«Ig muess öppis wärche»
Samuel Bähler hat keinen Lehrabschluss – und wird sehr geschätzt für seine Gewissenhaftigkeit. Seit neun Jahren arbeitet er in der Fensterfabrik Wenger im Berner Oberland.
Veröffentlicht am 12. April 2005 - 11:07 Uhr
«Ich bin eher en Stille», sagt Samuel Bähler. «Aber ich bin genau. Was i mach, mach i rächt.» Seine Hände rücken ein Papier auf dem Tisch zurecht. Der 41-Jährige spricht mit Bedacht, sein Blick ist offen: «Auto fahren kann ich nicht. Aber sonst kann ich alles. Eigentlich.»
Seit 1995 arbeitet Bähler bei einem Fensterhersteller in Blumenstein im Berner Oberland als Hilfskraft mit verschiedensten Geräten: Stechbeutel, Pressluftschleifer, Automatenschraubenzieher – Bähler schraubt Drehanker auf, bostitcht Gummiprofile auf Glasleisten, schleift Aluwinkel. «Sami bringt gute Laune in den Betrieb», sagt Jürg, sein liebster Kollege. «Er ist da, wenn man ihn braucht», sagt der Werkstattchef, «auch in Notfällen, an Feiertagen.» Keinen Zugang hat Bähler zur Wagenfräse. Bähler weiss: «Das wäre zu gefährlich. Aber ig muess öppis wärche.»
Bereits als Kind hatte Bähler Epilepsieanfälle. Eine neue Medikamentenkombination verschont ihn heute vor «em Schlotteri», dieser grossen Unruhe in den Gliedern, den plötzlichen Absenzen. Geblieben ist eine gewisse Vergesslichkeit. Bähler ist froh, dass ihn die Kollegen nicht dauernd daran erinnern. «Ich brauche Menschen, die Verständnis haben. Manchmal dauerts halt, bis ich etwas begreife. Manchmal muss ich dreimal fragen: ‹Was genau hesch gmeint?›»
Samuel Bähler hats beruflich trotzdem «zu etwas gebracht», ist «Schreiner mit Attest»: Er absolvierte eine zweijährige Ausbildung. Danach arbeitete er ein halbes Jahr auf dem Bau; «Pickel und Schaufel lagen mir nicht.
Ig ha lieber fineri Sache.» Die Sägerei, in die er wechselte, schloss nach sechs Jahren; die Storenbaufirma, die danach folgte, ist mittlerweile verkauft.
Die A.+E. Wenger AG ist der grösste Fensterhersteller im Berner Oberland und beschäftigt rund 100 Mitarbeiter. Geleitet wird der Betrieb von den beiden Brüdern Fredy und Markus Wenger und deren Cousin Kurt. Markus Wenger: «Es ist mir ein Anliegen, auch leistungsschwächeren Menschen Arbeit zu ermöglichen.»
Leistungsschwäche kennt der Betriebsleiter aus persönlicher Erfahrung: «Auch ich bin aus der Sekundarschule geflogen: In allen sprachlichen Fächern war ich ungenügend.» Sein Berufsberater erklärte ihm, für den Traumberuf Radioelektriker «reichten die geistigen Fähigkeiten nicht aus». Schmunzelnd gesteht er, 15 Jahre gebraucht zu haben, um Englisch zu lernen. «Meine Fähigkeiten liegen klar im rechnerischen Bereich.» Die gut 100 Arbeitenden sind auf 95 Arbeitsstellen verteilt. Der Umsatz der A.+E. Wenger AG stieg in den letzten zehn Jahren um 300 Prozent an; 2004 betrug er um 16 Millionen Franken.
Markus Wenger veranschaulicht seine Arbeitgeberphilosophie anhand der Fabel von der Tierschule. Dort hätte der Hase fliegen, der Vogel schwimmen lernen sollen. «Doch das Unterfangen stürzte alle ins Unglück», sagt Wenger ernst: «Klassenbeste wurde die Qualle. Sie brach sich am wenigsten Knochen.»
«Ig bi wohl hie», sagt Samuel Bähler. Seine Leidenschaft aber ist die Musik: Bähler spielt Trompete, «Märsche, Polkas, tschechische Musik», und zweimal die Woche wird geprobt in der Blaskapelle Längenbühl und in der Musikkapelle Wattenwil: «Ein-mal traten wir sogar in Deutschland auf, in Donau Eschingen, vor über tausend Leuten.» Das schönste Erlebnis aber war die spontane Kapelle, die sich zum 70-Jahr-Jubiläum der Firma formierte: «So etwas habe ich noch nie erlebt, bei der Büez, so all mitenand. Das werde ich nie vergessen.»
Das Schreinern pflegt Bähler auch zu Hause. Sein Pflegevater war Zimmermann, und Sami hat Zugang zu seiner Werkstatt. Kürzlich kaufte er sich ein Oberfräsergerät für 500 Franken. Beim Zimmern des Wohnzimmertischs gab ihm Kollege Jürg «ein paar entscheidende Tipps».
Nur manchmal plagen ihn «ein bisschen Minderwertigkeitsgefühle. Dieses Gefühl, dass alle andern besser sind. Die Gedanken wird man halt nur schwer los.»