Vom Chef beschuldigt und überwacht
Bei Verdacht auf eine Straftat darf der Arbeitgeber ermitteln. Er muss jedoch strenge Regeln einhalten. Das zeigt der Fall von Alice A.
aktualisiert am 14. Juli 2020 - 08:53 Uhr
Pflegefachfrau Alice A. fühlt sich wie in einem Verhör. Der Direktor hat sie in sein Büro zitiert und wirft ihr vor, sie habe einen Patienten bestohlen.
Der Arbeitgeber muss Gerüchten über Straftaten innerhalb der Firma nachgehen. Das ergibt sich aus seiner Fürsorgepflicht – also der Pflicht, Gesundheit und Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu schützen. Dazu gehören auch die persönliche und berufliche Ehre des Angestellten, seine Stellung und sein Ansehen im Betrieb. Zugleich muss der Arbeitgeber diese Pflicht schonend ausüben. Er darf einem verdächtigten Arbeitnehmer also nicht einfach kündigen. Zuerst muss er die Vorwürfe intern untersuchen.
«Arbeitgeber sollten so viele Informationen wie möglich sammeln», sagt Roland Müller, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Bern. «Erst dann können sie entscheiden, ob sie bei der Polizei oder einer Untersuchungsbehörde Anzeige erstatten wollen.» Auch das gehört zur «schonenden Rechtsausübung»: Der Arbeitgeber darf nicht vorschnell zur Polizei gehen . Häufig ist das auch gar nicht in seinem Interesse. Sobald er die Sache nämlich den Behörden übergibt, verliert er die Kontrolle über das Verfahren. Mit einer gewissenhaften internen Untersuchung leistet er indes Vorarbeit für die Strafverfolgungsbehörden.
Der Arbeitgeber kann die Untersuchung auch einem unabhängigen Dritten übergeben. Das bietet sich erst recht an , je höher der Verdächtige auf der Hierarchiestufe steht und je schwerwiegender die Vorwürfe sind. «Das gilt insbesondere auch, wenn Mitglieder der Geschäftsleitung oder des Verwaltungsrats involviert sind. Dort wäre der Druck auf interne Mitarbeiter bei einer Untersuchung zu gross», sagt Müller.
Alice A. wird zu den Vorwürfen befragt, aber sie bringt kaum einen Satz über die Lippen. Sie hat das Gefühl, dass man ihr gar nicht richtig zuhört. Am liebsten würde sie aus dem Büro stürmen.
Das Gegenstück zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist die Treuepflicht des Arbeitnehmers. Er ist verpflichtet, sich einer internen Untersuchung und einer Befragung zu stellen. Aber er hat auch Rechte. Er muss sich angemessen verteidigen können. Ob seine Verfahrensrechte gar denen in einem Strafverfahren entsprechen müssen, ist juristisch umstritten. Massgebend sind immer die konkreten Umstände. Wenn der Arbeitgeber aber Verfahrensrechte verletzt, riskiert er in jedem Fall, dass ein Gericht die dadurch gewonnenen Beweise nicht berücksichtigt (sogenanntes Beweisverbot). Der Arbeitgeber muss den Angestellten zu Beginn einer Befragung über den Grund der internen Untersuchung informieren. Er muss ihm auch bekanntgeben, wer ihn belastet.
Ob der Angestellte Fragen beantworten muss oder ob er die Aussage verweigern darf, hat das Bundesgericht noch nie entschieden. Auch nicht, ob er eine Vertrauensperson beiziehen darf, etwa einen Anwalt oder ein Mitglied der Arbeitnehmervertretung. Je schwerer die Vorwürfe sind, umso eher dürfte das angemessen sein.
Am Ende des Gesprächs wird Alice A. ordentlich gekündigt, und sie wird per sofort freigestellt . Sie muss ihren Garderobenschrank leeren und darf sich von den Kolleginnen verabschieden. Irgendwie schafft sie es nach Hause. Dort bricht sie zusammen. Sie ist wütend und fühlt sich unfair behandelt. Eine Woche später geht Alice A. zu einem Anwalt.
Eine interne Untersuchung ist belastend. Selbst wenn sich die Vorwürfe nicht erhärten, kann das Vertrauensverhältnis auf Dauer zerstört sein. Für den Arbeitnehmer ist es deshalb wichtig, so früh wie möglich Einfluss zu nehmen. Wenn er mit Vorwürfen oder gar einer Verwarnung konfrontiert wird, reagiert er am besten immer schriftlich und stellt den Sachverhalt aus seiner Sicht richtig. Dasselbe gilt, wenn der Arbeitgeber sich weigert, die Untersuchung vollständig und korrekt zu protokollieren. Notfalls muss der Angestellte selber ein Gedächtnisprotokoll erstellen.
Wer vermutet, dass er unrechtmässig überwacht wird, spricht den Arbeitgeber darauf an. Wenn dieser untätig bleibt, kann der Arbeitnehmer auch eine Klage wegen Persönlichkeitsverletzung einleiten. Damit lässt sich die Überwachung stoppen, die gesammelten Daten müssen gelöscht werden.
Für eine Kündigung braucht es keinen triftigen Grund. Auf Verlangen kann ein Arbeitnehmer jedoch eine schriftliche Begründung verlangen, um sich gegen falsche Anschuldigungen zu wehren. Beobachter-Mitglieder erhalten hierzu eine Mustervorlage «Bitte um Kündigungsbegründung».
Der Arbeitgeber kann sich mit einer internen Untersuchung sogar strafbar machen. Zum Beispiel, wenn er illegale Mittel einsetzt (etwa Keylogger, um die Tastatur zu überwachen, oder Abhörgeräte) oder wenn er nötigend vorgeht. Massgebend sind die Umstände: Eine einzelne solche Handlung kann strafrechtlich unbedenklich sein, in ihrer Summe können sie aber eine Nötigung darstellen. Der Arbeitgeber macht sich etwa strafbar, wenn er eine Drohkulisse aufbaut, den Angestellten einschüchtert, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen, oder wenn er ganz allgemein autoritär und polizeiähnlich auftritt.
Wenn einem Angestellten gekündigt wird, ohne dass der Sachverhalt abgeklärt wurde, ist das missbräuchlich («Verdachtskündigung»). Der Arbeitnehmer kann sich wehren. Dazu muss er innerhalb der Kündigungsfrist schriftlich gegen die Kündigung protestieren. Wenn es keine Einigung gibt, kann er innert 180 Tagen, nachdem das Arbeitsverhältnis beendigt wurde, beim Gericht Klage auf Entschädigung einreichen. Die Entschädigung beträgt maximal sechs Monatslöhne.
Alice A. prozessierte bis vor Bundesgericht. Es stellte fest, dass der Arbeitgeber zu wenig unternommen hat, um den Sachverhalt abzuklären. Zudem gab der Direktor Alice A. keine Gelegenheit, sich unterstützen zu lassen. Erschwerend kam hinzu, dass die direkte Vorgesetzte und ein Stiftungsrat anwesend waren. Alice A. wurde völlig überrascht und konnte ihre Position und Ehre nicht wirksam verteidigen. Das Bundesgericht erachtete die Kündigung als missbräuchlich und sprach ihr eine Entschädigung von vier Monatslöhnen zu.
Verschiedene Arten von Verfahren
Es wird unterschieden zwischen einem Strafverfahren – zum Beispiel bei Verdacht auf einen Diebstahl – und einem firmeninternen Verfahren – etwa bei Weitergabe von Betriebsgeheimnissen. Die Migros hat kürzlich zugegeben, Telefonverbindungen von Mitarbeitern überprüft zu haben, was von Fachleuten kritisiert wurde. Es ging um vermutete Indiskretionen – also um eine allfällige Verletzung des Arbeitsvertrags. Wie bei einem Strafverfahren hat sich auch ein Arbeitgeber bei einer internen Untersuchung an bestimmte Regeln zu halten:
Per Video überwachen
Arbeitgeber müssen vorgängig über den Standort und die Einsatzzeiten von Kameras informieren. Selbstverständlich ist eine Videoüberwachung möglich, wenn sie richterlich angeordnet wurde.
E-Mails und Daten überprüfen
Ein Arbeitgeber darf Mailverkehr und elektronische Daten nur überwachen, wenn er vorgängig über Möglichkeit, Art und Ausmass solcher Kontrollen informiert hat. Eingewilligt wird oft mit Erklärungen, die bei Stellenantritt unterschrieben werden. Unzulässig sind Keylogger und GPS-Tracker.
Tasche kontrollieren
Arbeitgeber dürfen bei einem konkreten Verdacht Taschen kontrollieren. Der Angestellte muss dabei anwesend sein. Die Kontrolle sollte diskret, also in einem geschlossenen, nicht einsehbaren Raum erfolgen. Der Arbeitgeber protokolliert Kontrolle und Ergebnis. Der Angestellte bestätigt beides schriftlich oder ergänzt.
Befragen
Falls der Arbeitgeber Vorwürfe erhebt, muss er den Angestellten damit konfrontieren und ihm Gelegenheit zur persönlichen Stellungnahme geben. Der Arbeitgeber protokolliert die Aussagen. Der Arbeitnehmer sollte das Protokoll durchlesen und Anmerkungen anbringen. Es empfiehlt sich, jede Seite zu visieren.
Wurde Ihnen fristlos gekündigt, weil Ihre Firma den Besitzer wechselte oder aus einem anderen zweifelhaften Grund? Beobachter-Mitglieder können sich mit der Mustervorlage «Protest gegen eine fristlose Kündigung» wehren und informieren sich im Merkblatt «Wann ist eine Kündigung missbräuchlich».