszeit an die Öffentlichkeit gelangt waren. Im Jahr 2012 bildeten sich zwei Entschädigungsfonds: einerseits der mit 120 Millionen Euro dotierte Fonds «Heimerziehung West» – Bund, Länder und Kirchen steuern hier je ein Drittel bei, wobei 20 Millionen Euro zur wissenschaftlichen Begleitung und Aufarbeitung abgezogen werden. Und anderseits der Fonds «Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990», der vom Bund, den neuen Bundesländern und Berlin mit über 40 Millionen Euro ausgestattet wurde.
- In Kanada bat Premierminister Stephen Harper 2008 die früheren Insassen der «Residential Schools» um Entschuldigung. In jene Schulheime waren bis in die siebziger Jahre hinein rund 150'000 Kinder von Ureinwohnern eingewiesen worden, vorgeblich, um sie «höherer Zivilisation» zuzuführen; Tausende dieser aus ihren Familien gerissenen Kinder mussten Zwangsarbeit leisten und Misshandlungen erleiden, das Sprechen ihrer indigenen Muttersprache war ihnen verboten. Eine Kommission ist dabei, die Geschehnisse aufzuarbeiten. Betroffene erhalten in einer ersten Entschädigungsrunde 10'000 Kanadische Dollar (rund 9000 Franken) für das erste und je 3000 (2700 Franken) für jedes weitere Jahr, das sie in einer «Residential School» durchlitten hatten. Für eine zweite Runde wird Kanada voraussichtlich mehrere hundert Millionen Dollar bereitstellen.
- In Australien bat Premierministerin Julia Gillard Ende März die Mütter von schätzungsweise über 200'000 Kindern um Entschuldigung; sie waren zwischen 1950 und 1975 gezwungen worden, ihre Babys zur Adoption freizugeben. Gillard kündigte an, umgerechnet rund 5 Millionen Franken für Therapien und die Nachforschungen nach Verwandten zur Verfügung zu stellen. Weitere fast 1,5 Millionen Franken sollen in die Aufarbeitung des Themas fliessen.
Bundesrat entschuldigt sich: Kein Abschluss, sondern ein Anfang
Am 11. April fand in Bern ein Gedenkanlass für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnamen statt. Rund 700 ehemalige Verdingkinder, Heimkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte und weitere Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen haben gemäss dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) am Gedenkanlass in Bern teilgenommen. Stellvertretend für die vielen Betroffenen schilderten einzelne von ihnen in Reden ihre erschütternde Lebensgeschichte.
Bundesrätin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich im Namen des Bundesrats für das grosse Leid, das den Opfern dieser Zwangsmassnahmen angetan wurde. Sommaruga bezeichnete den Gedenkanlass als Anfangspunkt einer umfassenden Aufarbeitung dieses schwierigen Kapitels der Schweizer Geschichte.
«Wir können nicht länger wegschauen, denn genau das haben wir bereits viel zu lange getan», sagte Bundesrätin Sommaruga in ihrer Rede. «Deshalb soll dieser Tag auch ein Bekenntnis sein: ein Bekenntnis zum Hinschauen und ein Aufruf gegen das Verdrängen und Vergessen.» Abschliessend sagte die Justizministerin: «Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschuldigung.»
Der Gedenkanlass sei kein Abschluss, sondern der Anfang einer umfassenden Aufarbeitung, welche juristische, historische und finanzielle Aspekte umfassen müsse, betonte Sommaruga. Ermöglichen solle dies ein Runder Tisch, zu dem alle Beteiligten eingeladen werden. Der bereits im Dezember von Bundesrätin Sommaruga eingesetzte Delegierte für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, alt Ständerat Hansruedi Stadler, wird den Runden Tisch leiten, die Anliegen der Opfer koordinieren und zwischen den Wünschen der Betroffenen, den Bedürfnissen von Kantonen und Gemeinden und den Möglichkeiten des Bundes vermitteln. Auf der Internetseite www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch (oder www.fszm.ch) wird der Delegierte regelmässig über Ergebnisse und den Stand der Diskussion des Runden Tisches berichten.
Ab sofort können sich Betroffene bei kantonalen Anlaufstellen beraten lassen. Einzelne Kantone haben die kantonalen Opferhilfestellen mit der Beratungsaufgabe beauftragt, in anderen Kantonen wurden dafür spezielle Einrichtungen geschaffen. Informationen dazu finden Sie unter www.fszm.ch. (EJPD)
Hier können Sie die ganze Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga herunterladen (PDF).
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