Eine mittelgrosse Schweizer Stadt, Telefonzentrale des Sozialdienstes: Andrea Sieber (Name geändert) konstatiert ein Flimmern vor ihren Augen. Es ist ein heisser Junitag. Sieber fühlt sich elend. Als der Mittfünfzigerin die Stimme versagt, eilt sie zu ihrem Vorgesetzten, versucht, ihre Not gestisch zu veranschaulichen. Der Chef sieht kurz auf. Dann arbeitet er unbeeindruckt weiter. Die «Sachbearbeiterin Buchhaltung und Sekretariat» wird von einem Weinkrampf überwältigt und bricht schliesslich zusammen. Es ist der Endpunkt einer Entwicklung, die über ein Jahr gedauert hat.

Eine Woche nach der Notfallkonsultation verbietet der Arzt Andrea Sieber, an ihren Arbeitsort zurückzukehren. Mobbingbedingt seien «bleibende gesundheitliche Schäden zu befürchten».

«Mobbing hat viel mit einem Verkehrsunfall gemeinsam», sagt Klaus Schiller-Stutz, Fachpsychologe FSP. «Die Lage ist für alle erkennbar. Aber oft genug passiert es, dass lebensrettende Massnahmen ausbleiben. Folgeschäden, ja Massenkarambolagen werden in Kauf genommen. Und am Ende will niemand schuld gewesen sein.»

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Die Chefs müssten Mobbing verhindern
Mobbing: Ein Ausdruck von Feigheit? Von Ohnmacht? Gleichgültigkeit? Die Ursachen sind vielfältig. Fest steht: Das Phänomen tritt deutlich häufiger auf als bisher angenommen. Die Schweizer Mobbingstudie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) kam 2002 noch zum Schluss, dass fünf Prozent der Arbeitsbevölkerung als Mobbingopfer zu bezeichnen sind. Die aktuelle repräsentative Umfrage des Beobachters (siehe Nebenartikel «Umfrage: Mobbing-Phänomene am Arbeitsplatz nehmen zu») zeigt deutlich höhere Zahlen: 14 Prozent der Befragten erklären, dass sie offen oder versteckt an ihrem Arbeitsplatz schlechtgemacht werden. 13 Prozent beklagen Änderungen in ihrem engsten Arbeitsumfeld, ohne dass sie davon wussten. Und 26 Prozent der Neuangestellten halten fest, dass ihnen grundlos Fehler angelastet werden. 

Im Unterschied zur Seco-Befragung verzichtete der Fragenkatalog des Beobachters bewusst auf das Wort «Mobbbing». Der Grund ist einfach: Nicht alle, die sich selbst als Mobbingopfer bezeichnen, sind es auch. Bei anderen hingegen deutet vieles darauf, dass sie es sind – obwohl sie der schmerzhaften Tatsache nicht ins Auge sehen wollen.

Kritik gibt es auch an den Chefs: 18 Prozent der Befragten finden, ihre Vorgesetzten führten «weder gut noch schlecht», und 15 Prozent bemängeln «nicht so gute Führungsqualitäten». Klaus Schiller-Stutz erklärt: «Laut Arbeitsgesetz gehört es klar zum Pflichtenheft eines Chefs, Mobbing zu verhindern. Leider ist dies viel zu wenig Managern bewusst. Unstimmigkeiten auszutragen kostet Zeit – und die ist oft nicht mehr vorhanden. Tauchen psychische Probleme auf, werden sie vielerorts als private Angelegenheit abgetan.»

In die Isolation getrieben
Andrea Sieber, die, um Atem und Stimme ringend, zu ihrem Chef geeilt war, hatte von dessen Vorgänger Bestnoten erhalten: für «Loyalität», «Kritikfähigkeit», «Einsatz», «Effizienz». In der Einschätzung des Nachfolgers Max Forrer (Name geändert) heisst es über dieselbe Person: «fehlende Kommunikation», «sucht Fehler immer bei anderen», «kann Kritik nicht annehmen». Dass Sieber «wenig zu Forrers Zufriedenheit beitragen» konnte, wusste sie schon nach wenigen Tagen. Im Sommer 2004 geschah der erste Eklat: Sieber habe Vorlagen im PC manipuliert, schrie er sie an, sie sei verantwortlich für die schlechte Organisation. Die Beschuldigte wandte sich an Forrers Vorgesetzten. Der riet ihr, «am besten Gras drüber wachsen zu lassen». 

Das Gras wuchs. Die Probleme auch: Forrers Arbeitsweise verursachte für Sieber wachsende Mehrarbeit, und wiederholt vergriff er sich im Ton. Anfang 2005 erklärte Forrer, seine Geduld sei am Ende. Eine Versetzung kam nicht in Frage. Siebers Nervenzusammenbruch war der Auftakt zur Kündigung. «Ich blieb kühl, aber korrekt», beschliesst Andrea Sieber ihre Erzählung. Sie vergräbt das Gesicht in den Händen und schluchzt kurz auf.

Der «Entdecker» des Mobbings, der deutsch-schwedische Arbeitspsychologe Heinz Leymann, schuf einen umfangreichen Katalog von 45 genau beschriebenen Handlungen. Treten diese während längerer Zeit wiederholt auf, erfüllen sie den «Tatbestand» des Mobbings. Dazu gehören: Kontaktverweigerung, Kritik am Privatleben, Anschreien, Zuweisung demütigender Arbeiten, Verbreiten von Gerüchten. Ist der Prozess einmal im Gang, wird es schwer, sich aus eigenen Kräften daraus zu befreien. Das Grundmuster: Aus einem schwelenden Konflikt wird eine handfeste Feindseligkeit; das Opfer wird verunsichert, es macht zusehends Fehler und wird in die Isolation getrieben; es fehlt das Angebot zur klärenden Aussprache. Fazit: Innert kurzer Zeit kann dies zum Verlust des Selbstwertgefühls führen. Der Prozess führt oft zum Ausschluss aus der Arbeitswelt. Das Erlebte macht es schwer, sich vorteilhaft zu präsentieren, sprich: wieder Arbeit zu finden.

Dass der Problematik wachsende Bedeutung zukommt, bestätigt Beobachter-Expertin Irmtraud Bräunlich: «Verdrängungskämpfe, Eifersucht, Buhlen um den Chef – die Fronten sind zahlreich. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle geht es aber um den Chef: der Chef, der nicht eingreift; der Chef, der sich die Spannungen gar zunutze macht; der Chef, der neu antritt und selbstherrlich eigene Regeln einführt.» Nach Bräunlichs Erfahrungen fühlen sich Menschen in helfenden Berufen am häufigsten gemobbt: «Angestellte von Pflegeheimen, Sozialämtern und anderen sozialen Institutionen, deren Arbeitsfeld Menschen sind, fehlt es häufig an Erfolgserlebnissen. Hier wird viel gefordert. Leistung ist dabei schwer messbar – wenn nichts zurückkommt, spürt man das umso mehr.»

Zahlreiche Grossbetriebe reagieren
Natürlich wird nicht nur in sozialen Berufen gemobbt. Klaus Schiller-Stutz sagt: «Grundsätzlich kann jeder Mann, jede Frau Opfer werden. Die Ursachen können in der Organisation, in der Gruppe, in der Person des Täters oder in jener des Opfers liegen.» Der Experte beruft sich dabei auf eine kürzlich erschienene Studie der Universität Wien. Danach wird jemand schneller zum Opfer, der ein starkes Harmoniebedürfnis hat, gepaart mit grosser Gewissenhaftigkeit und grundsätzlichem Glaube an das Gute im Menschen. Anderseits sind mässig qualifizierte Führungspersonen mit labilem Selbstwertgefühl besonders als Täter geeignet. 

Zahlreiche Grossbetriebe haben ihre Personalabteilungen für die Thematik sensibilisiert – unter ihnen die SBB, die Post, ABB Baden, Holcim, Alstom. Im Berner Inselspital besteht seit 2001 eine Anlaufstelle für psychosozialen Stress und Mobbing, deren Konzept international ausgezeichnet wurde. «Die Leitung des Inselspitals toleriert Mobbing nicht und bemüht sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, Mobbing zu vermeiden», steht im Vorwort dazu. «In einem 24-Stunden-Betrieb mit 7200 Angestellten und ständig wechselnden Einsatzplänen kommt es naturgemäss zu Spannungen», sagt Katharina Merz, Personalberaterin am Inselspital. Sie begleitet und betreut die Ratsuchenden, vermittelt je nach Problemlage externe oder interne Spezialisten. Grundsätzlich gilt: Ohne Einverständnis der Ratsuchenden wird keine Drittperson in den Prozess mit einbezogen. Die Statistik über die Nutzung der Anlaufstelle ist nicht öffentlich; die Arbeitszufriedenheit des Betriebs bezeichnet Merz als «bemerkenswert gut».

Schauplatzwechsel. Erwin Maas (Name geändert), 48 Jahre alt, war während 15 Jahren im selben Betrieb tätig. Seit sechs Monaten ist er krankgeschrieben. Von den Problemen an seiner Arbeitsstelle, einer Fachhochschule, hat er sich so wenig erholt wie Andrea Sieber. Auch bei ihm entzündete sich der Arbeitskonflikt an einer neuen Chefin. Er hatte sich schon schlecht mit ihr verstanden, als sie noch seine Kollegin war. Maas’ Schilderung ist voller Wut und Trauer. Er unterbricht sich, präzisiert, setzt nochmals an, verstummt. Wegwerfende Handbewegungen. «Sie wollte im Internet vor allem ihren Arbeitsbereich prominent dargestellt haben. Ich kam ihr als Profi wohl zu wenig entgegen.» Ihre Kritik wurde zusehends persönlich: «Einmal sagte sie mir: ‹In deinem Büro stinkts.›» Wagte es Maas, sie mit möglicherweise fehlenden Fachkenntnissen zu konfrontieren, warf sie ihm mangelnde Loyalität vor. Mehrmals hörte er «in ausnehmend freundlichem Ton: ‹Eigentlich müsstest du eine andere Stelle haben.›»

Vermittlungsversuche von Kollegen wurden «sabotiert». Mehr und mehr gewann Maas den Eindruck, er werde gemieden. Als er im Kaffeeraum auftauchte, entfernten sich bestimmte Kollegen wortlos.

Der Manager von morgen
Nach einer Aussprache mit dem Rektor wurde ihm eine Vereinbarung zur Unterschrift vorgelegt. Er war vorgängig nicht dazu befragt worden. «Das Dokument verlangte vor allem eines: Unterordnung.» Er weigerte sich. Von nun an ging es Schlag auf Schlag: Maas wird gekündigt, er erhält ein «ehrverletzendes» Arbeitszeugnis. Die mündliche Begründung des Rektors: «Sie haben die Vorgesetzte schliesslich auch verletzt.» Maas erkrankt. Das Ergebnis des Vertrauensarztes ist kaum im Sinn des Arbeitgebers: Die Zustände in dieser Schule seien unzumutbar, schreibt der Mediziner. Es handle sich hier klar um Mobbing.

Wie kriegen Chefs das Mobbing nur in den Griff? Der Manager von morgen sei «interrogativ-integral», «integrierend-intermediär» sowie «interkommunizierend-intermediär», lesen wir im Bulletin einer global operierenden Schweizer Grossbank. Die Aura der Sozialkompetenz weht förmlich aus derlei Begriffen. In einschlägigen Managerbüchern ist die Rede von Effizienz, Motivation, Dream-Teams und Team-Dreams. Mobbing ist meist kein Thema.

Das Angebot für die Betroffenen hingegen wächst. In verschiedenen Städten sind unabhängige Beratungsangebote entstanden: Die Zürcher Mobbing-Beratungsstelle hat wachsende Nachfrage. Die Luzerner «Rechtspermanence», mit der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern Mitveranstalterin der Mobbing-Tagung vom 18. November, ist rund um die Uhr telefonisch erreichbar. Hubertus Hollenweger, «Rechtspermanence»-Mediator, sagt: «Die Marktsituation ist angespannt, viele Zielsetzungen sind kurzlebig. Man versucht, die Probleme zunehmend mit Druck zu lösen.» Bei der Basler Beratungsstelle «help», getragen von der gemeinnützigen «Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige GGG Basel», melden sich über 1000 Ratsuchende pro Jahr. Ihr Leiter Christian Pfäffli kann sich jedoch der Wahrnehmung der Klienten nicht immer anschliessen: «Hie und da ergeben unsere Abklärungen, dass die Not des Ratsuchenden einer deutlichen Selbstüberschätzung entsprang – und der Arbeitgeber sich soweit korrekt verhielt.»

Pfäffli ist auch Dozent an der Führungsschule des KV Liestal. Im Modul «Unternehmenskultur» kommt auch das Thema Mobbing zur Sprache: Zwölf Teilnehmende zwischen 30 und 45 Jahren, tätig in den verschiedensten Betrieben, diskutieren über mögliche Lösungen. Vor ihnen liegen reale, vom Kursleiter aufbereitete Fallschilderungen. Beispiel eins: Eine allein stehende Mutter wird zwangsversetzt – kurze Zeit nachdem ihr Sohn verunglückt war. Depressiv geworden, wird sie vom neuen Chef samt Gefolgschaft gequält. Kann die Trauernde entlastet werden? Wie sucht man das Gespräch mit Chefs und Kollegen? Beispiel zwei: Eine 53-jährige Verkäuferin ist bei der Kundschaft sehr beliebt – und wird von jener Kollegin gemobbt, die mit dem Chef ein Verhältnis begonnen hat. Inwieweit ist das Privatleben ein Thema? Hat dieses Opfer überhaupt eine Chance?

In der Realität endete der erste Fall tragisch: Die depressive Frau nahm sich das Leben. Und «Fall zwei» ist seit zwei Jahren ohne Stelle.

Ohne Arbeit ist auch Andrea Sieber. Mobbing und Kündigung hinterliessen einen tiefen Schock: «Als ich in der Stadt auf Bekannte traf, konnte ich mich erst nicht mehr an deren Namen erinnern. Die Lärmempfindlichkeit wuchs enorm. Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich vorher war.»