Feierabend bei Sonnenaufgang
Mehr als 200'000 Schweizerinnen und Schweizer machen die Nacht zum Tag - arbeitenderweise. Schlafen tun sie tagsüber. Doch gesund, sagt eine Seco-Studie, ist das auf Dauer nicht.
Veröffentlicht am 27. Oktober 2008 - 10:28 Uhr
Wenn die einen den Pyjama anziehen, machen sich andere auf den Weg zur Arbeit: 203'000 Personen oder 5,2 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in der Schweiz regelmässig nachts zwischen 23 und 6 Uhr; allein in den letzten vier Jahren kamen 20'000 Personen neu dazu. Noch rasanter stiegen die Abendarbeitszeiten von 19 bis 24 Uhr an. Arbeitgeber wollen ihre Maschinen rund um die Uhr nutzen, und abendliche Dienstleistungen werden immer weiter ausgebaut. Der Arbeits-«Tag» verschiebt sich in der Folge bereits für einen Viertel der Erwerbstätigen in die Nacht hinein.
Seit 2000 gilt gemäss Arbeitsgesetz nur noch die Zeit von 23 bis 6 Uhr als Nachtarbeit; zuvor begann sie bereits um 20 Uhr. Mit der neuen Regelung wurde der Wirtschaft ein bewilligungsfreier Zweischichtbetrieb tagsüber und abends ermöglicht. Die Bewilligungspflicht für Nachtschichten in Gewerbe und Industrie sollte sich auf jene Betriebe beschränken, für die sie aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen notwendig sind, und Dauernachtarbeit sollte verboten werden. Weiterhin keine Bewilligung brauchen Dienstleistungsunternehmen, für die Nachtarbeit absolut zwingend ist: etwa Spitäler, Druckereien, Hotels und Bäckereien. Diese Einschränkung wurde von den Arbeitgebern heftig kritisiert. 2005 liess deshalb das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die gesundheitlichen Auswirkungen untersuchen. Ergebnis: Atypische Arbeitszeiten beeinträchtigen die Gesundheit generell. Doch ist laut der Studie die Dauernachtarbeit nicht allein für gesundheitliche Folgen verantwortlich; die Arbeits- und Lebensbedingungen spielten eine ebenso grosse Rolle.
Ein Vergleich, den die Klinik für Schlafmedizin in Zurzach in zwei Firmen durchführte, zeigt jedoch, dass sich Nachtarbeit insgesamt durchaus negativ auf die Schlafqualität auswirkt: Von 200 befragten Angestellten litten bei Dauernachtarbeit 24 Prozent an Schlafproblemen, bei Schichtarbeit 19 Prozent, während es im Bevölkerungsschnitt nur 12 Prozent sind. Doch nicht nur Schlafstörungen sind ein Risiko. «Nachweisbar leiden Nachtarbeitende auch häufiger an Magen-Darm-Beschwerden und sind anfälliger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen», sagt Dieter Kissling vom Institut für Arbeitsmedizin in Baden. Weitere längerfristige Folgen, die nicht unterschätzt werden dürften, seien soziale Isolation und chronische Übermüdung.
Trotz diesen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit beschloss der Bundesrat auf Druck der Arbeitgeber, die Bewilligungen für Nachtarbeit zu erweitern - etwa für Fälle, in denen eine Firma für Schichtarbeit kein Personal findet oder das Personal den Wechsel mit Tagesschichten ablehnt. Laut Christiane Aeschmann, Leiterin Arbeitnehmerschutz beim Seco, wurde diese Zusatzregelung auf drei Jahre beschränkt. Die Versuchsphase läuft in diesem November ab. «Danach wird die Bewilligungspraxis aufgrund einer Befragung in den Betrieben neu beurteilt.»
2007 erteilte das Seco 4400 Betrieben eine Bewilligung für nächtliche Schichtarbeit und 207 Firmen eine solche für Dauernachtarbeit. Dazu kommen die Bewilligungen für vorübergehende Nachtarbeit in den Kantonen. In Zürich etwa wurden im letzten Jahr 304 solche Bewilligungen erteilt; seit 2000 sind es jährlich etwa 35 Prozent mehr. Auf Gewerkschaftsseite stösst die Aufweichung des Nachtarbeitsverbots auf Widerstand. So gelangte die Unia mit einer Klage ans Bundesverwaltungsgericht: Sie kritisierte, dass die Migros-Fleischproduktionsfirma Micarna eine Bewilligung für Dauernachtarbeit erhalten habe, obwohl dafür keine zwingende Notwendigkeit bestehe. Im Frühling hiess das Gericht die Klage teilweise gut. Die Migros habe nicht belegen können, warum kein Schichtbetrieb möglich sei. Dass viele Angestellte Kinder hätten und deshalb regelmässige Nachtarbeit der Schicht vorziehen würden, genüge nicht als Begründung. Entscheiden muss nun das Bundesgericht.
Bei den Angestellten ist Nachtarbeit durchaus beliebt, insbesondere wenn es jemandem gelingt, für sich einen stimmigen Rhythmus zu finden. Hinzu kommt der finanzielle Anreiz: Wer regelmässig nachts arbeitet, erhält einen Zeitzuschlag von zehn Prozent, die als Freizeit «ausbezahlt» werden, und je nach Gesamtarbeitsvertrag (GAV) happige Lohnzuschläge; im Druckgewerbe etwa belaufen sich diese Zuschläge in einzelnen Betrieben inklusive Zeitguthaben auf 125 Prozent, der GAV der grafischen Industrie sieht mindestens 100 Prozent vor.
Doch jahrelange Nachtarbeit geht an niemandem spurlos vorbei. Die erwähnte Seco-Studie stellte fest, dass «einerseits der natürliche Alterungsprozess die Anpassung an unregelmässige Arbeitszeiten erschwert, anderseits Schichtarbeit den Alterungsprozess beschleunigen kann». Gesetzlich geregelte Schichtwechsel, strenge Ruhezeitvorschriften und Zeitzuschläge sollen negative gesundheitliche Folgen der Nachtarbeit möglichst gering halten (siehe untenstehende Box «Gesundheit: Was Nachtarbeit verträglich macht»). Kontrolliert wird die Einhaltung vor allem über die Bewilligungspraxis: «Für Bewilligungen, die jedes Jahr neu erteilt werden, müssen Schicht- und Einsatzpläne sowie die Bestätigung der ärztlichen Untersuchungen eingereicht werden», so Christiane Aeschmann. Fehlen die Nachweise, wird der Betrieb ermahnt, dann gebüsst, und nötigenfalls wird die Bewilligung verweigert.
Nicht alle Organe arbeiten während 24 Stunden gleich gut. Jeder Bereich des Körpers und jede Zelle hat eine eigene innere Uhr. Diese muss täglich mit der «Zentraluhr» im Gehirn synchronisiert werden. Diese liegt im Hypothalamus und ist so gross wie ein Reiskorn. Sie reagiert auf Sonnenlicht und steuert unter anderem den Schlaf-wach-Rhythmus. Je nach Alter, Geschlecht und Typ verhält sich die innere Uhr unterschiedlich. Die Angaben in der Grafik sind deshalb Durchschnittswerte.
Gehirn: Die Leistungsfähigkeit ist abhängig vom Schlaf-wach-Rhythmus. Zwischen 3 und 5 Uhr senkt das Gehirn seine Leistung, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Das Schlafbedürfnis ist um diese Zeit am stärksten. Zwischen 10 und 12 Uhr hingegen läuft das Kurzzeitgedächtnis auf Hochtouren. Frühaufsteher sind nun denkerisch in Bestform. Die Reaktionszeit ist spätnachmittags am kürzesten.
Lunge, Bronchien: Der Durchmesser der Bronchiendurchgänge verringert sich in der Nacht. Diese Verengung reduziert die Luftzufuhr bis zu 60 Prozent. Asthma-Anfälle treten deshalb häufiger in der Nacht auf. Am späten Nachmittag hingegen sind die Luftwege am weitesten geöffnet.
Körpertemperatur: Am höchsten ist sie gegen 18 Uhr. Danach fällt sie um etwa ein Grad, bis sie zwischen 3 und 4 Uhr am tiefsten ist.
Blut, Herz: Um 8 Uhr ist die Konzentration der Blutplättchen, die für die Gerinnung zuständig sind, am höchsten. Herzinfarkte sind um diese Zeit am häufigsten.
Leber: Zwischen 17 und 18 Uhr baut sie Alkohol am besten ab.
Magen, Verdauung: Nachts lockert sich der Übergang zwischen Magen und Speiseröhre. Der saure Magensaft kann dadurch vermehrt aufstossen. Die Darmtätigkeit geht zurück. Zwischen 12 und 14 Uhr produziert der Körper hingegen viel Magensäure.
Muskulatur, Knochen: Die beste Zeit für Muskelaufbau und Ausdauertraining beginnt um 17 Uhr und dauert bis in den frühen Abend. Dies hat unter anderem mit der erhöhten Herzfrequenz und den Nerven zu tun. Diese leiten Impulse schneller weiter. Auch die Gelenke sind um diese Zeit flexibler.
Hormone: Schläft man zu wenig, nimmt das Hormon Leptin ab. Es zeigt das Sättigungsgefühl an. Im Gegenzug hat man mehr vom Hungerhormon Ghrelin im Blut. Folge: Der Körper verlangt nach kohlenhydratreicher Nahrung. Forscher in den USA haben den Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit und Schlafmangel belegt. Das Hormon Cortisol, das eine Art Weckfunktion hat, erreicht seine höchste Konzentration gegen 8 Uhr. Danach geht es im Verlauf des Tages zurück. Melatonin hingegen reguliert den Schlaf und wird am Abend des Schlaf-wach-Rhythmus abgesondert.
Quellen: J. Ackerman: «Sex sleep eat drink dream», Houghton Mifflin; Klinik für Schlafmedizin; P. Spork: «Das Uhrwerk der Natur», Rowohlt
Gesundheit: Was Nachtarbeit verträglich macht
- Die Arbeitsräume sollten hell sein und ab 3 Uhr heller ausgeleuchtet werden können. Künstliches Tageslicht hilft, die Ermüdung zu überwinden (siehe auch Grafik).
- Vor allem gegen Morgen sind Pausen oder kurze Power Naps von 20 Minuten in geeigneten Ruheräumen wichtig.
- Eine angepasste Ernährung ist wichtig. Vor der Schicht: um 19 Uhr eine leichte Mahlzeit, dann während der Nachtschicht eine warme, fettarme Mahlzeit vor 1 Uhr und eine zweite, kleinere (Salat, Milchprodukte, Obst) zwischen 4 und 5 Uhr. Wichtig ist, viel zu trinken.
- Nach der Schicht rasch schlafen gehen und das Zimmer verdunkeln.
- Die normale Schlafenszeit von mindestens sieben Stunden einhalten, in nicht mehr als zwei Etappen unterteilen.
- Am günstigsten für die Gesundheit sind kurze Nachtarbeitsschichten von zwei bis drei Nächten in Folge.
- Nach Ende der Nachtschicht braucht es für die Umstellung und den Abbau des Schlafdefizits mindestens zwei normale Nächte.
- Angestellte ab 50 Jahren sollten die Möglichkeit haben, in die Tagschicht zu wechseln.
Arbeiten in der Nacht - das sagt das Gesetz
- Nachtarbeit ist verboten. In begründeten Fällen werden Ausnahmen bewilligt: bei vorübergehender Nachtarbeit vom kantonalen Arbeitsinspektorat, bei dauernder Nachtarbeit vom Staatssekretariat für Wirtschaft.
- Für vorübergehende Nachtarbeit ist ein Lohnzuschlag von mindestens 25 Prozent gesetzlich vorgeschrieben. Bei dauernder oder regelmässig wiederkehrender Nachtarbeit (mehr als 25 Nächte pro Kalenderjahr) besteht ein Anspruch auf einen Zeitzuschlag von zehn Prozent.
- Die Arbeitnehmer müssen in jedem Fall mit der Nachtarbeit einverstanden sein; bei Dauernachtarbeit ist eine schriftliche Einwilligung nötig.
- Wer regelmässig nachts arbeitet, hat obligatorisch vor dem Stellenantritt und danach alle zwei Jahre (über 45-Jährige jedes Jahr) Anrecht auf eine ärztliche Untersuchung.
- Zum Schutz der Dauernachtarbeiter muss der Arbeitgeber Massnahmen treffen: Ruhegelegenheiten, Transport vom und zum Arbeitsplatz, Verpflegungsmöglichkeiten und Ähnliches.