Recht schwer nachvollziehbar
Eine Entlassung, ein Notizbuch, 200 Franken und unzählige Vorwürfe: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte nicht immer.
Veröffentlicht am 28. Februar 2005 - 17:30 Uhr
Ruhig bleiben.» S. B. hat die beiden Worte rot eingerahmt. Sie stehen auf Seite eins eines karierten A5-Hefts. Arbeitsgericht Luzern, erster Stock. Es ist ein kalter Januarnachmittag. Ein anderes, mittlerweile zerstörtes Exemplar genau dieses Hefttyps ist Gegenstand des Rechtsstreits.
Adrian Wälchli (Name geändert), knapp 40 Jahre alt, scheint guter Laune. Zahlreiche Aktenordner sind vor ihm ausgebreitet. Neben ihm sitzt sein Anwalt. Vis-à-vis, kaum drei Meter entfernt, S. B. Vor einigen Monaten entsorgte sie ihr «Heftli». Darin habe sich ideelles Firmeneigentum befunden, sagt Wälchli. B. habe dieses aus Rache entsorgt, nachdem er sie wegen Umstrukturierungen entlassen musste.
«Grosses Entgegenkommen»
Wälchli kürzte darauf B. letzten Lohn um 200 Franken. «Der Abzug ist ein grosses Entgegenkommen», erklärt Wälchli dem Richter. In Tat und Wahrheit sei der entstandene Schaden weit grösser. S. B., allein erziehende Mutter zweier Kinder, starrt auf ihre Notizen.
Wälchlis Firma wurde 1991 ins Handelsregister eingetragen. Sie betreibt bis heute internationalen Grosshandel mit Schmuck. Angestellt sind neun Frauen, insgesamt rund 500 Stellenprozent; S. B. betreute dreieinhalb Jahre das Mahnwesen, Messevorbereitungen, Direktverkauf sowie den Versand von Schmuck. Eine Dokumentation ihrer Aufgaben gab es nicht, auch bekam sie nie eine Einführung. «Ich war eine Art Allrounderin. Ich machte Notizen, um nicht dauernd nachfragen zu müssen. In dem Heftli stand nichts, was nicht alle anderen Angestellten auch schon wussten.» Preis des Notizbuchs: ein Franken.
«Du hesch mi absichtlich la driilaufe»
«Wer Frau B. kennt, weiss, dass sie immer hinter dem Geld her war», sagt Adrian Wälchli. «Ich bestreite ausdrücklich, dass sie das Heft selber bezahlte.»
Im Heftli hätten sich so genannte Firmenstandards befunden, «eine komplizierte Angelegenheit». Wälchli zupft an seinem Foulard. Er öffnet einen Ordner, eilt damit zum Richter: «Hier werden alle Arbeitsabläufe festgehalten.» Der Richter nickt. «Man muss das im Zusammenhang sehen», sagt Wälchli. Er eilt an seinen Platz zurück. «Die Sache ist sehr komplex.»
Der Richter wendet sich an S. B.: «Was sagen Sie dazu?»
«Mich erschreckt diese Darstellung», sagt sie. «Hier werden verschiedene Dinge verwechselt. Ich bin angewiesen worden, bestimmte Routinen im Computer festzuhalten. Wälchli hat mich zum Beispiel gebeten, eine Checkliste für die Messeorganisation zu verfassen. Das habe ich auch getan.» Ansonsten habe sie keinen klaren Auftrag gehabt. Als sie am letzten Arbeitstag im Heft geblättert habe, sei sie zum Schluss gekommen, dass vieles nicht mehr aktuell war. «Im Heftli haben sich auch private Adressen befunden. Wenn alles so wichtig war – warum sagte man mir das nicht?» Wälchli habe das Heft nie in Händen gehabt.
«Falsch», sagt Wälchli. «Ich habe B. ausdrücklich geheissen, das Heft zu führen. Aus Rücksicht auf ihre Unfähigkeit.» – «Ich verstehe nicht, Adrian, warum du solche Sachen erzählst. Ich habe dreieinhalb Jahre lang bei dir gearbeitet. Alles war doch ständig improvisiert.»
Wälchli hatte die 200 Franken Schadenersatz ohne Ankündigung von B. Lohn gestrichen. Auf Anraten des Beobachters reichte sie eine Forderungsklage ein. «Ich lebe auf dem Existenzminimum», schrieb sie ans Gericht. «Durch den Abzug wurde ich gezwungen, die Summe beim Sozialamt Horw zu beantragen.»
Wälchlis Klageantwort umfasste 23 Punkte. Der Aufwand für die Rekonstruktion des Heftinhalts habe «mindestens 25 Stunden» betragen, schrieb sein Anwalt. Wie viel dieser für seine Arbeit verrechnete, ist nicht zu erfahren. Der ortsübliche Stundenansatz beträgt rund 250 Franken.
«Da ist noch etwas anderes», erklärt Wälchli. Die anfängliche Freundlichkeit ist jetzt aus seiner Stimme gewichen. Zwei Wochen vor dem Verlassen der Firma habe B. 23 Mahnungen verschickt – an Kunden, die längst bezahlt hatten. Es habe ihn viel Arbeit gekostet, sich für diese Post zu entschuldigen.
S. B.: «Adrian, du weisst genau, wie es war. Wir waren allein im Büro. Du schautest mir über die Schulter. Im Unterschied zu mir wusstest du, dass die Rechnungen bereits bezahlt waren, und du hast gesehen, was ich machte. Du hättest nur sagen müssen: Stopp! Du hesch mi absichtlich la driilaufe, Adrian.»
«Ich? Gedroht?»
Der Anwalt zeichnet Kreise auf seinen Block. Der Richter schmunzelt. «Frau B.», sagt er, «wie wäre die Geschichte wohl ausgegangen, wenn Sie Herrn Wälchli das Heftli als Andenken geschenkt hätten?» S. B.: «Das hätte ich noch so gern getan.» Richter: «Kamen Ihre Kollegen oft und fragten: ‹Wie steht das genau im Heftli?›» B.: «Das geschah ein einziges Mal.»
«Für einen Vergleich ist der Spielraum sehr klein», erklärt der Richter. Wälchlis Anwalt nickt bedeutungsvoll. «Mein Mandant ist der Klägerin bereits sehr entgegengekommen», sagt er. Und jetzt müsse er noch etwas anderes erwähnen. B. habe seinem Klienten mit einem Bericht im Beobachter gedroht. «Es wäre da ein Leichtes, sie deshalb wegen Nötigung zu verklagen.» B. schaut entsetzt. «Ich? Gedroht?»
Tatsächlich hatte S. B. den Beobachter bereits in früheren Jahren zu Rate gezogen: wegen Spesenvergütungen, die Wälchli ihr schuldig blieb; wegen einer Reisezeit, die er ihr nicht als Arbeitszeit vergüten wollte. Wälchli musste beide Male auf die Forderungen eingehen. Als sie 2004 schliesslich ein Arbeitszeugnis verlangte, wollte Wälchli ihr dies erst aushändigen, nachdem B. den Inhalt des famosen Hefts rekonstruiert hatte. «Du wolltest mich unter Druck setzen, nicht ich dich», sagt S. B.. «Das weisch du genau, Adrian.» Das Ausstellen eines Arbeitszeugnisses darf nicht an Bedingungen gebunden werden. Auch hier hatte der Unternehmer klein beigeben müssen.
Adrian Wälchli, gegen den S. B. dreimal Recht behielt, ist sich sicher: «Die Vernichtung des Hefts war eindeutig böser Wille. So behandelt man den eigenen Arbeitgeber nicht.» Allenfalls wäre er bereit, symbolisch auf einen Franken zu verzichten.
«Und wie wäre es», fragt der Richter, «wenn Sie auf 199 Franken verzichten würden?» Der Richter spricht eindringlich. «Wissen Sie: Es ist immer der Stärkere, der über den eigenen Schatten springen muss. Können Sie nicht etwas Grösse zeigen?»
100 Franken sei das Äusserste, was er vorschlagen könne, sagt der Anwalt empört. «Ich kann nicht einsehen, dass ich einen Fehler gemacht haben soll», sagt S. B.
Wälchli: «Bloss weil jemand ein Sozialbezüger ist, hat er kein Recht, mein Zeug zu vernichten.» – «Mit Sozialbezug hat das überhaupt nichts zu tun.» Die Reaktion des Richters ist prompt und scharf. Der Anwalt beeilt sich festzuhalten, die Bemerkung gehöre nicht ins Protokoll.
Für einen Moment herrscht Schweigen im kleinen Saal. Draussen ist es dunkel geworden. B.s Blick ist gespannt. «Muss ich jetzt noch etwas sagen?» Sie weint. Ihre beste Freundin sei leider auch die beste Zeugin, sagt sie. «Wenn sie aussagt, riskiert sie ihre Stelle. Das will ich ihr nicht antun.»
«Ich wiederhole es, Herr Wälchli», sagt der Richter, «zeigen Sie Grösse.»
Wälchli schlägt mit der Hand auf den Tisch. «Es geht hier ums Prinzip», sagt er.
S. B. hat keine Wahl. Sie muss sich seinem «Entgegenkommen» beugen. Wälchli behält 100 Franken von ihrem letzten Lohn zurück.