Es gibt Phasen, in denen man eine Woche lang nur müde ist», sagt Jasmin Gasser, «denn ein Schlafdefizit lässt sich nie mehr ausgleichen.» Und Luigi Mangieri bestätigt: «Nach einer Woche Nachtschicht kann man zehn Stunden am Stück schlafen und kommt am Wochenende trotzdem nicht aus dem Bett.»

Jasmin Gasser ist Produktionsangestellte beim Zofinger Pharmaunternehmen Siegfried und leistet seit drei Jahren Nachtschicht. Mangieri arbeitet heute wieder zu normalen Zeiten als Lehrlings- und Betriebsausbildner: «Nach sechs Jahren Schicht war ich ausgelaugt.»

In der Schweiz arbeiten Hunderttausende nachts. Schätzungen gehen von 10 bis 15 Prozent der Erwerbstätigen aus. Ohne Nachtschichten wären viele Unternehmen nicht konkurrenzfähig, weil ihre Produktionsanlagen nicht ausgelastet wären. Der öffentliche Verkehr käme zum Stillstand, die Pflege in Spitälern und Heimen läge im Argen. Auch für Nachtschwärmer wäre der Ausgang zu Ende, noch bevor er richtig begonnen hätte.

Nachtarbeit ist schlecht fürs Herz
Nachtarbeit ist unentbehrlich, damit Gemeinschaft und Wirtschaft funktionieren. Deshalb ist es Jürg Schwander, Arzt und Leiter der Zurzacher Klinik für Schlafmedizin, «ein grosses Anliegen, dass die nachts Arbeitenden Anerkennung erhalten und dass auf sie Rücksicht genommen wird». Umso mehr, als Nachtarbeit die Gesundheit deutlich beeinträchtigt: Die Betroffenen haben zum Beispiel ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme. Noch grösser fällt die Zunahme des Risikos aus, an Magen oder Darm zu erkranken. Denn wer nachts arbeitet, isst meist nur kalt – wenn überhaupt: Der Organismus ist zu nachtschlafener Stunde gar nicht auf Essen eingestellt.

Eine Anpassung an die Schichtarbeit gibt es laut Schwander keineswegs. «Die Beschwerden nehmen zu, je länger jemand Schicht arbeitet», sagt Peter Küng, Abteilungsleiter bei Siegfried. Denn der Körper wird von einer inneren Uhr gesteuert, die sich nicht verändern lässt. Am Morgen wird Adrenalin ausgeschüttet, um den Körper auf Trab zu bringen. Wer nachts arbeitet, bringt diesen Rhythmus dauerhaft durcheinander. Lange nicht alle sind physisch nachtschichttauglich. «Doch viele Unternehmen können keine Tagesschichten anbieten», sagt Dieter Kissling, Leiter des Gesundheitszentrums Baden, der Firmen mit Schichtarbeit berät. «Vor allem ältere Angestellte nehmen gesundheitliche Schäden in Kauf, weil sie aus Mangel an Alternativen im Arbeitsmarkt die Nacht durch arbeiten.»

Zwar werden ältere Schichtarbeiter regelmässig medizinisch untersucht und befragt. Doch diese Befragungen ergeben oft ein geschminktes Bild: «Viele beschönigen ihren Gesundheitszustand, weil sie Angst haben, ihren Job zu verlieren», sagt Marie-Louise Schlapbach vom Institut für Arbeitsmedizin in Baden.

Wer tagsüber schlafen muss, tut dies meist nur kurz am Stück. Zudem ist der Tagesschlaf von schlechterer Qualität, weil er weniger Tiefschlafphasen hat. Das chronische Schlafdefizit führt zu dauerhafter Übermüdung.

Ab zwei Uhr früh will der Körper ruhen
Am sozialen Leben können Nachtarbeiter kaum teilnehmen. Sie fühlen sich ausgegrenzt und isoliert. «Ein Vereinsleben kann man glatt vergessen», bestätigen Jasmin Gasser und ihre Arbeitskollegin Doris Egger. Immerhin können sie auf die Rücksicht ihrer Nachbarn zählen, wenn sie tagsüber schlafen müssen.

So unangenehm und ungesund Nachtarbeit ist, mit Schichtplänen, die eine längere Erholungszeit ermöglichen, liessen sich die Folgen etwas mildern. Die Planung ist ein heikles Unterfangen: Meist kommen sich die Bedürfnisse der Produktion, Erkenntnisse der Schlafforschung, Ansprüche der Betroffenen und körperliche Reaktionen in die Quere.

Siegfried führte im Jahr 2000 – beraten vom Institut für Arbeitsmedizin – ein neues Modell ein. Statt der bisherigen acht Stunden während fünf Tagen wurde während vier Tagen zehn Stunden gearbeitet; darauf folgten vier Ruhetage. Die effektive Arbeitszeit sank von 40 auf 35 Stunden, die Produktivität aber stieg gemäss Abteilungsleiter Peter Küng «überdurchschnittlich». Zudem seien die Abwesenheiten zurückgegangen, und die allgemeine Zufriedenheit sei gestiegen.

Ohne Widerstände liess sich das Modell nicht einführen, obwohl es zusammen mit den Betroffenen und deren Personalvertretungen ausgearbeitet wurde. «Die Leute wehrten sich vor allem gegen die Wochenendarbeit», blickt Küng zurück. Doch nach kurzer Zeit war es weitgehend akzeptiert. Mittlerweile stellte Siegfried wieder auf das alte Modell um, weil man mangels Aufträgen die Produktion zurückfahren musste. «Ich hoffe, dass dies nur eine vorübergehende Massnahme ist», sagt Küng, «denn die Vorteile des neuen Modells sind offensichtlich.» Jasmin Gasser bestätigt das: «Beim neuen Modell war die Erholungszeit länger. Wenn man dagegen fünf Tage hintereinander Nachtschicht arbeitet, braucht man das ganze Wochenende, um sich zu regenerieren.» Doch auch der beste Schichtplan kann nicht verhindern, dass die innere Uhr aus dem Rhythmus gerät. Denn bis sich der Körper nach Schichtarbeit wieder einigermassen normalisiert hat, dauert es zwei Wochen. Zudem sinkt die Aktivität des Hirns zwischen zwei und vier Uhr nachts am stärksten ab; entsprechend hoch ist in dieser Zeit die Gefahr von Fehlern oder Unfällen.

Deshalb plädiert der Mediziner Jürg Schwander dafür, «dass nur dort Nachtarbeit geleistet wird, wo es nicht anders geht». Die Realität zielt in die andere Richtung: Der harte Wettbewerb sorgt dafür, dass je länger, je mehr Arbeitnehmer und Selbstständigerwerbende die Nacht zum Tag machen.

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Buchtipp

Barbara Knab, Jürgen Zulley: «Unsere innere Uhr»; Herder, 2003, Fr. 18.10