Sie haben uns Ihre Schreibtische gezeigt…
Die einen brauchen Ordnung, die anderen mögen es chaotisch. Einen Rechtsanspruch auf Familienfotos auf dem Schreibtisch gibt es aber nicht.
Veröffentlicht am 19. August 2014 - 09:43 Uhr
Was Büromenschen auf der ganzen Welt verbindet, ist der Hang zum Nestbau. Am Arbeitsplatz möchte man es sich gemütlich machen, sich ein bisschen heimisch fühlen – und signalisieren: Hier bin ich, das ist mein Reich!
Was dabei als ordentlich gilt und was nicht, unterscheidet sich je nach Kulturkreis grundlegend. Zu diesem Schluss ist eine Projektgruppe von Kölner Designstudenten gekommen, die rund um den Globus knapp 700 Schreibtische fotografiert hat. «Es gibt Arbeitsplätze, die wir als hoffnungslos chaotisch bezeichnen würden», sagt Studienleiterin und Designprofessorin Uta Brandes. «In Asien hingegen gelten sie als aufgeräumt.» Ähnlich verhalte es sich mit der Vorstellung davon, was ein «leerer» Schreibtisch sei; was bei uns schnell mal überfrachtet wirke, bezeichne man andernorts als karg und steril, beispielsweise in Japan: «Zu voll ist es erst dann, wenn der Tisch unter dem Material zusammenbricht.»
Extremformen gibts aber auch in europäischen Amtsstuben. Hier arbeiten die Menschen oft jahrzehntelang am selben Schreibtisch, sind praktisch mit ihm verwachsen, umgeben von prächtig gedeihenden Hydrokulturpflanzen. Wer den Arbeitsplatz übernimmt, erbt das Gewächshaus gleich mit – oder muss erst einmal grossflächig roden. Uta Brandes spricht in diesem Zusammenhang von «Biotopen».
Auch Cary Cooper, Professor für Organisationspsychologie an der britischen Lancaster-Universität, hat Schreibtische von rund 2500 Beschäftigten in europäischen Unternehmen unter die Lupe genommen. Er definiert eine Typologie, die vom Chaos über die moderatere Form des kreativen Chaos (Chaos mit System) bis zu Ordnung und leerem Schreibtisch reicht (siehe oben). Kreative etwa umgeben sich gerne mit schönen Dingen und inszenieren coole Nachlässigkeit. Daneben hat Cary Cooper eine Gemeinsamkeit zwischen dem Familienmenschen und dem Workaholic festgestellt: Bei beiden stehen Familienfotos auf dem Schreibtisch. Während der eine aber zwischen Privatleben und Job unterscheidet, kommt der andere nicht aus dem Büro heraus und dokumentiert mit den Fotos immerhin, dass in seinem Leben noch andere Menschen existieren.
Dekorgegenstände lassen sich aber auch als Ausstellung verstehen, mit der man sich so darstellt, wie man gerne wahrgenommen würde. Laut Uta Brandes sind Bilder von sich und den Liebsten ein schönes Beispiel dafür. Familienfotos würden meist am linken oder rechten Rand des Schreibtischs platziert – so dass die Kollegen freie Sicht darauf hätten und sehen könnten, was für eine glückliche Familie die Kollegin habe. Ähnlich verhält es sich mit Statussymbolen: Liegt beim Kollegen der Autoschlüssel auf dem Pult, als habe er ihn zufällig hingeworfen, kann und soll man daraus schliessen, dass er ein schickes Auto fährt.
Selbst in modernen Betrieben, wo nicht mehr jeder einen eigenen Schreibtisch hat, findet man kaum pure Nüchternheit. Feste Installationen liegen allerdings oft nicht mehr drin; es gilt, sich auf Transportables zu beschränken. Zum Beispiel bei der Post: Im kommenden Jahr wird sie an den neuen Berner Hauptsitz Wankdorf-City ziehen, dann werden die Arbeitsplätze gemeinschaftlich genutzt. Die Angestellten dürfen den Arbeitsbereich zwar dekorieren, am Feierabend müssen Ferienfotos, Früchteschale und Filzpantoffeln aber wieder verschwinden.
«‹Clear Desk› heisst, dass am Feierabend keine geschäftlichen Dokumente liegen bleiben dürfen, und nicht, dass persönliche Dinge verboten sind», erklärt der Solothurner Betriebsökonom Willy Knüsel. Gerade an sterilen Computerarbeitsplätzen brauche es Individualität und Wärme – und auch etwas Kitsch. Alltäglichen Krimskrams ganz zu untersagen wäre kontraproduktiv. Das bekräftigen Arbeits- und Organisationspsychologen (siehe «Dekoration im Büro»).
Willy Knüsel wird als Trainer für Arbeitstechnik in Firmen bestellt, wo er hilft, Arbeitsplätze zu organisieren. Dabei hat er schon Schreibtische gesehen, die mit asiatischen Exemplaren locker mithalten konnten. Der Zustand des Schreibtischs lasse Rückschlüsse auf die Arbeitsweise zu, so Knüsel. Je mehr sich darauf staple, desto grösser die Gefahr des unproduktiven Multitasking. Er empfiehlt, freie Flächen zu schaffen. Auf einem gut organisierten Schreibtisch befinde sich nichts ausser Unterlagen für die aktuelle Arbeit, Arbeitsmitteln, die täglich gebraucht würden, und maximal ein, zwei persönlichen Dingen.
Lässt ein chaotischer Arbeitsplatz also zwangsläufig auf eine unstrukturierte Arbeitsweise schliessen? Mit derlei Kategorisierungen geht Designprofessorin Uta Brandes vorsichtig um – wohl auch, weil sich auf ihrem eigenen Schreibtisch die Papiere türmen. Brandes hält sich an das Gesetz der «geologischen Ordnung»: Vergangene Woche waren die Unterlagen noch zuoberst auf dem Stapel, also müssten sie nun rund fünf Zentimeter tiefer liegen. «Das funktioniert in rund 80 Prozent der Fälle.» In den Semesterferien räumt sie auf: «Als Nächstes verschwinden die beiden hübschen, aber völlig unnützen Art-déco-Tintenfässchen und der Plüschbär mit Bauhelm.»
Der Chef bestimmt
Irmtraud Bräunlich, Beobachter-Arbeitsrechtsexpertin, fasst den Grundsatz zusammen: «Der Arbeitgeber hat ein Weisungsrecht. Er kann Richtlinien aufstellen, die vorgeben, wie Pulte und Bürodekoration auszusehen haben.» Anders formuliert: Es gibt keinen Rechtsanspruch darauf, auf seinem Schreibtisch private Gegenstände oder «Bilder von Kind, Kegel und Dackel zu platzieren».
Auf die Branche kommt es an
Wie streng die Regeln sind, hängt von der Firmengrösse und von der Branche ab – und insbesondere davon, ob Kunden ein und aus gehen. Banken und Versicherungen sind zurückhaltend, legen Wert auf gediegene Ausstrahlung, erst recht am Schalter. Auch in Grossbetrieben, die ihre Büros designen lassen, gelten oft strenge Regeln, damit das Gesamtbild nicht gestört wird. Diese Praxis könne allerdings zu weit gehen, sagt Curdin Sedlacek, Spezialist für betriebliches Gesundheitsmanagement: Das Design über die Bedürfnisse der Mitarbeiter zu stellen, könne man als mangelnde Wertschätzung auffassen.
Erlaubt ist, was nicht stört
Die meisten Betriebe tolerieren das Ausschmücken – in einem gewissen Mass und unter der Voraussetzung, dass Kunden und Kollegen sich nicht daran stören. Grundlage ist der gesunde Menschenverstand und der Anspruch, dass ein Arbeitsplatz Effizienz und Kompetenz ausstrahlen sollte.
Weniger ist mehr
Bevor man Comicfiguren aufreiht oder das lebensgrosse Bild eines Fussballstars an die Wand hängt, sollte man das Gegenüber fragen, ob es damit einverstanden ist. Und sich bewusst werden, dass weniger oft mehr ist, gemäss dem Feng-Shui-Grundsatz: Nur Dinge aufstellen, die Wohlgefühl vermitteln.
Das ist verboten
Am Arbeitsplatz tabu sind diskriminierende oder sexistische Gegenstände, etwa rassistische Cartoons oder Pin-up-Girls. Beobachter-Expertin Irmtraud Bräunlich: «Stellt man am Arbeitsplatz unanständige Fotos zur Schau, fällt das laut Bundesgericht unter sexuelle Belästigung, wie sie das Gleichstellungsgesetz definiert.»