«Cià trombett!», hallt es durch die klare Morgenluft. Ein Gemecker, ein Gebimmel, vom Grat kommt eine Herde schwarzer Ziegen heruntergerannt. Den ungewöhnlichen Lockruf, der sich mit «Komm, du kleine Schlampe!» übersetzen lässt, habe er von seinem Onkel übernommen, grinst Pietro Zanoli verschmitzt. Er hält einen Eimer in der Hand, der Melkschemel klemmt an seinem Hintern. Geduldig wartet jede Ziege, bis sie dran ist. Mit geübtem Griff lässt der Hirte die Milch herauszischen.

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Einst arbeiteten elf Familien auf der Alpe Nimi. Heute ist Pietro allein, mit über 150 Ziegen hat er eine Menge zu tun. Stolz zeigt er einen Stein, den er hier gefunden hat, er trägt die Gravur «1742», das Gründungsjahr der Alpe Nimi. Im Sommer 1950 sind die Familien vom Maggiatal zum letzten Mal heraufgekommen. Im folgenden Winter haben Lawinen die Wege zerstört. Die Alpe verfiel.

«Bis 1968 mein Onkel seine Revolution machte», erzählt Pietro. Gioachino Zanoli, Lastwagenchauffeur aus Gordevio, dem Talort, verliess Frau und Kinder, baute die Alpgebäude wieder auf, sömmerte während 33 Jahren Vieh auf der Alpe Nimi. Mit 78 wollte er nicht mehr. Der Neffe, ehemals Banker an der Zürcher Börse und Direktor eines Locarneser Campingplatzes, wollte nicht zusehen, wie erneut alles verfällt. Kurzerhand krempelte Pietro sein Leben um, wurde «Geissenpeter», wie er sich gern nennt.

Romantisch und authentisch

Steile 1375 Höhenmeter muss man vom Talgrund der Maggia hinauf zur Alpe Nimi überwinden. Ein schier endloser, aber wildromantischer Treppenweg führt unter knorrigen Kastanien durch, über uralte Steinbrücken und auf Maiensässe mit herrlicher Aussicht bis hinauf auf alpines Niveau.

Die Alpe Nimi bietet authentisches Alpleben. Manche Gäste, die den bescheidenen Luxus von SAC-Hütten erwarteten, kämen an ihre Grenzen, sagt Pietros Freundin Kathrin. Uns gefällts. Das eiskalte Wasser in der Open-Air-Badewanne ist nach dem schweisstreibenden Aufstieg genau die richtige Erfrischung. Der Blick auf Lago Maggiore und Monte Rosa ist einzigartig. Die Wollschweine liegen in ihren selbstgegrabenen Pools und grunzen zufrieden.

Nachmittags verarbeitet Zanoli die Ziegenmilch zu Käse. Formagella di Nimi, den er zum grössten Teil an Wanderer verkauft, aber auch zum Abendessen serviert. Sein jüngstes Projekt ist das Centro Capra Valle Maggia, ein Kompetenzzentrum für die Ziegenzucht und die Vermarktung ihrer Produkte. Sein Engagement wurde 2005 mit dem Prix Wilderness ausgezeichnet.

Das Maggiatal und seine Seitentäler sind seit langem von der Abwanderung betroffen. Wertvolles Alpgelände vergandet, Traditionen und lokale Erzeugnisse gehen vergessen. Die Häuser der Armen gehören heute den Privilegierten, Alphütten werden zu Rustici mit Satellitenschüssel ausgebaut, fussmüde Ferienhausbesitzer fliegen per Heli-Taxi hinauf.

Das Valle Maggia (Infografik: BeobachterNatur/REH)

Quelle: Iris Kürschner

Santina ist den Verlockungen eines bequemeren Lebens nicht erlegen, ist geblieben, zuhinterst im Val Lavizzara, dem östlichen Obertal der Maggia. Oberhalb von Fusio pflegt und hegt sie ihren Garten Eden. Auf den Märkten von Ascona und Locarno verkauft sie biodynamisches Obst, Gemüse und Honig. Im Winter stellt sie aus Stoffresten flauschig warme Hausschuhe her. Die Schulbank drückte Santina nur mit ihren Geschwistern und Cousins. 1982, ein Jahr nach ihrem Abgang, wurde die Schule geschlossen.

Nach einer Landwirtschaftslehre erkundete Santina die Welt. Im indischen Himalaya hat sie viel über den Buddhismus gelernt. Mit wenig glücklich zu sein und die Heimat zu lieben. Das sind für sie die Berge. «Und rund um Fusio ist es wie im Himalaya», sagt Santina. Das archaische Dorf klebt am Hang. Wir quartieren uns in der Antica Osteria Dazio ein, der einzigen Unterkunft. Traumhaft schön ist der Wanderweg hinauf zum Lago di Mognola, in dem sich raue Bergzacken spiegeln, wo die ersten zarten Blumen den Ufersaum zum Leuchten bringen.

Steil und verwunschen

Wenn man sich die steilen Bergflanken anschaut, kann man sich vorstellen, wie streng hier die Winter sind. Lawinen haben schon so manches zerstört, so auch 1986 die Kirche von Mogno, wenige Kilometer vor Fusio. Stararchitekt Mario Botta kreierte ein neues Gotteshaus und machte Mogno zum Wallfahrtsort.

Steiler als im Val Bavona können Bergflanken kaum sein. Das westliche Obertal der Maggia blieb im Winter – sogar gesetzlich verordnet – unbewohnt. Zu gross war die Lawinengefahr. Im Frühjahr zogen die Menschen von Cavergno («Cà d’inverno», Winterhaus) in ihre Siedlungen oben im Tal und mit dem Erwachen der Vegetation weiter hinauf zu ihren Maiensässen.

Heute betreibt hier kaum jemand mehr Alpwirtschaft. Die zwölf Bilderbuchweiler sind nur an schönen Wochenenden bewohnt, Wald hat sich ausgebreitet, der Fluss mit seinen glasklaren Becken ist Picknick- und Badeplatz. Ein verwunschener Talwanderweg hält zumindest geschichtlich die «transumanza», das Nomadentum, in anschaulicher Erinnerung. Ohne die Informationstafeln und Hinweise würde man vielleicht achtlos vorbeiziehen an den versteckten Besonderheiten wie den «prati pensili», den hängenden Wiesen, wo auf haushohen Felsblöcken winzige Äcker angelegt waren, um kein ebenes Stück dieses gewaltigen Trogtals zu verschwenden. Oder die «Splüi», unter Findlingen von Bergstürzen eingebaute Wohnräume und Ställe. Fantastische Kunstbauten sind auch die Wegtrassen durch die unüberwindlich wirkenden Steilwände zu den Hochtälern und Alpterrassen.

Aus den Naturkühlschränken sind edle Restaurants geworden

Das Buch «Nicht Anfang und nicht Ende» von Plinio Martini gibt ein eindrückliches Bild vom harten Leben im Val Bavona. Auf seinen Spuren steigen wir zur Alpe Solögna hinauf, nächtigen im Rifugio Piano delle Creste, passieren Bergseen und kehren durch das Val Calnègia zurück. Wasserfälle gischten in das abgeschiedene Hochtal. Die Brücke ist fortgerissen, ein Übersetzen geht nur halbnackt. Feuerlilie und Türkenbund gedeihen in den Wiesen. Aber auch Brennnesseln.

Fabio kämpft mit seiner Sense dagegen an. Er will nicht tatenlos vor seinem Rustico in Calnègia herumsitzen. Bevor Fabio Lehrer wurde, ist er mit seinem Onkel zur Alp gegangen. Vielleicht war ihm der Autor Plinio Martini, einst sein Lehrer, ein Vorbild. Fabio zeigt uns Hohlräume unter dem Fels, die als Keller genutzt wurden. Das ganze Jahr über herrschen dort drei Grad. Wer heute die Tessiner Grotti besucht, weiss kaum mehr von deren Ursprung. Wie im Grotto von Foroglio, am Fuss des Wasserfalls, der fast 110 Meter aus dem Val Calnègia ins Val Bavona stürzt. Aus den Naturkühlschränken sind edle Restaurants geworden.

Wander-Highlights im Maggiatal

Flusswanderung im Frühling

Wenn im Frühjahr in höheren Lagen noch Schnee liegt, bietet sich der Weg an, der der Maggia entlang und über viele abenteuerliche Hängebrücken führt. Den schönsten Abschnitt bilden die rund zweieinhalb Kilometer zwischen Someo und Giumaglio.
 

Von Cavergno nach San Carlo (938 m ü. M.)

Auf dem kulturhistorischen Lehrpfad durch das Val Bavona laden Grotti in den sehenswerten Weilern zur Einkehr ein.

  • Dauer: 3 Stunden; 670 Höhenmeter
  • Schwierigkeit: leicht
  • Beste Zeit: April bis Oktober
  • Route: Von Cavergno zur Hängebrücke und linksufrig der Bavona entlang, dann wieder über den Fluss nach Mondada und weiter nach Fontana, wo man in einem hübschen Grotto einkehren kann. Über einen Hügel nach Sabbione und an der Splüi di Inselmitt vorbei nach Ritorto. Hinter dem Weiler gehts über die Strasse wieder an den Fluss und nach Foroglio mit seinem berühmten Wasserfall und Grotto. In Foroglio kann man sich entscheiden für einen Abstecher ins Val Calnègia (zusätzliche zwei Stunden) beziehungsweise weiter in den Talschluss, durch die Weiler Rosèd, Faèd und Sonlèrt bis San Carlo. Mit dem Bus zurück zum Ausgangspunkt oder die Tour zum Rifugio Piano delle Creste anschliessen.


Tipp
Vom Tourismusbüro in Maggia den Gratisprospekt «La Val Bavona... e la transumanza» (auch auf Deutsch) mitnehmen.
 

zur Alpe Nimi (1718 m ü. M.)

Die Ziegenalp thront hoch über dem vorderen Maggiatal, grandioses Panorama.

  • Dauer: 7½ Stunden; 1375 Höhenmeter
  • Schwierigkeit: mittel
  • Beste Zeit: Ende Mai bis Ende September
  • Route: Vom Parkplatz an der Kirche von Briee (Ortsteil von Gordevio) über die Brücke und die Mulattiera steil hinauf nach Archeggio. An der Weggabelung links und über Brunescio zur Alpe Nimi (4¼ Stunden). Als Rückweg bietet sich der aussichtsreiche Höhenweg bis zu den Hütten von Aiarlo (1 Stunde) an. Dort entscheidet man, ob man nach Maggia oder zum Ausgangspunkt absteigen möchte. Nach Gordevio links abbiegen. Der Pfad führt zur Alpsiedlung Mella. Jenseits des Bachs zur Weggabelung bei Malai und zurück zum Ausgangspunkt.
  • Variante: Für die alpine Route über den Kamm von der Bergstation Cimetta (1642 m ü. M., Seilbahn und Sessellift von Locarno) zur Alpe Nimi (6 Stunden) sollte man sich erkundigen, ob sie schneefrei ist.
     

zum Lago di Mognola (2003 m ü. M.)

Klassiker im Talschluss des Val Lavizzara. An dem verträumten See beginnt eine Panoramaroute entlang einer historischen Wasserleite.

  • Dauer: 4¼ Stunden; 800 Höhenmeter Schwierigkeit: mittel
  • Beste Zeit: Juni bis Oktober
  • Route: Von Fusio ein kurzes Stück der Strasse Richtung Lago del Sambuco folgen, noch vor der Recyclingstelle rechts in den Wanderweg und steil zu den Hütten von Vacarisc. In der Linkskurve des Fahrwegs rechts weiter, unter einer Alp hindurch, über einen Bach und wieder steil bergwärts über Corte Mognola zum Lago di Mognola (2¼ Stunden). Am Seeausfluss links ein Stück am Ufer entlang, dann hinauf zu den Ruinen von Corte della Sassina, schliesslich in einer Querung in das Tälchen von Canà, wo der restaurierte Wasserkanal aus dem 17. Jahrhundert beginnt. Von Corte del Sasso senkt sich der Weg zur Alpe Vacarisc, von wo aus man nach Fusio zurückkehrt.


Unterkünfte

  • Capanna Alpe Nimi
    von Juni bis September alle Tage geöffnet
    Telefon 079 230 48 79
  • Antica Osteria Dazio in Fusio
    Telefon 091 755 11 62
    www.osteriadazio.ch
  • Hotel-Ristorante Basodino in San Carlo
    Telefon 091 755 11 92
  • Rifugio Piano delle Creste
    von Juni bis September alle Tage geöffnet
    Telefon 091 755 14 14
    www.sav-vallemaggia.ch


Weitere Informationen

Vallemaggia Turismo in Maggia
Telefon 091 753 18 85
www.vallemaggia.ch
www.ticino.ch

Wanderkarten bei Wanderland
map.schweizmobil.ch