Matteo delle Cave strahlt wie ein Fünfjähriger vor dem Christbaum - ein Paket aus der Schweiz, sein erstes, seit er als Kadett auf dem Stückgutfrachter «SCL Basilea» angeheuert hat. Genussvoll dreht und wendet er die Schachtel, packt mit verhaltener Gier Gummibärchen und Chips aus. Und den Brief von seiner in der Heimat zurückgelassenen Freundin. Während er die Handschrift in Pink Zeile für Zeile liest, wird es immer stiller in der Kajüte, wird sein Heimweh fast greifbar.

Zweieinhalb Monate braucht die «Basilea» von Antwerpen, ihrem derzeitigen Haupthafen, bis ins südliche Angola und wieder zurück. Zumindest will es so der Fahrplan. Meist aber kommt sie später als geplant. Auch diesmal. Mit knapp zwei Wochen Verzug - im Kongo hatten die Hafenarbeiter gestreikt - läuft das Schweizer 140-Meter-Schiff dann endlich am Pier 338 der belgischen Hafenstadt ein.

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Seeleute montieren den «Leichenfänger».



Majestätisch und ganz in Rot taucht der Frachter gegen neun Uhr morgens plötzlich aus dem diesigen Grau auf, die beiden Deckkräne wie Galgen in den Himmel gereckt, einen riesigen Stapel Container und etliche Gebrauchtwagen für Afrika an Deck. Es dauert eine Stunde, bis er in den engen Platz eingewiesen ist und die Gangway sowie der Leichenfänger - so nennen die Seeleute das Sicherheitsnetz - montiert sind. Backbord lauert schon das Bunkerschiff. Es wird den ganzen Tag bis in den späten Abend hinein Öl in die Tanks des Ozeanriesen pumpen. 900 Tonnen - das reicht für 30 Tage Fahrt.

Der Schiffshändler bringt die vorbestellten Lebensmittel, Sauerstoffflaschen, neue Schwimmwesten, Schrauben, Muttern, Taue, Trossen, Rettungsringe, Toilettenpapier, Waschmittel. Eben alles, was auf der letzten Fahrt zur Neige oder verloren ging. Mit der Post findet auch Matteos lang ersehntes Päckli zu seinem Adressaten.

Seit 65 Jahren auf hoher See



Es ist heiss in der acht Quadratmeter kleinen Kabine, die seit viereinhalb Monaten Matteos Zuhause ist. Der Laptop auf dem winzigen Schreibtisch ist von Aschenbecher, Sprite-Flasche, Heftli und sonstigem Kleinkram umzingelt. Ein geschnitztes Krokodil schaut von einem Regal auf die Szene herab. Plötzlich schrillt das Kabinentelefon. «Yes, cadet here», meldet sich Matteo. «Okay, I’m coming.» Hängt den Hörer auf und meint mit einem Achselzucken: «Der Captain. Ich muss wieder.»

Die Zeit im Hafen ist knapp bemessen und teuer. Stückgutfrachter wie die «Basilea» werden pro Tag für 12’000 bis 16’000 Franken verchartert, alles inklusive, ausser dem Treibstoff. So auch das Schiff der Schweizer Reederei Enzian Ship Management. Zwar ist sein Heimathafen Basel, doch wie die meisten der derzeit immatrikulierten 26 Schweizer Hochseeschiffe ist auch die «Basilea» an ein ausländisches Unternehmen vermietet.

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Kein Leichtgewicht: 12’500 Tonnen Fracht kann die «Basilea» aufnehmen. Allein der Deckel der Ladeluke wiegt 40 Tonnen.



Seit 65 Jahren ist das Binnenland Schweiz eine Seefahrernation. Am 9. April 1941 wurde die schweizerische Handelsflotte ins Leben gerufen; sie sollte im Notfall die Selbstversorgung gewährleisten. Daran wollte der Bundesrat auch nach Kriegsende festhalten. Da Reeder des Binnenlandes einen erheblichen Standortnachteil haben und die Konkurrenz grösstenteils massiv subventioniert ist, werden den Schifffahrtsgesellschaften Bundesbürgschaften zugesprochen, zuletzt 2002 insgesamt 600 Millionen Franken für die nächsten zehn Jahre. Dafür könnte der Bundesrat im Konfliktfall jederzeit unter Schweizer Flagge fahrende Seeschiffe für den eigenen Gebrauch requirieren.

Matteo ist der einzige Schweizer der 15-köpfigen Besatzung. Das ist symptomatisch für den Zustand der helvetischen Hochseeflotte: Am Stichtag 31. Dezember 2005 besassen gerade mal 14 der 433 auf eidgenössischen Handelsschiffen angeheuerten Seeleute einen Schweizer Pass. Die meisten Frachter und Tanker fahren mit Personal aus Osteuropa oder Asien. Das ist vor allem billig: Die Monatslöhne bewegen sich um 1700 Franken für einen gelernten Seemann, 2000 für einen Bootsmann oder Koch und 6200 für einen Kapitän. Kadetten wie Matteo delle Cave erhalten 700 Franken - «das Geld geb ich fast vollständig für SMS und Telefonate aus». Immerhin: Toilettenpapier sowie Körper- und eine Handseife werden jedem von der Reederei gestellt. Mineralwasser und Softdrinks muss man selber bezahlen.

Beim Nachwuchs haperts



Schlechte Entlöhnung ist das eine. Hinzu kommt, dass Sozialversicherungen und Pensionskassen in der Handelsmarine, die immerhin 90 Prozent aller weltweiten Güter befördert, ein weitgehend unbekannter Luxus sind. Und Sicherheits- sowie Hygienemängel gehören auf vielen Schiffen zum Alltag. Kaum ein Schweizer ist gewillt, zu diesen Bedingungen einen so entbehrungsreichen, anstrengenden und gefährlichen Job zu machen. So sterben die Schweizer Seeleute nach und nach aus und mit ihnen dereinst wohl auch die Hochseeflotte. Denn um eine Reederei zu führen, braucht es Leute vom Fach, also ehemalige Seemänner und -frauen. Zudem schreibt das Gesetz vor, dass Schweizer Reedereien nicht nur ihren Sitz hierzulande haben, sondern auch mehrheitlich von Schweizer Staatsbürgern beherrscht werden müssen.

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Ein Risikojob: Das Beladen und Entladen erledigen die Hafenarbeiter.



«Wir versuchen, dem allmählichen Sterben der Schweizer Flotte einen Riegel zu schieben, indem wir uns um inländischen Nachwuchs kümmern und die rückständigen Arbeitsbedingungen im kommerziell möglichen Rahmen langsam verbessern», sagt Kapitän Stefan Sip von Enzian Ship Management, die als einzige Schweizer Reederei nicht nur ausländische Kadetten aus Billiglohnländern ausbildet. «Allerdings ist es sehr schwierig, junge Leute zu finden, die sich eignen.» Die Ausfallquote ist hoch, rund die Hälfte der Kadetten bricht vorzeitig ab. Es braucht einen besonderen Charakter, um das Leben auf hoher See auszuhalten, die Monotonie, die Einsamkeit, das Warten. Matteo, den es beim Trampen nach Antwerpen verschlagen hatte, wo ihn die Lust aufs weite Meer überkam, wird vielleicht durchhalten. Er ist familiär vorbelastet: Bereits sein Vater ist einige Jahre zur See gefahren.

«Matteo ist verrückt»



Die Crew der «Basilea» ist multinational: ein Ungar, zwei Polen, sechs Rumänen, drei Litauer, zwei Bulgaren und mittendrin der 22-Jährige aus dem zürcherischen Wald. Bootsmann Marian Rizea, Matteos direkter Vorgesetzter, verdreht die Augen. «Matteo ist verrückt, er sollte besser gleich mit der Seefahrerei aufhören.» Wie die anderen Männer auf dem Schiff kann er nicht verstehen, dass der gelernte Bäcker/Konditor freiwillig eine gut bezahlte, sichere Stelle aufgab, Partnerin, Familie und Freunde verliess, um für einen Bruchteil seines alten Lohnes in dieser monotonen Einsamkeit zu schuften. Fast alle der Besatzung haben Familie, die sie während der langen Monate auf See schmerzlich vermissen. Wie Madonnenbilder hängen in vielen Kabinen Fotos von Frau und Kind, mit Klebstreifen, Reissnägeln oder Stecknadeln an der Wand fixiert. «Ich machs ausschliesslich wegen des Geldes», ist die Antwort auf die Frage nach den Beweggründen für dieses einsame Leben. Seebären-Romantik ist für Landratten.

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Der einzige Schweizer: Matteo delle Cave ist als Kadett mit dabei.



Auch dass man als Matrose viel von der Welt zu sehen bekommt, wollen die Männer so nicht stehen lassen. «Man sieht ja doch nur die Häfen. Und Hafen ist Hafen», meint Marian Cornescu, der Öler, und schiebt sich die Mütze ins Genick. «Manche sind einfach moderner und besser, andere schlechter.» Lissabon, Lobito, Luanda, Cabinda, Matadi, Boma, Abidjan: Namen, die an Abenteuer denken lassen. Doch sogar Matteo, den Neuling, lässt die grosse weite Welt bereits kalt. «Ich bin die letzten zwei Monate nicht einmal von Bord gegangen. Irgendwann hat man es gesehen, die Häfen und so.» Und dennoch: Ans Aufhören denkt kaum einer. Nicht nur wegen des Geldes. «Bin ich auf See, will ich nach Hause. Aber spätestens nach zwei, drei Monaten zieht es mich wieder aufs Schiff», gesteht Alexandr Volkov. Der Zwei-Meter-Hüne schaut schüchtern zu Boden, nestelt mit Händen wie Pranken verlegen an seinem roten Overall. «Zu Hause ist eben alles anders», sagt er, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihm die fremde Welt an Land fast ein wenig Angst einjagt.

An Bord hingegen, diesem freiwilligen Gefängnis auf Zeit, ist alles vertraut, berechenbar. Auf hoher See besteht der Alltag vor allem in Wartungsarbeiten: Streichen, Fetten, Abdichten, Schrubben. Und dann wieder von vorn. Unzählige Trossen, Scharniere, Klappen und Ketten wollen geschmiert sein. Leere Laderäume müssen ausgefegt und sogar neu gestrichen werden, bevor Schüttgut wie Kakaobohnen oder Mehl geladen werden kann. Die gesamte Aussenwand der 140 Meter langen «Basilea» haben Kadett und Bootsmann zu zweit gestrichen. «Das war zwar sehr anstrengend, aber auch lustig. Da der Schiffsrumpf bauchig ist, hatten wir die Farbe überall. Und der Wind tat ein Übriges», erzählt Matteo. Sein Overall und seine Arbeitsschuhe sind stumme Zeugen.

Alle DVDs schon zehnmal gesehen



«Generell eignen sich nur geduldige Männer für diesen Beruf», sagt Kapitän Gyula Lukacs. «Zudem bin ich immer darauf bedacht, die Männer zu beschäftigen. Es ist nicht gut, wenn sie zu viel Zeit zum Nachdenken haben.» Einsamkeit und Langeweile kommen trotzdem auf. Einziges Unterhaltungsgerät an Bord ist ein Fernseher mit DVD. Die Filme - von romantischen Hollywood-Komödien über James Bond bis hin zu einer «Bonanza»-Kollektion und «Der mit dem Wolf tanzt» - haben alle an Bord schon zehnmal gesehen. Notfalls wird eine Scheibe auch ein elftes Mal eingelegt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Flimmerkiste vor den Küsten Afrikas kaum Empfang hat, was von der Crew heuer während der Fussball-WM besonders schmerzlich empfunden wurde.

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Das Leben an Bord ist monoton: Wartungsarbeiten, Essen, Fernsehen, Schlafen. Und dann wieder von vorn.



«Früher durften wir wenigstens Alkohol trinken», ärgert sich Bootsmann Marian Rizea. Doch seit ein Kapitän der Flotte vor drei Monaten im Rausch seinen Frachter vor der englischen Küste auf Grund gesetzt hat, gilt totales Alkoholverbot, selbst bei Landgang. Schliesslich kostet ein Schiff dieser Grösse und Tonnage - die «Basilea» kann 12'500 Tonnen laden - ab Werft zwischen 25 und 31 Millionen Franken. Die Mannschaft kümmerts wenig; ihre Abende sind noch öder geworden. Als in der Werbepause zwischen zwei Halbzeiten eines Fussballspiels eine Bierreklame über den Äther flimmert, geht ein kollektives Stöhnen durch den Raum.

In der Kombüse kocht Schiffskoch Andrej, das unbeliebteste Crew-Mitglied, sein letztes Mittagessen an Bord der «Basilea». Sein Vertrag wurde nicht verlängert. Der 26-jährige Litauer, hochgewachsen, bleich, klatscht einen Schöpflöffel voll Reispampe auf einen Teller, gibt zwei Scheiben eines unidentifizierbaren Fleisches drauf und greift sich den nächsten Teller. Auf dem Tisch in der Messe, dem Esszimmer der Mannschaft, steht einsam eine mit Haushaltfolie abgedeckte Portion der kulinarischen Unzulänglichkeit. Bald wird der Erste Offizier sie mit angewidertem Gesichtsausdruck in die Mikrowelle schieben - Hunger ist der beste Koch.

Knapp vor dem Hungerstreik



Dass Reis auf dem Speiseplan steht, erstaunt niemanden. «Die letzten drei Wochen lang gabs nichts anderes», grummelt Alexandr Volkov, der Hüne. «Und das Schlimmste: Er kennt nur eine einzige Art, Reis zu kochen!» Dass Schmuddel-Smutje Andrej zweieinhalb Monate lang dasselbe Frittieröl verwendete, machte die Sache auch nicht besser. Als schliesslich noch Butter und Milch ausgingen, war die Mannschaft kurz vor der Meuterei oder doch zumindest knapp vor dem Hungerstreik. Nichts ist wichtiger für die Stimmung als gutes und reichliches Essen.

Der neue Koch, der am zweiten Tag an Bord kommt, weiss um die verpflegungstechnische Misere und die diesbezüglich schlechte Laune an Bord. Seine Nervosität ist jedoch unnötig. «Beim letzten Koch habe ich zehn Kilo verloren, bei diesem werde ich wieder zunehmen», wird Bootsmann Marian nach der ersten Mahlzeit, einem satten Kater gleich, schnurren.

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Der neue Koch: Nikolai Semerdzhiev ist zwar nervös, kann aber kochen.



Es ist zwei Uhr nachmittags. Matteo und sein Chef sitzen im zwölf Quadratmeter grossen Mannschaftszimmer, hochtrabend Recreation Room - Erholungsraum - genannt, und rauchen eine kurze Zigarette. In der Ecke flimmert der Fernseher. An der kahlen Wand hängen ungebrauchte Seemannsmützen in verschiedenen Farben. Gestrickt und gespendet von den Frauen der Seemannsmission. Im Lieferumfang inbegriffen: Heiligen-Pamphletchen.

Die Pause der beiden dauert kaum länger als zehn Minuten. Zwischen ihrer Abfahrt in Montrose, Schottland, um zwei Uhr morgens und um halb eins in der nächsten Nacht werden sie nur zwei Stunden Schlaf kriegen - um um halb fünf in der Früh wieder aus dem Bett gerissen zu werden, weil die «Basilea» um 200 Meter verschoben werden muss.

Im Gegensatz zur Fahrt auf See gibt es im Hafen mehr als genug zu tun: Neues Material muss verstaut, kaputtes ersetzt werden. Es gilt, die Alarmsysteme zu checken, auch den hintersten Feuerwehrschlauch zu entrollen und zu prüfen. Im Gang zum Maschinenraum wippt ein kleiner Mann im braunen Overall auf den Zehenspitzen auf und ab. Jeweils oben angekommen, bläst er Zigarettenrauch gegen die Decke. Feueralarm-Test. Zwei Tage lang wird zusätzlich ein Mann von Lloyd’s Register, quasi dem TÜV der Schifffahrt, an Bord sein und alles kontrollieren.

Und natürlich müssen die riesigen Frachträume ent- und beladen werden. Die Fahrt gen Süden wird der Stückgut-Mehrzweckfrachter diesmal mit 4200 Tonnen Chemikalien, 76 Containern, 1800 Tonnen Stahlrohren, 34 Autos, zwei Paletten mit gemischten Bauteilen, 86 Papierrollen, zehn Stahlblechrollen sowie 2200 Tonnen Ballast und Treibstoff antreten.

Der nächste Hafen heisst Lissabon. Vier Tage dauert die Überfahrt. Vier Tage Normalität, geregelter Tagesablauf. Vier Tage streichen, fetten, schrubben. Fernsehen. Essen. Schlafen. Und vier Tage nichts als vertraute Gesichter.

Quelle: Ursula Meisser