Der Gruppenleiter ist, wie kaum ein anderer Angestellter, mit seiner ganzen Person am Gedeihen des Jugendheims Aarburg interessiert. Er engagiert sich in vorbildlicher Weise. Er ist von Grund auf ehrlich und loyal: Er hat Freude an seiner Aufgabe und ist sich bewusst, ein Vorbild zu sein.» Die Qualifikation für Samuel Wanitsch, Leiter der Wohngruppe «Falk», hätte kaum vorteilhafter ausfallen können. «Sehr positive Einschätzung, danke!» schreibt er im Juli 1998 auf das Dokument.

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Vier Monate später besteht zur Dankbarkeit kaum mehr Anlass. Urs Hämmerle, sein Vorgesetzter und Urheber der vielen Bestnoten, stellt den langjährigen Mitarbeiter «ab sofort» frei.

«Wir übernehmen die schwierigsten Jugendlichen der Schweiz», erklärt Direktor Urs Hämmerle in der Personalzeitschrift des Kantons Aargau. Die «Festung» in Aarburg beherbergt um die 30 Jugendliche im Alter von 15 bis 22 Jahren. Sie werden in kleineren Arbeitsgruppen von rund 30 Angestellten betreut. Urs Hämmerle ist stolz: «Obwohl die Gewaltbereitschaft in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, kommt unser Heim mit demselben Personalbestand aus wie vor fünf Jahren.»

Die Freistellung traf Samuel Wanitsch völlig unerwartet. Der Sozialpädagoge hatte über 20 Jahre in Aarburg gearbeitet; die Abteilung, die er geleitet hatte, wurde mit seiner Dispensation geschlossen. Was war vorgefallen?

Direktor Urs Hämmerle hatte vorerst eine einfache Erklärung: Eine Journalistin liess er nämlich wissen, der freigestellte Mitarbeiter sei eben «psychisch überegheit». Den Bericht, den sie aufgrund des Gesprächs verfasste, hatte er gegengelesen und mit Korrekturen versehen. Wenig später liess er verlauten, sein Statement in der «Aargauer Zeitung» sei «verzerrt wiedergegeben» worden; der Artikel sei ein Beispiel von schlechtem Journalismus.

Doch die Probleme in Aarburg lassen sich nicht auf die «psychischen Probleme» eines Gruppenleiters reduzieren. Ein weiterer Mitarbeiter der Gruppe «Falk» erhielt die Kündigung. Zwei Mitarbeiter kündigten wenig später von selbst.

«Wir wurden herausgemobbt», erklärt Wanitsch. Seine Kollegen stimmen mit ihm überein. «Wir wissen bis heute nicht, was wir falsch gemacht haben», sagt etwa der Sozialpädagoge Oliver Wullschleger.

Chefschelte vor den Zöglingen

Anlass für den Eklat war eine Meinungsverschiedenheit zwischen einigen Jugendlichen und dem Team «Falk» – «eine Szene, wie sie täglich vorkommen kann», betont Oliver Wullschleger: «Wir betrachten die Erziehungsarbeit als Angebot, mit Konflikten umgehen zu lernen. Das setzt manchmal auch lautere Töne ab.»

Zufällig kam Direktor Hämmerle dazu.Wenig später wurde es plötzlich «sehr laut», erinnert sich Wullschleger: «Hämmerle schrie, unser Team sei unfähig; wir seien hier fehl am Platz. Sein Schreien war weitherum hörbar, und die Jugendlichen haben alles mitbekommen.»

Es war nicht das erste Mal, dass der Direktor seine Mitarbeiter vor den Jugendlichen desavouierte. Meinungsverschiedenheiten zwischen Wanitschs Team und Hämmerle hatten sich schon früher abgezeichnet. Verschiedene konzeptionelle Änderungen schmälerten das Mitspracherecht der Betreuerinnen und Sozialpädagogen: Sie wurden plötzlich nicht mehr in erzieherische Entscheide einbezogen.

«Erschwerend kam hinzu, dass Hämmerle Konflikte mied», sagt Wanitsch. Auch empörten sich die Sozialpädagogen oft über Hämmerles Umgangston. So nannte er etwa einen afrikanischen Insassen «Idi Amin Fleischfresser». Gruppensitzungen verliess er wiederholt vorzeitig im Zorn. Auf eine Supervision wollte er sich nicht einlassen.

Freitag, 20. November 1998. Hämmerle erklärt an einer Gruppenleitersitzung überraschend, er werde die Gruppe «Falk» schliessen. Der Protokollführer hatte die Sitzung kurz zuvor verlassen. Der Direktor habe Stillschweigen angeordnet – sagen die einen. Er wird später erklären, das Stillschweigen sei «gemeinsam beschlossen» worden. Was mit den Jugendlichen geschehen soll, erfährt niemand. Hämmerle kündigt Wanitsch ein persönliches Gespräch an.

In der folgenden Woche ist Wanitsch in den Ferien. Zwei Mitarbeiter erkranken schwer. Obwohl sie ein ärztliches Zeugnis vorweisen, spricht Hämmerle von einem «Boykott». Am 23. November erklärt der Direktor die Abteilung «Falk» wegen einer «Anhäufung von Krankheitsfällen» für geschlossen. Tatsache ist: An diesem Tag waren vier von sechs «Falk»-Mitgliedern zur Arbeit erschienen.

«Wir wussten nicht, was im Gang war», sagt der damals abwesende Oliver Wullschleger. Wanitsch, wieder aus den Ferien zurück, wurde nicht zur Orientierung beigezogen, sondern per sofort freigestellt.

«Wer hat die Schliessung der Abteilung "Falk" veranlasst? Wie wird die Schliessung begründet? Ist die Schliessung mit dem Konzept des Heims vereinbar?» Im März 1999 reichte die Aargauer Grossrätin Barbara Kunz eine Interpellation mit einem umfangreichen Fragenkatalog ein.

Die Antwort des Regierungsrats war allerdings frei von Uberraschungen. Dessen Ausführungen decken sich im wesentlichen mit der Darstellung von Urs Hämmerle. Der zuständige Departementsvorsteher, Kurt Wernli, ist ein Duzfreund von ihm.

Fragwürdige Anschuldigungen

«Uns wird unterstellt, dass wir unlösbare Probleme mit den Jugendlichen hatten und nicht gern hier arbeiten», erklärt der Pädagoge Oliver Wullschleger: «Das ist einfach nicht wahr.» Und seine Kollegin Edith Del Bon, die ebenfalls kündigte, ergänzt: «Hämmerle hat uns immer wieder vor den Jugendlichen lächerlich gemacht.»

Wieviel Autorität brauchen «schwierige Jugendliche»? Ist es ihrem Gedeihen zuträglich, wenn ein Heimleiter seine Angestellten öffentlich desavouiert?

Fritz Gehrig, der Vorgänger von Urs Hämmerle, bezeichnet Samuel Wanitsch rückblickend als «einen seiner besten Mitarbeiter»; er habe immer «auf konstruktive Lösungen hingewirkt».

Die Entwicklung in Aarburg wurde nie von unabhängiger Seite untersucht. Der Angehörige der Aufsichtskommission, den die Mitarbeiter der Gruppe «Falk» anriefen, hatte selbst am Entscheid der Schliessung mitgewirkt. Und als eine externe Firma das Klima im Jugendheim untersuchen sollte, wollte Hämmerle bestimmen, wer zu befragen sei und wer nicht.

Die Jugendlichen der Abteilung «Falk» wurden nach der Auflösung auf verschiedene Gruppen verteilt. Mittlerweile ist eine neue Gruppe «Falk» – mit anderer Besetzung – ins Leben gerufen worden. Doch die Insassen werden sich schon bald wieder mit neuen Betreuern anfreunden müssen. Unter den Nachfolgern kam es nämlich bereits wieder zu Entlassungen und Kündigungen. Einer der Betreuer hatte sich selbst in einer strafrechtlichen Massnahme befunden.

«Die Betreuung von schwierigen Jugendlichen stellt hohe Ansprüche an die Leitung», schreibt der Aargauer Regierungsrat. Sei’s drum: Die Konzeptthesen des kantonalen Jugendheims 1995 – unterzeichnet mit «Urs Hämmerle» – stammen mehrheitlich und im Wortlaut von einer deutschen Psychologin. Von dieser Ehre hat sie bis heute nichts gewusst.

Urs Hämmerle möchte sich zur früheren Gruppe «Falk» nicht mehr äusssern. Er verweist auf Regierungsrat Kurt Wernli – und dieser wiederum auf die Interpellationsantwort: Es hätten «sorgfältige Abklärungen» stattgefunden. Die Hintergründe, warum ausser Samuel Wanitsch noch drei weitere Mitarbeiter das Heim verlassen haben, sind Wernli jedoch «nicht bekannt».

Die Festung Aarburg

Im Jugendheim Aarburg werden schwererziehbare Jugendliche aus der Deutschschweiz resozialisiert. Die Einweisung erfolgt vor dem 18. Altersjahr. Der Aufenthalt dauert maximal bis zum 22. Altersjahr. Zurzeit sind in der «Festung» Aarburg drei Wohngruppen untergebracht. Weiter existieren eine geschlossene Abteilung sowie eine Aussenwohngruppe. Als die Wohngruppe «Falk» Ende 1998 geschlossen wurde, verliess ein Fünftel der Sozialpädagoginnen und -pädagogen das Heim.