Trotz Unterschrift hat der Chef nicht freie Hand
Wer angestellt ist, hat auch Rechte. Viele davon sind gesetzlich vorgeschrieben. Und sie gelten selbst dann, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dem Unternehmen schriftlich andere Abmachungen getroffen haben.
Veröffentlicht am 20. November 2001 - 00:00 Uhr
Remo F. unterschreibt am letzten Arbeitstag eine Schlussabrechnung «per saldo aller Ansprüche». Kurz darauf stellt er fest, dass ihm noch zehn Ferientage zustehen. Doch der Arbeitgeber will nichts davon wissen und beruft sich auf die unterschriebene Abrechnung.
Lara P. putzt seit vier Jahren regelmässig in einem Architekturbüro. Als sie an einer schweren Grippe erkrankt, verweigert der Arbeitgeber jegliche Lohnzahlung. Er verweist auf den von ihr unterschriebenen Vertrag. Dort steht: «Die Krankenversicherung ist Sache der Arbeitnehmerin. Bei allfälligen Absenzen entfällt die Lohnzahlung.»
Weder Lara P. noch Remo F. müssen klein beigeben: Sie können sich trotz der geleisteten Unterschrift für ihre Rechte wehren. Zu verdanken ist dies einer Schutzbestimmung im Obligationenrecht. Demnach kann der Arbeitnehmer während der Dauer des Arbeitsverhältnisses und bis einen Monat nach dessen Beendigung nicht gültig auf Forderungen verzichten, die sich aus «unabdingbaren Vorschriften des Gesetzes oder aus unabdingbaren Bestimmungen eines Gesamtarbeitsvertrags» ergeben.
Unterschrift zählt nicht
Es handelt sich hier um eine Sicherung zugunsten der Arbeitnehmenden, die in einem Arbeitsverhältnis in der Regel die schwächeren Vertragspartner sind. Es garantiert Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gewisse Minimalansprüche, von denen weder im Arbeitsvertrag noch in einer anderen Vereinbarung abgewichen werden darf. Verstösst eine Vereinbarung gegen dieses Verzichtsverbot, ist sie ganz einfach nichtig. Sie muss nicht speziell angefochten werden.
Doch welches sind nun solche «unabdingbaren Vorschriften des Gesetzes»? Die Antwort ergibt sich einerseits aus dem Wortlaut der Gesetzesartikel selbst, anderseits aus einer Liste zwingender Bestimmungen, die im Obligationenrecht zu finden ist. Welche Bestimmungen eines Gesamtarbeitsvertrags unabdingbar sind, steht im jeweiligen Gesamtarbeitsvertrag.
Typische Beispiele für «unabdingbare Vorschriften des Gesetzes» sind das Recht auf mindestens vier Wochen bezahlte Ferien pro Jahr oder auf Lohnfortzahlung bei Krankheit. Lara P.s Vertragsklausel bezüglich Krankenabsenzen ist somit ungültig. Der Chef muss die Grippetage bezahlen. Und auch Remo F. kann sich seine zehn Ferientage auszahlen lassen, obwohl er die Schlussabrechnung seinerzeit akzeptiert hat. Allerdings ist in seinem Fall zu beachten: Hätte er die Schlussabrechnung mehr als dreissig Tage nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses unterschrieben, wäre sie verbindlich und eine Nachforderung der Ferienansprüche nicht mehr möglich.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Keine Regel ohne Ausnahme: Ein gültiger Verzicht auf Ansprüche, die einem Arbeitnehmer zwingend zustehen, ist unter Umständen dann zulässig, wenn auch der Arbeitgeber seinerseits auf Forderungen verzichtet oder wenn der Verzicht des Arbeitnehmers durch zusätzliche Leistungen des Arbeitgebers kompensiert wird. Juristen nennen dies einen Vergleich. Ein Beispiel aus der Bundesgerichtspraxis:
Ein Zeitungsredaktor unterzeichnete eine Kündigungsvereinbarung, wonach er per sofort von der Arbeit freigestellt wurde und per saldo aller Ansprüche noch fünf Monatslöhne ausbezahlt erhielt. In der Folge machte er geltend, er habe aufgrund zwingender gesamtarbeitsvertraglicher Bestimmungen noch zusätzlich Anspruch auf einen anteilmässigen dreizehnten Monatslohn. Das Bundesgericht hielt fest, dass dies zwar zutreffe, die Kündigungsvereinbarung sei jedoch zugunsten des Arbeitnehmers ausgefallen (fünf Monatslöhne bei nur dreimonatiger Kündigungsfrist sowie Freistellung von der Arbeit). Die Vereinbarung sei somit gültig zustande gekommen.
Gratifikation ist nicht zwingend
Achtung: Nicht zu den zwingenden Ansprüchen eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin gehören die Lohnhöhe, die Kündigungsfrist oder freiwillige Leistungen wie Gratifikation, Bonus, Geschäftswagen, mehr als vier Wochen Ferien und Ähnliches. Wer also beispielsweise einer Lohnkürzung oder einer vorzeitigen Vertragsauflösung zugestimmt hat, kann später nicht mehr darauf zurückkommen. Grundsätzlich gilt daher: Arbeitsverträge, Kündigungsvereinbarungen oder Schlussabrechnungen sollten nie leichtfertig oder unter Druck unterschrieben werden. Bestehen Sie im Zweifelsfall auf einer Bedenkfrist und lassen Sie sich beraten.