Das regulierte Schulkind
Der Lehrplan 21 sollte eine Reform sein gegen den Kantönligeist im Bildungswesen. Er wurde zum Reglementiermonster.
Veröffentlicht am 17. Februar 2015 - 14:15 Uhr
2006 nahm das Schweizer Stimmvolk das sogenannte HarmoS-Konkordat (kurz für «interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule») mit 86 Prozent Ja-Stimmen an. Das Konkordat, das von der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) formuliert wurde, soll die Qualität und die Durchlässigkeit des Schweizerischen Schulsystems sichern und Mobilitätshindernisse abbauen.
Es hat konkret folgende Inhalte:
- Die obligatorische Schulzeit wird schweizweit auf elf Jahre verlängert, anstelle des bisherigen Kindergartens wird eine Vorschule oder Eingangsstufe eingeführt.
- Es werden für die ganze Schweiz übergeordnete Ziele für die obligatorische Schule eingeführt.
- Es sollen Instrumente der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung auf nationaler Ebene benannt werden, um die Anforderungen anzugleichen.
- Es sollen Instrumente für verbindliche Bildungsstandards bestimmt werden.
- Die Schule soll an nationale und internationale Portfolios angepasst werden.
Seit der Abstimmung hat die Erziehungsdirektion an einem gemeinsamen Lehrplan für die deutsch- und mehrsprachigen Kantone gearbeitet, der die Volksschule vereinheitlichen und allen Deutschschweizer Kindern einheitliche Lernziele geben soll. Der neue Lehrplan ist vermutlich das grösste Bildungsprojekt, an das sich die Schweiz je gewagt hat: Fast acht Jahre lang dauerte die Arbeit, insgesamt waren rund 200 Fachleute beteiligt. Ende 2014 wurde die überarbeitete und gekürzte Version des Lehrplans 21 von den Deutschschweizer Erziehungsdirektorinnen und direktoren freigegeben. Nun entscheidet jeder Kanton gemäss den eigenen Rechtsgrundlagen über die Einführung. Die Einführung war in den meisten Kantonen auf das Schuljahr 2017/18 vorgesehen. Bereits gibt es aber Widerstand und Verschiebungspläne. Ob der Lehrplan 21 von den Lehrern je genutzt wird, ist offen.
- Übers Ziel hinaus geschossen: Die Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungskommissionen (EDK) hat den Auftrag allzu wörtlich genommen. HarmoS sollte die Schule einfacher machen, doch herausgekommen ist ein bürokratisches Monster: Rund 200 Fachleute haben nach acht Jahren Arbeit hinter verschlossenen Türen ein Konvolut vorgelegt, das in der ersten Version 557, in der abgespeckten Ausgabe immer noch 470 Seiten dick war. Über die Gesamtkosten schweigt man sich aus.
- Bürokratiemonster: Der neue Lehrplan umfasst 363 Kompetenzen, unterteilt in 2304 Kompetenzsstufen; in der ersten Version waren es sogar 819 mehr. So zerlegt man Schule und auch Schüler in ihre Einzelteile – so lange, bis man das Ganze aus den Augen verliert.
- Fragwürdige Ausrichtung: Das Zauberwort der neuen Bildungsbibel heisst Kompetenzen. Man misst nicht mehr, was die Schüler wissen, sondern was sie können sollen. Das klingt zwar super, doch der Lehrplan 21 definiert nur in wenigen Bereichen, welche Bildungsinhalte die Lehrer den Schülern beibringen sollen. An erster Stelle steht das Erarbeiten von messbaren Kompetenzen, die meist an beliebig austauschbaren Inhalten erworben werden können.
- Die Schwachen haben wenig Chancen: Eine Schulklasse ist heute ein gruppendynamisches, von hierarchischen Strukturen geprägtes Gefüge, in dem, wenn der Lehrer schlau ist, auch einmal der Schwächere vom Stärkeren lernt – weil der Lehrer das so aufgleist. Isoliert man dagegen die Schüler, lässt sie quasi-individuell von einem Lern-Coach betreuen, werden die Guten rasant schnell noch besser – und die Schlechten schlechter. Auf der Strecke bleibt die Chancengleichheit.
Zusammenfassend kritisiert Erziehungswissenschaftler Walter Herzog: «Der Lehrplan 21 nützt all denen, die die Schule stärker kontrollieren und vermessen möchten, denjenigen, die Tests entwickeln und durchführen wollen, weil sie damit Geld verdienen. Messbarkeit per se bringt nichts. Die Sau wird ja auch nicht fetter, bloss weil man sie wiegt.»
Man müsse ernsthaft befürchten, dass sich die Lehrer künftig vor allem an den Prüfungen orientierten. «Das nennt man ‹teaching to the test›, Lehren für die Prüfung – und genau das bringt kein sehr nachhaltiges Lernen.»
Der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) sieht die ganze Kritik nicht so: «Der Lehrplan 21 nützt denen, die wissen wollen, was in der Volksschule läuft, denen, die Lehrmittel herstellen, denen, die Tests anbieten, und denen, die sich beim Unterrichten und Lernen orientieren wollen», sagt Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle beim LCH.
Auf die Frage, was denn am Schluss von der Vision und vom Projekt Lehrplan 21 übrig bleiben werde, meint Anita Fetz lapidar: «Ein rein nutzenorientiertes Bildungsverständnis – und ein ordinäres Sparprogramm.» Wenn es weiträumig umgesetzt werde, schaffe es langfristig eher die öffentlichen Schulzimmer ab, statt die kantonalen Unterschiede zu überwinden.
Der Rektor und Buchautor Christoph Schmitt kämpft gegen «Bulimiepädagogik» – und sieht Handlungsbedarf bei der Ausbildung von Lehrkräften. Er sagt: «Man stopft Wissen in die jungen Leute».
Beobachter: Welche Schule brauchen wir?
Christoph Schmitt: Eine, die von Anfang an Kindern und Jugendlichen die Kompetenzen vermittelt, die sie in einer ziemlich unvorhersehbaren Zukunft brauchen, um lebens- und gestaltungsfähig zu sein.
Beobachter: Welche Kompetenzen sind gefragt?
Schmitt: Es gibt Grundkompetenzen, über die man gar nicht diskutieren muss: die Kompetenz, zu kooperieren, zu kommunizieren, sich in der Gesellschaft angemessen zu bewegen. Und dann braucht man Kompetenzen, die mit der Konstruktion, der Bewertung, der Hierarchisierung von Wissen zu tun haben. Genau die vermittelt die Schule leider nicht. Dass man im Moment die Wissensvermittlung gegen die Kompetenzvermittlung ausspielt, ist daher meines Erachtens ein Fehler.
Beobachter: Weshalb?
Schmitt: Die Schule erfüllt eine von der Gesellschaft zugewiesene Aufgabe der Selektion und der Leistungsmessung und eine sehr unfruchtbare Form der Informationsmast. Es ist eine Bulimiepädagogik: Man stopft Wissen in die jungen Leute, ohne ihnen beizubringen, wie sie darüber nachdenken und wie sie es anwenden sollen.
Beobachter: Wird das durch den Lehrplan 21 noch schlimmer?
Schmitt: Nicht, wenn wir uns schleunigst an die Ausbildung von Lehrpersonen machen und die Professionsentwicklung anpacken. Je höher die Schulstufe, desto grösser ist der Handlungsbedarf, desto professioneller muss die Ausbildung werden. Vor allem im Gymnasium brauchen Lehrer nicht noch mehr Fachkompetenzen, sondern reflektiertes fachdidaktisches Können.
«Für mich ist ein Lehrer gut, wenn er die Schüler nicht einfach zutextet.»
Christoph Schmitt, Rektor des Gymnasiums Immensee SZ sowie Coach, Supervisor und Autor des Buches «Bildung auf Augenhöhe».
Beobachter: Dann soll man keine neuen Lehrpläne erstellen, sondern die Ausbildung überdenken?
Schmitt: Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Schulentwicklung ist natürlich auch ein Thema. In der Schweiz haben wir den Vorteil, dass Schulen eine relativ grosse Autonomie haben, anders als in Deutschland, wo der Kultusminister über allem hockt. Dieses Gestaltungspotenzial müsste man wahrnehmen. Man muss also gleichzeitig Lehrpersonen im Hinblick auf die neuen Herausforderungen ausbilden, eben weg vom «Von-oben-herab-Eintrichtern», und eben zugleich auch die Schulen weiterentwickeln.
Beobachter: Was muss in den Rucksack eines Lehrers, was heute nicht drin ist?
Schmitt: Das Bild des gepackten Rucksacks ist überholt: Es geht nicht nur um Inhalte. Vielleicht muss die Ausbildung den Rucksack ablegen und sagen: Lernen funktioniert anders. Die wichtigste Kompetenz ist wohl die, sich auf Unterrichtssituationen einzulassen. Ein Kollege von mir hat einmal gesagt: «Du kannst eine Schulstunde nicht planen, nur gut vorbereiten.» Das finde ich absolut richtig. Und genau diese Differenzierung hat in unserem Ausbildungssystem keinen Platz.
Beobachter: Aber sonst ist alles in Ordnung?
Schmitt: Es fehlt das Nachdenken über die eigene Bildungsbiografie. Frischgebackene Lehrerinnen und Lehrer greifen in Konfliktsituationen nicht etwa auf das kognitive Wissen zurück, das sie sich an der pädagogischen Hochschule angeeignet haben, sondern auf ihre eigenen Erfahrungen als Schülerinnen und Schüler. Das ist ein psychologischer Kniff, der in der Lehrerausbildung noch nicht reflektiert wird.
Beobachter: Was braucht ein guter Lehrer abgesehen von dieser Reflexion?
Schmitt: Fachdidaktische Kompetenz. Heute erwarte ich von meinem Lateinlehrer nicht mehr, dass er mir Latein beibringt, sondern dass er mir beibringt, wie ich Latein lernen kann. Er muss mir das Verständnis für die Struktur der Sprache vermitteln. Ein Lehrer kann ein rhetorisches Feuerwerk sein – ohne fachdidaktische Kompetenz wird er seine fachwissenschaftliche Kompetenz nicht entfalten können. Für mich ist ein Lehrer dann gut, wenn er auf eine gegebene Situation in der Klasse professionell eingehen kann und die Schüler nicht einfach mit dem zutextet, was er sich vorgenommen hat. Aber solange an der Hochschule derjenige Dozent den Preis für die beste Didaktik kriegt, der seine Frontalshow technisch abwechslungsreich gestaltet, läuft etwas schief. Denn zukünftige Lehrpersonen sollten an ihren Ausbildnern ablesen können, worauf es im Klassenzimmer wirklich ankommt.
Schülerinnen und Schüler…
- können verschiedene Sprachen untersuchen (z.B. in Bezug auf Grussformeln, auf geschlechterbewusste Sprache, auf Gesprächsregeln in vergleichbaren Situationen, in Bezug auf Übersetzungsprobleme).
- können ein Buch auswählen, indem sie in verschiedenen Büchern schnuppern (z.B. durchblättern, Anfang oder Schluss lesen).
- können eigene und fremde Gesprächsbeiträge bezüglich ihrer Angemessenheit (z.B. Wortschatz, Artikulation, Verständlichkeit, Logik, Struktur) mithilfe von Leitfragen oder auf gezielte Aufforderung hin einschätzen.
Schülerinnen und Schüler…
- können über literarische Texte und die Art, wie sie die Texte lesen, ein literarisches Gespräch führen. Sie reflektieren dabei, wie sie die Texte verstehen und die Texte auf sie wirken.
Schülerinnen und Schüler ...
- können sich darauf einlassen, immer wieder neue Bilderbücher, Hörbücher, Hörspiele, Filme anzuschauen, zu lesen, zu hören und darüber zu sprechen.
- können unter Anleitung einzelne Figuren aus Geschichten beschreiben und darüber sprechen, was ihnen an der Figur/Geschichte gefällt.
- entwickeln Interesse am Austausch ihrer eigenen Erfahrungen mit literarischen Texten und können mitteilen, welche Geschichten ihnen gefallen und welche nicht.
- können beschreiben, was ihnen an gern genutzten Medien gefällt (z.B. Buch, Fernsehen, Film, Hörbuch, Spielgeschichte).
- können die persönlichen Lese-/Hör- und Seherfahrungen mit literarischen Texten den anderen verständlich mitteilen.önnen im Gespräch Bezug auf den Text nehmen, umschreiben, was sie gelesen, angeschaut oder gehört haben.
- können sich auch dann auf literarische Texte einlassen, wenn sie ihnen nicht auf den ersten Blick gefallen.
- können im Gespräch unter Anleitung ihre eigene Leseart des literarischen Textes formulieren.
- können unter Anleitung beschreiben, wie Figuren, Orte oder Handlungen auf sie wirken.
- entwickeln Interesse am Austausch unterschiedlicher Lese-, Seh- oder Hörerfahrungen eines literarischen Textes und vergleichen ihr Textverstehen.
- können ihr Verständnis des literarischen Texts mit Textstellen belegen.
- können im Gespräch verschiedene Bedeutungen und Verstehensweisen erkennen und sind fähig, einfachere Stellen selbstständig zu analysieren.
- können den anderen literarische Texte empfehlen, die ihnen gefallen. Sie können dabei ihren Lese-/Hör-/Sehgeschmack erläutern (z.B. mit Textbeispielen).
- können ihr Leseverhalten reflektieren: Wann und wo lesen sie was?
- können im Gespräch ihr Verstehen eines literarischen Textes formulieren und dieses dialogisch weiterentwickeln.
- können im Gespräch verschiedene Bedeutungen eines literarischen Textes erkennen und daher unterschiedliche Verstehensweisen entwickeln.
- können ihr Sprech-, Präsentations- und Gesprächsverhalten reflektieren.
Schülerinnen und Schüler…
- können mithilfe von Rückfragen beschreiben, welche Vorgehensweisen oder Sprechstrategien sie angewendet haben, um ihre Meinung zu vertreten.
- Im Bereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» heisst es zum Beispiel: «Die Schülerinnen und Schüler können sich als Teil einer Institution wahrnehmen und den Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, verschiedenen Herrschaftsformen und Entscheidungsprozessen verstehen.»
1 Kommentar
Wenn man Lehrer auf dem zweiten Bildungsweg geworden ist, d.h. man ein mehrjährigen beruflichen Hintergrund, verzweifelt man.
Ich weiss, was man für diverse Berufsgattungen braucht. Ein Schreinerlehrling muss eine Latte l=1.70m halbieren und kann das nicht, ging etwas schief.
und und und