Paul Wasers filigrane Kunstwerke
In einer Stube entstand im Klitzekleinen, was riesengross auf einem Pilatus-Flieger landete: Kunsthandwerk des Innerschweizers Paul Waser.
Veröffentlicht am 13. Dezember 2019 - 12:07 Uhr
«Am besten erzählst du das», sagt Paul Waser und gibt die Frage, wie er zum Scherenschnitt kam, an seine Frau Andrea weiter. «Ich hatte bei der kantonalen Trachtenvereinigung einen Kurs gebucht, konnte aber nicht hingehen. Ich war schwanger. Da sagte Paul, dann gehe halt er. Er könne ja mit den Frauen ein wenig plaudern und mit ihnen einen Kaffee trinken.»
Es kam anders.
Wieder zu Hause am Kirchweg in Beckenried NW, fasste Waser den Entschluss, nach der Arbeit Scherenschnitte herzustellen. Er besorgte sich Papier, vorne schwarz, hinten weiss. Und er kaufte eine dieser kurzen spitzen Scheren mit zwei Augen aus Katzengold. Das eine Auge macht er am Zeigefinger fest, und mit dem Daumen schnippelt er das zähe, dünne Papier der Zeichnung auf der weissen Seite entlang. «Das Papier sagt dir schon, wohin. Die Schere bleibt am Ort!»
«Das Papier sagt dir schon, wohin. Die Schere bleibt am Ort!»
Erstaunlich, mit welcher Flinkheit die Fötzelchen auf den Stubentisch regnen und vom Stubentisch auf den Boden. «Ob Fasnacht oder nicht, wir haben Konfetti das ganze Jahr», sagt Andrea Waser. Erstaunlich auch deswegen, weil Paul Waser von Beruf Maurer ist und entsprechend kräftige Finger hat. «Maurer zu sein war für mich damals der schönste aller Berufe.»
Dann hob Paul Waser Harasse bei Remigi Lussi, der heimisches Obst vermostet und Nidwaldner Bier produziert, es heisst «Migi Bräu». Vor 16 Jahren fand er eine Stelle bei der Gemeinde Beckenried. Seither reinigt er mit seinem Putzwägeli die Strassen und auch den Hafen, an dem Dampfschiffe wie die «Schiller» oder Motorschiffe wie die «Gotthard» anlegen.
Um 17:15 Uhr ist Wasers Dienst bei der Gemeinde fertig, dann gehts ans Fischen oder Jagen oder mit Schere und Papier an den Stubentisch. Die Entwürfe zeichnet er auf die weisse Hinterseite, und dann fliegen die Fetzchen. Das ist seit 18 Jahren so.
Wasers erster Scherenschnitt zeigt eine Gämse. Von hinten. Ihr Bild hängt im kleinen Laden des Hauses, wo die fünfköpfige Familie wohnt. An sonnigen Tagen sitzen die Wasers im Garten und winken den Pilgern zu. Der Jakobsweg führt auch nach Beckenried zur Wallfahrtskapelle im Ridli. Und eine Lourdesgrotte gibts in Beckenried auch.
Im Laden verkauft Waser Karten und Originale oder die Sigg-Flasche mit dem Pilatus, einem Schiff samt Steuerrad, Enten, Kühen und Fahnenschwingern als Sujet. Bloss mit dem Anker, den Sigg sich gewünscht hatte, wusste Waser nicht, wohin. Nun hängen gleich zwei Anker als Lampen bei einer Tanzveranstaltung.
Scherenschnitt wird an den Kunstschulen nicht gelehrt, «und Papierschnitte finden auch keinen Eingang in die Kunsthäuser. Es sei denn, sie stammen von Henri Matisse», bedauert die Völkerkundlerin Felicitas Oehler, erste Präsidentin des Vereins Scherenschnitt Schweiz. Gesammelt werden die Werke zudem nicht von Kunsthäusern, sondern von völkerkundlichen Institutionen wie dem Basler Museum der Kulturen oder dem Musée gruérien im freiburgischen Bulle.
Die Technik dürfte aus China stammen, wo vor etwa 2000 Jahren erstmals Papier geschöpft und auf Sieben getrocknet wurde. Die Schere dürfte älteren Datums sein. Erst beides zusammen machte die Scherenschnittkunst möglich.
In der Schweiz verbreitete sich die Technik von den Städten aus aufs Land. Im 19. Jahrhundert setzten gutbürgerliche Eltern ihre Töchter ans Klavier und drückten ihnen einen Pinsel zum Malen in die Hand oder eben Schere und Papier. Als Vater der Schweizer Scherenschnittkunst gilt der Waadtländer Johann Jakob Hauswirth. «Er zog von Ort zu Ort, um Arbeit zu finden, und bezahlte sein Nachtlager oder eine Mahlzeit mit einem Scherenschnitt», schreibt Felicitas Oehler.
Zur international beachteten Kunstform wurden Scherenschnitte (französisch «silhouettes») ab 1941 durch Henri Matisse. Er sass wegen einer Krebserkrankung im Rollstuhl und konnte nicht mehr malen. Papier zu schneiden, zu ordnen und mit Reisszwecken und Stecknadeln an die Wand pinnen zu lassen, das war noch möglich. So schuf der Franzose bis zu seinem Tod 1954 grandiose Werke.
Paul Waser entfernt sich öfter von den ländlichen Themen. Eine der ersten Arbeiten des gelernten Maurers zeigt einen Camion, kräftig wie Waser selber. Pro Bild rechnet er mit 20 bis 50 Stunden Arbeit. Zu seinen Lieblingsmotiven zählen Häuser, die durchaus aus den 1950er oder 1980er Jahren stammen können. Immer gefragt sind seine Alpentiere, Hirsche, Rehe, Gämsen, aber auch Kühe. Ein etwa drei Meter hohes und neun Meter langes Scherenschnitt-Relief, mit dem Laser ins Holz gefräst, ist seit zwei Jahren im Fünf-Sterne-Resort Bürgenstock zu sehen.
Waser war 2018 auf dem Pilatus, als er zufällig den Assistenten des Pilatus-Verwaltungsratspräsidenten traf. Der bot ihm eine Zusammenarbeit an. Das Thema sollte die Jagd sein. «Da habe ich gestrahlt wie ein kleines Kind», sagt Waser. Als leidenschaftlicher Jäger hat er seine Tiefkühltruhe in Beckenried mit Wild aus der Umgebung gefüllt. 20, 30 neue Motive schickte er den Pilatus-Leuten. Von allem etwas. Tiere, Bäume, Jagd, sicher zehnmal einen Steinbock. «Die Scherenschnitte mussten so präzis wie möglich sein, wegen der Vergrösserung.» Die Motive wurden eingescannt und auf schwarze Folien an den über 14 Meter langen Rumpf eines Fliegers geklebt. Das dauerte fast eine Woche.
Als Paul Waser «seine» PC-12 in den Pilatus-Werken in Stans sah, wischte er sich Freudentränen ab und meinte: «Wenn ich genug Geld hätte, würde ich das Ding sofort kaufen. Es ist einfach grandios.»
- Mehr Informationen über Paul Waser: scherenschnitte-waser-paul.ch