Die globalisierte Frau
Zum Abschied ein Kuss vom Mann, bei der Rückkehr Spaghetti vom Sohn. Dazwischen öde Abflughallen, harte Meetings, einsame Hotelzimmer - das ist der Alltag der Managerin Ursula Grunder. Annäherung an ein Leben in Transitzonen.
Veröffentlicht am 26. Februar 2007 - 14:28 Uhr
Das Orchester hat aufgehört zu spielen. Langsam leert sich das Gourmet-Zelt im Wiener Prater. Es ist bald Mitternacht. Ursula Grunder zündet sich eine dieser ganz schlanken Zigaretten an. Sie will ins Hotel zurück. Die vier Männer am Tisch protestieren laut.
Vor dem Essen, im Taxi zwischen Hotel und Prater, hat die Siemens-Managerin gesagt: «Wenn ich im Ausland bin, arbeite ich fast rund um die Uhr. Schliesslich bin ich für das Geschäft hier. Sogar das Nachtessen ist Arbeit. Themen kommen zur Sprache, die während der Sitzung keinen Platz hatten.» Dann hat sie die kurze Auszeit genutzt, um daheim anzurufen und dem Sohn gute Träume für die Nacht zu wünschen. «Wo bist du?», fragt Florin, der zu Hause in Jona SG das Telefon abgenommen hat. «Ich vermiss dich auch. Mami, ich male grad einen Drachen. Bringst du mir ein Heftli oder ein Video mit?» Dann hängt der Zehnjährige auf, er muss weitermalen. Bald wird Lena, die Haushälterin, zum Abendessen eine Rösti auftischen. Danach muss Florin noch Schlagzeug üben und mit seinem Vater Mathematik büffeln.
Am Tisch im Wiener Gourmet-Zelt herrscht raue Kumpelhaftigkeit. Einer aus der Runde schenkt Grunder Wein nach. Ein Blondinenwitz bringt die Männer zum Lachen. Ursula Grunder, blond, zögert einen Augenblick. Dann lacht auch sie. Die 49-jährige Managerin hat ein Gesicht, in dem es dauernd lächelt. Auch nach beinahe 20 Stunden auf den Beinen.
Rückblende: Gleicher Tag, Viertel nach fünf am Morgen, in Jona: Der Mond erleuchtet alles, den Rebberg, die gestutzten Hecken, das Reihenhaus im englischen Cottagestil. Im Flur stehen Reisekoffer, Handtasche und ein Paar Schuhe mit hohen Absätzen bereit. Ursula Grunder sperrt den winselnden Hund weg. Trotz dem strengen Hosenanzug strahlt sie etwas Mädchenhaftes aus, wie sie in Socken über die Terrakottafliesen tapst, lautlos, um den Kleinen nicht zu wecken.
Abschiedstränen? - «Quatsch!»
«Ich kann auch ganz anders», sagt Grunder. Heute muss sie in Wien mit den Kollegen von Siemens Österreich ein überzeugendes Wort reden. «Die müssen neue Prozessabläufe einführen und umsetzen.» Sie reist als eine Art Delegierte des Zuger Stammhauses, dem in bestimmten Geschäftsbereichen sämtliche Siemens-Niederlassungen unterstellt sind. In Zug entwickelt Grunder Strategien - die sie weltweit durchsetzen muss.
Jürg Grunder, der Ehemann, kommt die Treppe herunter. Wäre die Presse nicht im Haus, würde er noch im Bett liegen, sagt er und streicht sich verschlafen über den Schnurrbart. «Hast du das Computerkabel dabei?», fragt er. «Glaub schon», sagt sie, und: «Vergiss nicht, am Abend mit Florin Mathe zu üben. Morgen hat er Prüfung.» Er hilft ihr in den Mantel. «Jetzt muss ich noch mein Taschentuch rausholen, für die Abschiedstränen», sagt er. «Quatsch», lacht sie und stösst ihm den Ellbogen in die Seite. Sie geht durch den Garten zur Garage, dreht sich nicht um. In diesem Moment streift sie das Mädchenhafte ab wie eine alte Haut.
Ursula Grunders Kunst ist der schnelle, kompromisslose Rollenwechsel. Kein Zaudern. Kein schlechtes Gewissen. Ohne diese Fähigkeit könnte sie nicht überleben in einem Beruf, der sie laufend mit fremden Menschen, Orten, Kulturen zusammenbringt. Sie muss schnell reagieren. Sie sagt: «Ich kann es mir nicht leisten, in solchen Situationen gedanklich irgendwo anders zu sein.» Grunder gehört zur Transitgemeinde, zu den Menschen, die auf Durchreise sind, ständig unterwegs zwischen Ländern, zwischen Leben: jenem zu Hause, im Kreis der Familie. Und jenem in Flughäfen, Bahnhöfen, Hotelzimmern - Orte der globalisierten Arbeitswelt, Transitzonen.
Sie ist eines der unzähligen Gesichter hinter dem Wort Berufsmobilität. Immer mehr Unternehmen produzieren global, Tendenz steil ansteigend. Die Verlagerung ins Ausland erfordert ständige Präsenz vor Ort. Bis vor wenigen Jahren waren zwei Reisen pro Woche für Grunder normal. Inzwischen reist sie weniger, vielleicht zwei- bis dreimal im Monat. «Mobilität gehört zur Karriere», sagt sie.
Im teuren Auto sitzt man hoch und fühlt sich wie auf einem Thron. Von hier oben wirkt die Umwelt überschaulich. Der Lärm des Motors und die Strassengeräusche dringen nur gedämpft ins Innere; wie auf einem Teppich gleitet man Richtung Zürich-Flughafen. Grunder gähnt. Ausdruckslos blickt sie den Rücklichtern der vor ihr fahrenden Autos hinterher. Gesten und Mimik braucht es nicht. Die Managerin wirkt auch so überzeugt von dem, was sie sagt. «Die Globalisierung ist eine Herausforderung, die ich gerne annehme. Sie macht mir nicht Angst. Wir alle stecken mittendrin, müssen flexibler und mobiler werden. Wer es wirklich will, schafft das auch.»
Ursula Grunder ist die Ausnahme. Die Mehrheit der Europäer hat Angst vor der Globalisierung, belegen zahlreiche Studien. Permanent verfügbar, leistungsbereit und am besten ungebunden - so lautet der Steckbrief des mobilen Subjekts. Der Preis für diese Lebensform ist hoch: Zeitmangel, sozialer Kontaktverlust, finanzielle Probleme, Entfremdung vom Partner und von der Familie.
Schokolade für die Wiener
Ihr gefalle die Herausforderung, ein globales Geschäft zu betreuen. Sie sei privilegiert, sagt Grunder. «Vielleicht spüre ich den Druck der Globalisierung nicht, weil ich all dies aus freien Stücken mache.» Sie könne jederzeit aufhören, ihre Familie sei nicht auf ihr Einkommen angewiesen. Grunder schaut, als fürchte sie, man könnte sie falsch verstehen. Sie will nicht dastehen als jemand, der selbstherrlich und wirklichkeitsfern andere verurteilt, nur weil die mit dem rasanten Tempo der Globalisierung nicht Schritt halten können.
Auf dem Flughafen Zürich schlängelt sich Grunder durch die Menschenmasse. Immer wieder weicht die Managerin den Vorbeihastenden aus. Ihre Wangen sind gerötet. Das Handy hat sie die ganze Zeit am Ohr. Sie telefoniert mit ihrer Assistentin, gibt Anweisungen. Gleichzeitig fliegt ihr Blick suchend über die Köpfe. Dann erkennt sie ihre beiden Mitarbeiter, winkt ihnen zu.
Die Transitgemeinde hat ihr eigenes Aufwärmritual: Man erzählt sich Anekdoten über die Kuriositäten fremder Länder oder über das Warten auf Flughäfen. Ursula Grunder beginnt mit der Dusche in einem Dubliner Hotel: «Die war so komisch gebaut. Ich stand davor und begriff einfach nicht, wie die funktioniert.» Die Kollegen verdrehen lachend die Augen. Einem fällt das «Ding» in Dubai ein, das er nicht einmal als Dusche erkannt habe. «Obwohl es hundertprozentig eine war», wie er versichert. Jeder und jede kann mitreden. Das ist das Gute an diesen Geschichten. Sie sind der gemeinsame Nenner in der globalisierten Arbeitswelt.
Ursula Grunder kauft im Dutyfreeshop Schokolade für die Sekretärinnen in Wien, «dafür, dass sie die Sitzung vorbereitet haben», sagt sie lächelnd. Sie hat ein schönes Lächeln. Wie weiches Licht legt es sich über ihr Gesicht. Schaut man sie an, hat man das Gefühl, mit dem Blick keinen Halt zu finden.
«So etwas macht mich rasend»
Die Mitarbeiter folgen ihr auf den langen Flughafengängen wie zwei Schatten. Einer berichtet von einer Sitzung am Tag zuvor. Ihre Fragen kommen im Stakkato-Takt. Dann sitzt sie im Flugzeug, schliesst die Augen und seufzt tief, die Schultern sacken nach vorn. Grunder wirkt müde. Dabei wartet sie nur. Sobald der Start vorbei ist, packt sie ihren Laptop aus und klickt sich durch ihre Power-Point-Präsentation.
Grunder braucht die Hektik. Und die Weite und das Gefühl, etwas bewegen zu können. Sie erzählt eine Episode aus dem Dorfladen. Das war kurz vor Ende ihrer Babypause. Lange her, aber irgendwie typisch für sie. Sie wollte nur Brot einkaufen. Vor dem Eingang war die blöde Stufe, zu hoch für den Kinderwagen. Sie ging hinein und machte einen Verbesserungsvorschlag. Die Stufe ist heute noch da. «So etwas macht mich rasend.» Ihr Mann sagte damals nur: «Wird Zeit, dass du wieder Berge versetzen kannst.»
Zwischen Kollegialität und Autorität
Während der Fahrt vom Wiener Flughafen zum Siemens-Gebäude redet der ältere der beiden Mitarbeiter wie einer vom Privatradio: schnell, begeistert, laut, ohne Punkt und Komma. Ursula Grunder antwortet knapp, blickt aus dem Fenster - die Arme verschränkt.
Die Sitzung mit Siemens Österreich ist schnell erzählt, weil die Österreicher immer dasselbe Stück spielen, in unterschiedlichen Variationen. Es geht so: Die Österreicher winden sich, fallen Ursula Grunder ständig ins Wort: «Das stimmt doch nicht, was du sagst.» Oder: «Wie soll denn das gehen?» Charmant, die Hände in den Hosentaschen, augenzwinkernd widersprechen sie, glatt und wendig wie junge Aale. Häufig schauen sie dabei Grunders älteren Mitarbeiter an. Sie nimmt es hin, ohne mit der Wimper zu zucken, erhebt nie die Stimme. Sie lässt immer alle ausreden, sagt wenig. Zeitweise wirkt sie wie eine Aussenseiterin. Hilflos ist sie, denkt man als Zuschauer zuerst. Mit der Zeit begreift man, dass sie sich auf einer Gratwanderung zwischen Kollegialität und Autorität befindet und dass ihr diese Wanderung gelingen wird. «Das ist der richtige Weg, und das muss verstanden werden», sagt sie am Schluss des Stücks. Acht Stunden dauert die Sitzung. Unter Ursula Grunders Augen liegen tiefe Schatten.
Dann folgen das Essen im Gourmet-Zelt im Wiener Prater, der viele Wein, die Aufgekratztheit der Kollegen, die Blondinenwitze - und Grunders Dauerlächeln, in das sie sich hüllt wie in einen Schutzanzug.
Einer, der sie ohne Rüstung kennt, ist Jürg Grunder, ihr Mann. Seit 31 Jahren sind die beiden ein Paar. Wäre ihre Beziehung ein Baum, dann wäre es ein alter Baum, hoch gewachsen und majestätisch, sagt der Agrarwissenschaftler und Hochschuldozent. Das grenzenlose Vertrauen seien die Wurzeln. Die Überzeugung, dem Partner alles zu gönnen, was ihm gut tut, sei der Stamm. Aus dem Willen, den Partner in seiner Entwicklung voll und ganz zu unterstützen, seien die Äste gemacht. «Nur so funktioniert es», sagt Jürg Grunder. Die Blätter fehlen, denkt man.
Ursula Grunder hört auch dann nicht auf, freundlich zu lächeln, wenn sie an diesem Abend endlich im Hotelzimmer ankommt und die Journalistin sie bittet, noch einige Fragen zu beantworten. Inzwischen ist es ein Uhr nachts. Die Managerin offeriert Wasser aus der Minibar, sagt: «Das war ein ganz normaler Tag für mich, reine Routine, nicht übermässig anstrengend.» Die Arme hängen schlaff hinunter, als sei nur noch das Gesicht wach.
«Heimweh? Geht so.»
Am nächsten Morgen der Rückflug nach Zürich. Alles wiederholt sich, nur in umgekehrter Richtung. Statt des Mondes steht die Sonne am Himmel. Es ist Mittag, als Ursula Grunder die Haustür in Jona wieder öffnet - 30 Stunden sind seit ihrem Abschied vergangen. Rockmusik dröhnt durch das Wohnzimmer, Qualm überall. Florin hat gekocht, Spaghetti Carbonara. Der Speck ist ihm verbrannt. Kurz umarmt er sie, dann rennt er wieder in die Küche zurück. Die Fragen der Journalistin interessieren den Zehnjährigen nicht. Vielleicht, weil er nicht versteht, was das soll. «Heimweh nach meiner Mutter? Geht so.» Dann ein Schulterzucken: «Sicher haben wir genug Zeit zusammen. Jedes Wochenende und mehr. Dann lauf ich mit ihr und dem Hund Kimi über den Rebberg.»
Ursula Grunder streift die Schuhe mit den hohen Absätzen ab. In Socken rutscht sie über die Fliesen zur Terrassentür und öffnet sie weit. Ein Labyrinth aus aneinander gereihten, noch kahlen Rosenstöcken überzieht den Garten. 80 verschiedene Arten, um die sie sich am Nachmittag kümmern wird, nachdem sie das Meeting in Wien aufgearbeitet hat.