Baustellen: Risiko auf Schritt und Tritt
Bauarbeiter leben gefährlich: Fast jeder vierte verunglückt im Laufe eines Jahres – und nur knapp 60 Prozent erreichen das Rentenalter ohne Invalidität. Häufigste Ursachen für diese Unfallflut sind schlechte Ausrüstung, Fahrlässigkeit und Zeitdruck.
Veröffentlicht am 6. Januar 2002 - 00:00 Uhr
Ein eisiger Freitagmorgen auf dem ABB-Areal in Baden. Der Betrieb auf der Grossbaustelle «Power Tower», wo normalerweise bis zu 170 Leute im Zweischichtenbetrieb arbeiten, ist bei 12 Grad minus auf das Allernötigste reduziert. Den Arbeitern auf dem Dach pfeift eine frostige Bise um die Ohren.
Pius Wicki, Experte für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz bei der Suva-Agentur Aarau, macht sich mit Bauführer Oliver Seng auf den Weg zur Baustelleninspektion. Die zwei kommen keine 50 Meter weit, da stellt der Suva-Inspektor schon den ersten Mangel fest: Vor einer Grube, in der bis vor kurzem ein Gerüst stand, fehlt die Abschrankung. Wicki hat seine Beanstandung kaum ausgesprochen, als ein Elektriker vorbeikommt und einen Rüffel erhält, weil der Helm auf seinem Kopf fehlt.
«Der Helm ist mehr als ein Schutz vor herunterfallenden Gegenständen», erklärt der Suva-Experte. «Ob man ihn trägt oder nicht, zeigt, wie viel Bedeutung man dem Thema Sicherheit generell beimisst.» Zwar habe sich, so Wicki, die Disziplin beim Helmtragen in den letzten Jahren massiv verbessert. «Anders sieht es hingegen bei Subunternehmern aus. Vor allem Temporärarbeiter kommen häufig unzureichend ausgerüstet auf die Baustelle.»
Pius Wicki macht seinen Job bereits seit 15 Jahren. In dieser Zeit hat sich in Sachen Arbeitssicherheit auf dem Bau viel getan. Vorbei die Zeiten, als die Maurer immer eine Bierflasche in Griffweite hatten. Alkohol bei der Arbeit ist hier strengstens untersagt. Und auch wacklige Gerüste, auf denen man die Arbeiter früher herumklettern sah, sind längst Vergangenheit.
Die 1996 erlassenen und seit Anfang 2000 geltenden Richtlinien haben dazu geführt, dass sich Bauherren und -firmen verstärkt mit dem Thema Sicherheit auseinander setzen müssen. Jeder Betrieb, der mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigt und bei dem die Prämien für die Unfallversicherung über ein halbes Prozent der Lohnsumme ausmachen, muss heute ein Sicherheitskonzept erstellen.
Vor allem in Grossunternehmen hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Versicherungsprämien ein bedeutender Kostenfaktor sind. Wer weniger Geld an die Suva zahlen muss, kann günstiger offerieren. Damit nicht genug: Weniger Unfälle bedeuten auch weniger Produktionsausfälle, Sachschäden und Organisationsaufwand.
Der höhere Stellenwert der Sicherheit schlägt sich in der Unfallstatistik nieder. Die Zahl der Unfälle pro 1000 Versicherte im Bauhauptgewerbe ging in den letzten zehn Jahren um 25 Prozent zurück. Gleichwohl erleidet auch heute noch jeder vierte Beschäftigte im Laufe eines Jahres einen Unfall. Pro Vollbeschäftigten verzeichnen die Unfallversicherer Kosten von über 1500 Franken jährlich – ohne Nichtberufsunfälle. Volkswirtschaftliche Kosten pro Jahr: rund 600 Millionen Franken.
Der häufigste Unfall auf dem Bau ist der Sturz – nicht vom Gerüst, nicht in ein ungesichertes Loch, sondern auf gleicher Ebene. «Die Auslöser sind Stolperfallen wie herumliegende Bretter, Latten, Kabel und Ähnliches», sagt Suva-Experte Wicki. Und davon gibts auch auf der «Power Tower»-Baustelle jede Menge. Dies obwohl die Anlage einen vorbildlich aufgeräumten Eindruck macht und Sicherheit hier generell gross geschrieben wird. Die Grossbaustelle wird von einem externen Sicherheitsberater betreut. Dieser begutachtet die Baustelle regelmässig, liefert der Bauleitung Berichte ab und schlägt Massnahmen vor, um Mängel zu beheben und die Sicherheit zu erhöhen.
Trotzdem ortet der Suva-Inspektor eine ganze Reihe von Schwachstellen. Hier eine fehlende Abschrankung, dort einen ungesicherten Liftschacht. In einem der oberen Stockwerke hat sich der Kranführer eine halsbrecherische Brücke gebastelt, damit er bis zur Kabine nicht so weit klettern muss. Eine veritable Standpauke gibts für einen Arbeiter, der mit einer Schaltafel das Treppenhaus heraufkommt. Weil das Geländer noch fehlt, ist der Zugang zum Treppenhaus korrekt abgesperrt. Doch weils draussen bitterkalt ist, hat der Mann die Abschrankung kurzerhand abmontiert und den wärmeren Aufstieg gewählt. Ein Ausrutscher, und der Arbeiter würde zehn Meter in die Tiefe stürzen.
«Oft ist es die Bequemlichkeit der Leute, die sie nachlässig macht», sagt Bauführer Oliver Seng. «Da fehlt uns einfach das Druckmittel. Wenn man alle Bestimmungen durchsetzen wollte, bräuchte man eine Baupolizei.» Dazu kommt, dass eine Grossbaustelle wie der «Power Tower», in dem dereinst 1500 Menschen arbeiten werden, eine recht dynamische Sache ist. Die täglich ändernden Verhältnisse machen die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften nicht eben einfacher.
Temporäre sind Sorgenkinder
Weniger die Bequemlichkeit der Arbeiter als vielmehr den zunehmenden Zeitdruck sieht Hansueli Scheidegger, Zentralsekretär der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), als Ursache für den Verstoss gegen Sicherheitsvorschriften und damit auch für Unfälle. «Weil der Terminplan immer enger gesteckt wird, müssen die Leute auch bei kritischem Wetter arbeiten. Und in der allgemeinen Hektik nehmen sie viel eher Risiken in Kauf.» Die vielen Unfälle gehen den Bauleuten bös an die Gesundheit: Nur 58 Prozent aller Bauarbeiter erreichen das Rentenalter ohne Invalidität.
Neben Tempo wird den Arbeitnehmern ein Höchstmass an Flexibilität abverlangt. Hansueli Scheidegger kritisiert: «Die Arbeitswege werden immer länger. Die Leute legen bis zur Baustelle oft viele Kilometer in Kleinbussen zurück. Es ist schon zu Unfällen gekommen, weil der Fahrer übermüdet war.»
Die meisten Sorgen bereiten sowohl der Suva wie auch den Gewerkschaften die oft schlecht ausgebildeten und unzulänglich ausgerüsteten Arbeiter, die von Temporärfirmen geschickt werden. Meistens sind sie nur dürftig über spezielle Gefahren und Notfalleinrichtungen auf der Baustelle informiert. Gewerkschafter Scheidegger: «Bei den Temporärarbeitern ist die Unfallrate doppelt so hoch. Im Klartext: Jeder Zweite verunfallt im Laufe eines Jahres.»
Auf dem Dach des «Power Tower» erspäht Pius Wicki erneut einen Arbeiter ohne Helm. Der junge Mann ist im Auftrag einer Basler Temporärfirma hier. Auf die Frage des Suva-Manns, wieso er keinen Kopfschutz trage, zieht er ein altmodisches Modell aus der Werkzeugkiste und meint: «Ich muss mich dauernd bücken. Dann fällt das blöde Ding runter. Da trage ich lieber eine Kappe – bei so einer Kälte.»
Temporärunternehmen sind gesetzlich verpflichtet, ihre Beschäftigten mit der vorgeschriebenen Schutzausrüstung auf die Baustellen zu schicken. Die Realität sieht freilich anders aus. Und realistisch sollte man «bei aller Sicherheit bitte sehr doch bleiben», findet der Polier der Basler Sanitärfirma, die den Temporärarbeiter ausgeliehen hat. «Wenn ich bei einer Temporärbude anrufe und für den nächsten Tag sechs Leute mit Schutzausrüstung und allem Drum und Dran bestelle, heisst es: ‹Kannst du haben, aber frühestens übermorgen.› Und dann nimmt man eben die halbwegs ausgerüsteten Büezer.»
Sicherheit ist für die Suva vor allem eine Führungsaufgabe. Deshalb hat sie das Konzept ihres Sicherheitswettbewerbs geändert. Neu wird nicht mehr ein vorbildlicher Polier zum «Ritter der Baustelle» gekürt. Stattdessen werden Unternehmen ausgezeichnet, die Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz konsequent umsetzen. Die Preisverleihung «Vorbildliche Bauunternehmung» findet am 23. Januar bei der Swissbau in Basel statt.