«Wenn man den Leuten nicht die Wurst vor die Nase hält, machen sie gar nichts.» Diesen Satz hörte Hans Peter Sigrist oft. Als langjähriges Mitglied des mittleren Swisscom-Kaders erhielt er aus der Direktionsetage jährlich die Anweisung, die Leistung seiner Untergebenen einzuschätzen – als Grundlage für den variablen Lohnanteil. «Dieses Menschenbild hat mich je länger, je mehr gestört», so der 58-Jährige. «Die Leute sind doch nicht einfach faul, sondern höchstens demotiviert.»

Laut Sigrist führte das Leistungsbeurteilungssystem dazu, dass sich die Mitarbeiter «lernfähig» zeigen und nur jene Kriterien künstlich in die Höhe treiben, die für den Leistungslohn zählen. Alle übrigen Arbeiten blieben auf der Strecke.

Gleichwohl setzen zunehmend mehr Unternehmen auf leistungsbezogene Gehälter – eine Art modernisierter Akkordlohn, wie er bisher nur für Fliessbandarbeit typisch war: Die Vorgesetzten beurteilen jährlich, ob die Angestellten bestimmte quantitative und qualitative Leistungsvorgaben erfüllt haben; entsprechend steigt oder sinkt der Lohn.

Die Arbeitgeber erhoffen sich von diesem System eine Motivationsspritze. Unterstützung erhalten sie dabei etwa durch Volkswirtschaftsprofessorin Regina Riphahn, die bis im Frühling an der Universität Basel tätig war und heute im deutschen Nürnberg arbeitet. In einer drei Jahre dauernden Untersuchung zu einer grossen Schweizer Firma zeigte sich: In jenen Abteilungen, die Bonuszahlungen für überdurchschnittliche Leistungen ausschütteten, gab es weniger Absenztage, und es wurden rund zehn Prozent mehr freiwillige Überstunden geleistet. «Die Zahl der Überstunden ist ein plausibler Indikator für Motivation und Einsatz», so Riphahn.

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«Ausgepresst wie eine Zitrone»
Schon möglich, doch Kritiker interpretieren die Forschungsergebnisse anders: «Menschen, die unter Lohndruck stehen, werden ausgepresst wie eine Zitrone», glaubt Johannes Czwalina. Der Unternehmensberater und Buchautor hat Jahr für Jahr mehr Anfragen von Leuten, die wegen Erschöpfungszuständen am Arbeitsplatz ein Burn-out erleiden. Der Bewertungswahn und der Verdrängungsmarkt unter den Mitarbeitern förderten Mobbing. Letztlich führe der übertriebene Leistungsdruck zu einem volkswirtschaftlichen Schaden, so Czwalina. «Unsere Wirtschaft wird magersüchtig, weil immer weniger Menschen immer mehr leisten müssen.»

«Leistung kann man kaum richtig messen», sagt Bruno S. Frey, Volkswirtschaftsprofessor an der Uni Zürich (siehe Nebenartikel «Lohnpolitik: Leistungslohn entspringt einem kleinkarierten Denken»). Wenn ein Unternehmen den Leistungslohn einführe, nehme es in Kauf, dass sich ein Grossteil der Beschäftigten ungerecht behandelt fühle; die Angestellten würden demotiviert, und ihre Leistung sinke insgesamt eher, als dass sie steige. «Sehr oft basiert die Beurteilung auf einer Scheinobjektivität», beobachtet auch Blaise Kropf, Sekretär der Gewerkschaft VPOD des Kantons Bern.

Beispiel gefällig? Nachdem die Stadt Bern im Jahr 2002 ein neues Personalbeurteilungs- und Lohnsystem eingeführt hatte, zeigte die Auswertung unerklärliche Unterschiede: In der Präsidialabteilung hatten angeblich 56 Prozent der Beschäftigten ihre Vorgaben «übertroffen» – im Bereich Planung, Verkehr und Tiefbau nur 22 Prozent. Ebenso auffällig: Je höher ein Mitarbeiter in der Hierarchie stand, desto besser wurde er beurteilt. Auf Kaderstufe 1 erhielten 64 Prozent der Angestellten die Bewertung «übertroffen», auf der untersten Stufe waren es gerade mal 18 Prozent.

«Dieses Resultat zeigt, dass wir das Ziel einer gesamtstädtisch gleich strengen, fairen Leistungsbeurteilung noch nicht erreicht haben», sagt Bruno Müller, Bereichsleiter Personalentwicklung der Stadt Bern. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Auswertung für die Beschäftigten des Kantons Bern. Während bei den Angestellten mit den höchsten Löhnen jeder Dritte Bestnoten bekam, war es bei den Tieflöhnen lediglich einer von 83 Mitarbeitern.

Niemand ist x-mal klüger
«Bei individuellen Lohnerhöhungen schanzen sich die Bessergestellten tendenziell mehr Lohn zu», kritisiert Daniel Oesch, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. In einer Studie kommt er zum Schluss: «Die Betonung der individuellen Leistung ist eine Ideologie, mit der wachsende Lohnunterschiede zwischen Management und Normalverdienern gerechtfertigt werden sollen.»

Lohnschere 2004: Wer hat, dem wird gegeben!
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Die Lohnschere öffnet sich denn auch immer weiter: Während die untergeordneten Arbeitnehmer sogar um den Teuerungsausgleich kämpfen mussten, langte die Chefetage kräftig zu. Dies belegt der Gewerkschaftsdachverband TravailSuisse in einer Studie. Bei 21 von 25 untersuchten Firmen wuchsen die Unterschiede zwischen den höchsten und den tiefsten Löhnen: am stärksten bei der Chemiefirma Roche, gefolgt vom Konkurrenten Lonza und vom Industriekonzern Georg Fischer. Beim Spitzenreiter UBS ist der niedrigste Lohn 230-mal tiefer als der Durchschnittslohn eines Konzernleitungsmitglieds (siehe «Lohnschere 2004: Wer hat, dem wird gegeben»).


«Das Problem des Leistungslohns besteht darin, dass unter dem Begriff Leistung ganz unterschiedliche Dinge verstanden werden können», weiss Ulrich Thielemann, Wirtschaftsethiker an der Universität St. Gallen. Grundsätzlich müsste man unterscheiden zwischen dem «Output» einer Leistung (Wirkung einer Arbeit) und dem «Input» (Fähigkeiten und Einsatzfreude eines Mitarbeiters). Doch gerade beim zweiten Punkt gibt es physische Grenzen: Niemand kann x-mal cleverer sein und zehnmal mehr Einsatz zeigen als ein anderer. Selbst eine noch so gute Ausbildung oder ein noch so grosses Talent können nichts daran ändern, dass den Leistungsdifferenzen Grenzen gesetzt sind. Thielemann fordert deshalb, dass selbst die leistungsmässig begründeten Salärunterschiede zu begrenzen sind.

Die Realität sieht anders aus. Und dennoch ist das Prinzip des Leistungslohns erstaunlich beliebt. So zeigte eine repräsentative Umfrage der Fachhochschule Solothurn: Angestellte, die Leistungslöhne erhalten, beurteilen das System sogar leicht besser als jene, bei denen der Leistungsfaktor nicht zählt. 56 Prozent der Befragten, die nach Leistung bezahlt werden, sind damit zufrieden. Mitarbeiter mit anderen Lohnsystemen zeigen sich hingegen gespalten: 45 Prozent würden die Einführung von Leistungslohn begrüssen – 46 Prozent sind dagegen.

Verstärktes Konkurrenzdenken
«Kein Wunder» ist dieses Ergebnis für Thomas Schwarb, Fachhochschuldozent für Personalmanagement: «Grundsätzlich finden es fast alle gerecht, wenn sie gemäss ihrer persönlichen Leistung entlöhnt werden, denn kaum einer beurteilt sich selbst als schlecht. Erst die konkrete Umsetzung wird dann häufig als unfair empfunden.» Grund: Bei vielen Beschäftigten zerschlägt sich dann die Hoffnung, gut bewertet zu werden.

Schwarb sieht in den Umfragezahlen einen Beleg, dass die Praxis «nicht so schlecht funktioniert, wie viele meinen». Die Zahlen können indes auch anders interpretiert werden: Immerhin 37 Prozent der Befragten, die einen Leistungslohn erhalten, würden ein Lohnsystem ohne Leistungskomponente bevorzugen – sie sind also unzufrieden. Und 59 Prozent aller Befragten geben an, dass der Leistungslohn das Konkurrenzdenken unter den Mitarbeitenden verstärke. Nur gerade 27 Prozent glauben, dass der Leistungslohn das Unternehmensklima verbessert – und 47 Prozent sind da gar gegenteiliger Ansicht.

Es geht auch anders
Nun fordert ja kaum jemand einen Einheitslohn für alle oder eine Rückkehr zum System mit automatischen Lohnerhöhungen nach Dienstalter. Dass auch andere Modelle durchführbar sind, beweist das an mehreren Standorten im Kanton Solothurn beheimatete Ingenieurbüro BSB + Partner. Geschäftsleitungsmitglied Rolf Riechsteiner: «Die jüngeren Angestellten verdienen bei uns in der Tendenz rasch mehr, ab 50 geht die Lohnkurve dagegen eher zurück. Der Bruttolohn sinkt zwar auch bei über 50-Jährigen nicht, aber wegen steigender Sozialversicherungsabzüge bleibt dennoch weniger Geld übrig.» Auf diese Weise hätten junge Familienväter mehr Bares zur Verfügung. «Später dann, wenn die Kinder gross sind, brauchen sie auch nicht mehr so viel», begründet Riechsteiner das unkonventionelle Vorgehen.

Vor rund 15 Jahren wurde das Modell schrittweise für alle rund 90 Beschäftigten eingeführt – einzig für die sechs Chefs gelten andere Regeln. Der ursprüngliche Zweck, die Besserstellung junger Familienväter, wurde allerdings nicht ganz erfüllt: «Die Firma hatte wie die ganze Baubranche Mühe, gute junge Ingenieure zu finden, weil sie in anderen Branchen bedeutend mehr verdienen», so Riechsteiner. «Heute aber ist für uns entscheidend, dass das Modell eine soziale Gerechtigkeit schafft und auch älteren Beschäftigten Sicherheit bietet.»

Knapp ein Viertel der Belegschaft ist über 50 Jahre alt. Einer der Betroffenen ist Projekt- und Bauleiter Hans Ruedi Affolter, der seit 1968 in der Firma angestellt ist: «Ich habe meine Karriere der Firma zu verdanken und konnte mich hier gut entwickeln», sagt der 57-Jährige. «Das Unternehmen gewährt mir für meine politische Tätigkeit auch Freizeit, die wohl etwas über die im Reglement vorgesehenen Stunden hinausgeht. So stimmt für mich die Bilanz, auch wenn der Reallohn stagniert», sagt Affolter.

Papierkram statt Patientenpflege
Auf der anderen Seite steht Alain Kunz, 33, seit zweieinhalb Jahren bei BSB + Partner als Projektleiter beschäftigt: «Das Lohnsystem hat mich positiv überrascht. Als junger Familienvater bin ich froh, dass ich beim Gehalt relativ rasch zulegen kann», sagt Kunz. «Finanziell bin ich später wohl weniger gebunden als in meiner aktuellen Lebenssituation. Das kollegiale Arbeitsklima, die gute Infrastruktur und die grossen Freiheiten bei der Arbeit zählen für mich aber ebenso zu den motivierenden Faktoren.»

In die gleiche Richtung zielt Norbert Thom, Leiter des Instituts für Organisation und Personal der Universität Bern: «Anstelle des Leistungslohns plädiere ich für ein umfassendes Anreizsystem – für eine Mischung aus Anerkennung, Abwechslung und Geld. Wenn das Finanzielle nicht stimmt, kann sich eine entscheidende demotivierende Wirkung entfalten.» Und bei eher gut bezahlten geistigen Berufen sei kaum zu erwarten, «dass der Arbeitnehmer mehr Energie entwickelt, bloss weil sein Lohn um zwei Prozent steigt».

Die Arbeitgeber sind diesbezüglich weniger skeptisch – das zeigen die noch unveröffentlichten Zahlen aus der Dissertation von Ursin Bernard an der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit der Zürcher Gesellschaft für Personal-Management. 85 Prozent der 342 befragten Firmen sehen im Leistungslohn ein geeignetes Instrument, um Mitarbeiter und Management zu belohnen. «Der Leistungslohn ist mehr Mittel zum Zweck: Es geht weniger darum, mehr Geld zu verteilen, sondern dem Feedback gegenüber den Mitarbeitern mehr Gewicht zu geben, indem es mit dem Lohn gekoppelt wird», meint Bernard. Doch gegen die Hälfte der befragten Unternehmen glauben auch, dass Saläre auf der Basis Leistung kurzfristiges Denken und egoistisches Handeln fördern; all jene Aspekte der Arbeit, die sich nicht direkt aufs Gehalt auswirken, würden dagegen vernachlässigt.

Allein schon die Pflege all der Qualitätslisten nehme viel Zeit weg, die anderswo fehle, kritisiert Unternehmensberater und Buchautor Czwalina. Dies wirke sich bei der öffentlichen Hand am schlimmsten aus: Krankenschwestern etwa müssten aufwändigen Papierkram zur Qualitätssicherung erledigen – ihnen fehle die Zeit, um sich den Patienten zuzuwenden. «Manch Karrieresüchtiger kümmert sich halt lieber um Listen als um wirklich wichtige Dinge», moniert Czwalina. Hugo Laager, leitender Sozialarbeiter der Psychiatrischen Dienste am Spital Thun, kennt die Schwierigkeit, Einzelleistungen zu beurteilen: «Im Gesundheitswesen stützt sich die Leistung meist auf ein Team ab. Überragende Einzelkämpfer können dem Teamgeist auch schaden.»

«Das macht mir Bauchweh»
Sogar Polizisten werden neuerdings aufgrund ihrer «Leistung» entlöhnt – unter anderem im Kanton Bern. Daniel Bernasconi, Schichtleiter bei der mobilen Polizei Berner Oberland, findet das einen Blödsinn: «Es hängt vom Glück und vom direkten Vorgesetzten ab, wie ein Polizist eingestuft wird.» Für das Arbeitsklima und den Korpsgeist sei das neue System schlecht, bemängelt der 35-Jährige: «Die Leistung ist gerade bei Polizisten sehr schwierig zu beurteilen. Aber man kann dieses Lohnsystem besser zum Sparen missbrauchen.»

Der kantonalbernische Polizeibeamtenverband wollte deshalb im letzten Jahr die Einführung des Leistungslohns per Referendum verhindern, scheiterte aber in der Volksabstimmung ganz knapp. So muss Bernasconi jetzt auch seine sieben Untergebenen beurteilen. «Das macht mir Bauchweh. Einen Bussenjäger kann ich genauso wenig brauchen wie einen Streber, der nicht mit Menschen umgehen kann.»

Dass die öffentliche Hand viele Fehler machen kann, wenn sie das Leistungslohnprinzip der Privatwirtschaft kopiert, weiss Caroline Schüpbach-Brönnimann, die an der Universität Bern eine entsprechende Doktorarbeit schreibt. «Wo die Einführung schwierig verlaufen ist, liegt es häufig am Finanziellen: Leistungslohn kostet Geld. Ist dieses nicht vorhanden, lösen die geringen leistungsbasierten Lohnzahlungen mehr Frust als Lust aus.»

So geschehen im Spital Thun: Laut Hugo Laager, seit Jahren Mitglied der Betriebskommission, kann aus Geldmangel nur jedem dritten Angestellten, der die Anforderungen erfüllt, eine Lohnerhöhung ausbezahlt werden.

Eine weitere Schwierigkeit sieht Caroline Schüpbach darin, dass in der öffentlichen Verwaltung Mitarbeitende ihren Lohn anfechten können – ein Widerspruch zum eigentlich nötigen Ermessens- und Handlungsspielraum der Vorgesetzten. «Dass in der Verwaltung mehr reglementiert wird als in der Privatwirtschaft, ist wohl mit ein Grund dafür, dass sich dort das Leistungslohnprinzip weniger rasch ausbreitet als in der Privatwirtschaft.»

Zweifel sind nicht erwünscht
Angesichts solcher Probleme ist Werner Müller, Prodekan der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Uni Basel, «je länger, je skeptischer» gegenüber leistungsabhängiger Entlöhnung. «Leistungslohn ist eine zeitgeistige, vordergründig plausible, aber dennoch problematische Praxis, weil die Beurteilung meist subjektiv erfolgen muss.» Jeder Vorgesetzte habe eine andere Erwartung an die Leistung seiner Untergebenen; und weil die Chefs ihre Posten heute schneller wechseln als früher, komme es immer wieder zu einer anderen Beurteilung. Müller: «Unsere Studie zur Befindlichkeit der Angestellten in der Chemiebranche hat gezeigt, dass die Praxis der Leistungsbeurteilung und der davon abhängige Lohn ein wesentliches Element für die Unzufriedenheit darstellt.»

Hans Peter Sigrist, frühpensionierter Swisscom-Kaderangestellter, spürte die Ablehnung, als er Kritik äusserte: «Wer das System des Leistungslohns in Frage stellt, stösst im heutigen Wirtschaftsleben auf wenig Verständnis.» Zumindest im Geheimen hegen aber auch die Chefs schon Zweifel, berichtet Wirtschaftsprofessor Müller nach Gesprächen mit hochrangigen Managern der Basler Chemie: «Alle machen mit bei diesem Leistungslohntrend. Aber sie fragen sich zunehmend, ob sie auf dem richtigen Weg sind.»