Idyllen, Mystik und Magie
Geheimnisvolle Energien für Esoteriker, anschauliche Geschichte für Historiker und pure Schönheit für Touristen: Magische Orte bieten jedem etwas.
aktualisiert am 3. Juli 2017 - 13:29 Uhr
Es gibt sie fast überall auf der Welt: Orte, die eine ganz besondere Ausstrahlung haben. Die auf Menschen fast magnetisch wirken. Und von denen sich manche sogar Heilung oder Erlösung versprechen – der Ganges in Indien, der Uluru (Ayers Rock) in Australien oder die Grotte von Lourdes in Frankreich.
Auch die Schweiz hat Orte mit «magischer» Kraft. Touristen schwärmen vom Matterhorn, Pilger vom Kloster Einsiedeln und Höhlenforscher von den Höllgrotten. Einen magischen Moment kann aber auch erleben, wer einen Stein mit Spuren unserer Vorfahren betrachtet, wer die vernarbte Borke eines uralten Baums berührt oder die Stille in einer Höhle erlebt.
Das Bedürfnis nach magischen Orten scheint gross zu sein: Über 1500 Titel hat die Online-Buchhandlung Amazon zum Thema im Sortiment. Viele kommen aus der esoterischen Ecke – zum Beispiel «Orte der Kraft in der Schweiz» der 2002 verstorbenen Blanche Merz. Der Bestseller ist seit über zehn Jahren auf dem Markt und erscheint in der zwölften Auflage.
Die Autorin schreibt darin blumig von «kosmotellurischen Wirkkräften», von «unsichtbaren Globalnetzgittern» und «natürlichen Energiezonen». Wer sich darauf einlasse, könne Kraft schöpfen, wieder ins Gleichgewicht finden und seine Batterien aufladen.
Da sich das Buch so gut verkaufte, lancierte der AT-Verlag gleich eine ganze Reihe ähnlicher Titel. Sie beschreiben Wanderungen zu Orten der Kraft in diversen Regionen der Schweiz. Die Autoren ergänzen die ursprüngliche Theorie mit Kulturgeschichte – was die Bücher auch für jene lesbar macht, die nichts mit Esoterik am Hut haben.
Wer gar nichts von «positiven Schwingungen» und «guten Vibrationen» lesen möchte, ist mit den Büchern von Kurt Derungs besser bedient: Der promovierte Kulturanthropologe erforscht seit über 20 Jahren die mythologische Landschaft der Schweiz. Als Wissenschaftler vermeidet er das esoterische Vokabular, zum Beispiel den Begriff «Kraftort». Lieber spricht er von «Kultplätzen». Um sie aufzuspüren, recherchiert er in alten Schriften, streift durch die Dörfer und befragt Bewohner nach Legenden und Bräuchen.
«Früher hatte praktisch jede Siedlung einen Ort, der mit einer besonderen Bedeutung versehen war – dafür eignen sich Berge, Bäume, Steine und Quellen», erklärt der 49-jährige Ethnologe. Man habe die Natur verehrt, da man davon ausging, dass sie von den Seelen der Ahnen belebt sei. Dieses sogenannte animistische Weltbild stehe im Gegensatz zum mechanistischen Weltbild der Moderne, das die Natur als auszubeutende Ressource betrachte.
«An der Oberfläche ist die Schweiz eine völlig industrialisierte Landschaft. Unter der Decke aber schlummert eine faszinierende Gegenwelt», sagt Derungs. Er will die alte Mensch-Natur-Beziehung vor dem Vergessen retten und leistet damit indirekt auch einen Beitrag zum Naturschutz – schliesslich ist für uns oft nur das schützenswert, was auch eine Bedeutung hat.
Dass sich die Menschen in jüngster Zeit wieder mehr für ihre Wurzeln interessieren, erstaunt nicht. Gemäss dem amerikanischen Biologen Edward O. Wilson haben wir ein angeborenes Bedürfnis nach der belebten Umwelt, weil wir seit Jahrtausenden in engster Beziehung mit der Natur leben. Das moderne Leben ist geprägt von Industrielärm, Betonwüsten und Kunstlicht – als Ausgleich dazu kann man eine naturbelassene Landschaft als heilend empfinden.
Vergleicht man die Kraftorte von Merz und die Kultorte von Derungs, fällt auf, dass es sich oft um dieselben Beispiele handelt und dass sich viele von ihnen in einer ausgesprochen schönen Umgebung befinden – etwa die Menhire bei Falera, die Wasserfälle im Berner Oberland oder der Eichenhain bei Tamins. Esoteriker sehen dies als Zeichen dafür, dass an diesen Orten starke Energien fliessen. Ethnologen gehen eher davon aus, dass bereits die Menschen in grauer Vorzeit einen Sinn für Ästhetik hatten und schöne Orte für ihre Riten und Mythen wählten. Dabei ist eigentlich egal, ob man an spezielle Kräfte oder an alte Kulte glaubt: Schönheit berührt jede Seele – und wer sie entdecken kann, findet überall magische Orte.
Kein hiesiges Motiv hat mehr Downloads als Schloss Chillon. Die meisten Besucher zieht es an den Rheinfall. Und das Matterhorn wird am häufigsten im Netz gesucht.
Welches sind eigentlich die Orte in der Schweiz, die für ausländische Touristen eine magische Anziehungskraft haben? Geht man nach den auf der Homepage von Schweiz Tourismus eingegebenen Suchbegriffen, ist die Nummer eins ganz klar das Matterhorn. Dank seiner pyramidenförmigen Gestalt kann der Hausberg von Zermatt locker mit den berühmtesten Gipfeln der Welt mithalten – obwohl er nur halb so hoch ist wie der Mount Everest.
Orientiert man sich an den tatsächlichen Besucherzahlen, wird das Matterhorn vom Rheinfall geschlagen: Eineinhalb Millionen Besucher reisen jährlich nach Schaffhausen, um die tosenden Wassermassen zu bestaunen. Der Rekord ist einerseits dem gewaltigen Naturschauspiel zu verdanken, anderseits der praktischen Nähe zum Flughafen Zürich.
Nimmt man die Download-Zahlen von Schweiz Tourismus als Mass, ist Schloss Chillon am Genfersee der anziehendste Ort der Schweiz: Das Postkartenmotiv mit Schloss, See und Bergen ist das Bild, das am häufigsten heruntergeladen wird – ein perfekter Dreiklang von Kulturgeschichte, Naturidylle und Schneebergen.
Je nach Gesinnung und Nationalität gibt es natürlich noch andere Hotspots – zum Beispiel das Schilthorn für Kinoliebhaber (James Bond in «On Her Majesty’s Secret Service»), Engelberg und Titlis für Inder (beliebte Kulisse für Bollywoodfilme), Einsiedeln für Pilgerreisende (zur Schwarzen Madonna) oder die Reichenbachfälle für Briten (Schauplatz eines Sherlock-Holmes-Romans).
Die «Schwingungen» von Kraftorten werden nach dem französischen Physiker Alfred Bovis (1871–1947) in Bovis-Einheiten (BE) gemessen. Was dabei genau gemessen wird, ist allerdings nicht klar. Einen wissenschaftlichen Nachweis für solche «Schwingungen» gibt es nicht.
Andere Theorien reden von Kraftadern, die Kraftorte miteinander verbinden. Nach der These des englischen Hobbyarchäologen Alfred Watkins (1855–1935) sollen markante Orte wie Kirchen und Burgen auf geraden Linien liegen. Diese Theorie ist längst widerlegt; auch bei zufällig gewählten Punkten in der Landschaft lassen sich solche Gesetzmässigkeiten erkennen.