In der Esoterik-Falle
Eine 13-Jährige gerät in die Fänge einer Esoterikerin, die als Sozialpädagogin an ihrer Schule arbeitet. Und geht durch die Hölle.
Veröffentlicht am 6. Juli 2015 - 13:51 Uhr
340 Menschen fordern in einer Petition den Rücktritt der Walliseller Schulpräsidentin Anita Bruggmann (FDP). Vorangegangen war ein jahrelanges Tauziehen zwischen der Walliseller Schulpflege, einer esoterisch angehauchten Schulsozialarbeiterin und der Familie der Schülerin (siehe Originalartikel vom 6. Juli 2015 unten).
Die Schulsozialarbeiterin zog die damals 13-Jährige mit esoterischem Hokuspokus in ihren Bann und entzog sie den Eltern. Das Mädchen versuchte, sich auf Grund der Vorkommnisse das Leben zu nehmen und erlitt eine posttraumatische Belastungsstörung, an der sie noch heute leidet.
Schulpräsidentin Anita Bruggmann wollte von esoterischen Einflüssen nichts wissen und stellte sich hinter die Schulsozialarbeiterin. Dabei war nachweisbar: Die Sozialpädagogin war eine Vertraute des One-Life-Gründers Michael Barnett gewesen und hatte die Schweizer Vertretung der sektenähnlichen esoterischen Bewegung geleitet. Mehrere Einträge im Web zeigen, dass sie sich nach wie vor in esoterischen Kreisen bewegt.
Es folgte eine Administrativuntersuchung sowie eine Pressemitteilung. Darin hiess es, die Sozialarbeiterin verbreite kein esoterisches Gedankengut und dürfe daher weiter an der Schule tätig sein. Der «Tages-Anzeiger» titelte daraufhin: «Eine Familie beschuldigte Sozialarbeiterin zu Unrecht» und stellte damit die Schülerin und ihre Familie als Lügner dar. Den Bericht der Untersuchung hielt die Schulgemeinde allerdings unter Verschluss.
Bis vor kurzem. Es zeigte sich, dass die Schulpflege schon damals um die engen Bande wusste, die ihre Angestellten zu esoterischen Kreisen hatte. Und dass die Schule ihr sogar Weiterbildungen bei der sektenähnlichen Organisation One-Life bezahlt hatte.
Artikel vom 6. Juli 2015:
Christa Koller* wirkt lebensbejahend, aufgeweckt. Der Eindruck täuscht: Die 18-Jährige ist seit vier Jahren wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung und hat einen Suizidversuch hinter sich. Der Grund: Ihre Schulsozialarbeiterin entfremdete sie von ihren Eltern – mit Lügen und esoterischem Hokuspokus. Der Spuk dauerte ein volles Jahr.
September 2010. Die damals 13-Jährige ist gerade in die Sekundarschule übergetreten, findet jedoch schlecht Anschluss. Wenige Wochen nach Schulbeginn führt die Klassenlehrerin mit allen Schülern ein Standortgespräch. Christa empfiehlt sie, sich bei Schulsozialarbeiterin Anna Meier* zu melden, da sie ein mangelndes Selbstwertgefühl habe und in der Klasse isoliert sei.
«Ich weiss nicht, wieso, aber als ich Frau Meier das erste Mal traf, war sie mir von Grund auf unsympathisch», erinnert sich Christa. Deshalb sagt sie der Lehrerin, dass sie eine Sitzung bei Frau Meier nicht für nötig halte. Zwei Wochen später drückt ihr die Lehrerin trotzdem einen Zettel mit einem Termin bei der Sozialpädagogin in die Hand. «Es dauere nur eine Viertelstunde. Ich solle doch ihr zuliebe hingehen.»
Christa tut wie gebeten. Wäre sie ihrem ersten Eindruck gefolgt, wäre ihr und ihrer Familie viel Leid erspart geblieben.
Meier heisst Christa willkommen; sie solle sich entspannen. «Sie sagte, sie sei eine ‹helle Lichtarbeiterin› und kommuniziere mit guten Geistern. Und dass sie Gottes Licht auf die Erde bringen müsse», erinnert sich Christa. «Ich fand das alles zwar sehr seltsam, aber es machte mich auch neugierig.» So erzählt die 13-Jährige der Frau von den Problemen in der alten Klasse und davon, dass man sie gemobbt habe. «Am Ende empfahl sie, ich solle von nun an jede Woche zu ihr kommen, statt in die Musikstunde zu gehen.»
«Die Sozialpädagogin umarmte mich mit einer Innigkeit, die ich nicht einmal von meiner Mutter normal fände.»
Christa Koller*
«Beim nächsten Mal befragte sie mich zu meinem Verhältnis zur Familie und speziell zur Mutter – wie oft sie mich in den Arm nehme, ob wir kuschelten. Und ob ich mich selber umarme», erzählt Christa. «Sie meinte, ich sei ein sehr armes Mädchen, sie müsse mich in den Arm nehmen.» Was die Schulsozialarbeiterin dann gleich tut.
Meier erzählt auch, sie habe Visionen, wie früher, als sie die Krebserkrankung ihres Vaters vorhergesehen habe. Und nun habe ihr eine Vision gezeigt, dass Christas Mutter nicht ihre leibliche Mutter sei und eine Psychose habe. Die 61-jährige Sozialarbeiterin weint in Anwesenheit des Mädchens, weil eine ihr nahestehende Person eine Psychose habe. «Sie sagte auch, ich ähnle einer indischen Hellseherin und sei quasi die Tochter, die sie sich immer gewünscht habe.»
«Damals war ich geschmeichelt, dass ich dieser Frau so viel bedeutete. Sie gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein», sagt Christa. «Heute vermute ich, dass sie es genossen hat, Macht über mich zu haben, mich zu manipulieren, bis ich sogar meine leibliche Mutter praktisch vergass.»
Immer wieder streichelt und umarmt Meier das Mädchen: «Mit einer Innigkeit, die ich nicht einmal von meiner Mutter normal fände.» Und sie prophezeit ihr, es werde ein helles Licht erscheinen, unter das sie sich stellen solle. «Angst müsse ich keine haben, wir seien immer innerlich verbunden.» Die Sache mit dem Licht sowie Geschichten über Voodoo jagen dem Mädchen trotzdem Angst ein: «Von da an schlief ich nur noch bei Licht.»
Christas Schulnoten sacken ab, sie ist ständig mit der «hellen Lichtarbeit» beschäftigt. «Ich konnte an fast nichts anderes mehr denken.» In den Herbstferien erzählt Christa ihren Eltern erstmals von den seltsamen Gesprächen mit der Schulsozialarbeiterin. Die Eltern sind beunruhigt. Sie wenden sich an Meier, diese wiegelt ab. Sie habe Christa einfach gern. Und das Mädchen habe eine blühende Fantasie.
Von «blühender Fantasie» wird später im Bericht des kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes nichts stehen. Dafür von einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der Erlebnisse mit der Sozialarbeiterin.
Trotz der Intervention ihrer Mutter besucht die Schülerin Meier weiterhin wöchentlich. Manchmal ruft sie zu Hause an und erklärt, sie müsse länger bleiben. Sie entfernt sich zunehmend von der Familie, alles Zureden und Diskutieren nützt nichts. Im Gegenteil. Christa zieht sich weiter zurück.
Christa hatte immer ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihrer Familie, besonders zur Mutter. «Doch je enger der Kontakt zu Frau Meier wurde, desto mehr nervten mich meine Eltern. Ich fühlte mich unverstanden und bevormundet, verstand nicht, wieso sie immer gegen Frau Meier redeten.»
«Wir waren ohnmächtig, kamen einfach nicht mehr an unsere Tochter heran», erinnern sich Christas Eltern. Die Tochter setzt sogar einen «Vertrag» auf, in dem sie sich verpflichtet, Meier bis Ende der Schulzeit zu besuchen. «Ich war in ihrem Bann, konnte meinen Blick kaum von ihren stechenden Augen wenden», erinnert sie sich. «Heute ist mir bewusst, dass Meier alles tat, um mich von meiner Familie zu entfremden. Doch damals hatte ich keinen eigenen Willen mehr. Ich fragte sie zu allem und jedem um Rat.»
Mitte Januar bringt Meier das Mädchen wegen einer Nickelallergie am Finger zum Arzt – ohne Wissen der Eltern und trotz Verbot durch die Schulleitung. Sie spielt sich dort als Christas Mutter auf.
Dann die Wende: Kurz vor den Sportferien erklärt Christa den Eltern, sie wolle nicht mehr zu den Treffen mit Meier. «Ich hatte schon während der Weihnachtsferien begonnen, über die Sache nachzudenken. Da ich Meier während dieser Zeit nicht sah, wurde ihre Macht über mich schwächer.»
Meier lässt ihr danach täglich von der Klassenlehrerin oder über Mitschüler ausrichten, dass sie sie gern habe und vermisse. «Das war mir nicht nur peinlich, ich fühlte mich auch unter Druck gesetzt.»
Einen Monat später ruft Christa weinend zu Hause an: Meier behaupte, sie habe die Stundenpläne vor ihrem Büro von der Wand gerissen, ihr Auto zerkratzt und das Türschloss aufgebrochen. Als Christas Mutter beim klärenden Gespräch anwesend sein will, lässt Meier via Christa ausrichten, sie wolle keine Erwachsenen dabeihaben.
Christa knickt ein. Meier gelingt es, das Mädchen erneut in ihren Bann zu ziehen. «Ich ging heimlich zweimal die Woche zu ihr. Und wartete nur darauf, 18 zu werden, damit ich zu ihr ziehen könnte.» Christas Eltern kämpfen derweil auf verlorenem Posten – die Tochter verweigert jeden Dialog. Sie verbieten ihr den Umgang mit der Schulpädagogin.
Am 1. April 2011 bleibt Christa nach der Schule fort. Alles Suchen ist erfolglos. Schliesslich erklärt Christas Lehrerin den aufgelösten Eltern, Meier habe ihre Tochter ins Mädchenhaus gebracht. Ein Schock!
«Ich habe – wie bei etlichen anderen Situationen – keinerlei Erinnerung daran, wie ich ins Mädchenhaus gekommen bin. Das Letzte, woran ich mich erinnere: dass Frau Meier sagte, es sei das Beste für mich.» Hat die Sozialarbeiterin Christa hypnotisiert? «Sie hat sehr oft ihren Zeigefinger schnell zwischen uns hin- und herbewegt», entsinnt sich Christa.
Zwölf Tage lang haben die Eltern keinerlei Kontakt zu ihrer Tochter. Meier hingegen ruft Christa mehrfach im Mädchenhaus an, und sie treffen sich zweimal. Meier sagt Christa, ihre Mutter liebe sie nicht. Und sie habe Angst, dass die Mutter das Bremskabel ihres Autos durchschneiden werde.
Sie gibt bei Polizei, Jugendamt und Vormundschaftsbehörde an, sich von Christas Eltern bedroht zu fühlen, und unterstellt, sie hätten ein Gewehr zu Hause. Zudem behauptet sie, Christa habe eine Psychose.
Schliesslich können die Eltern ihre Tochter via E-Mail davon überzeugen, dass sie sie sehr wohl lieben. Christa nimmt den nächsten Zug nach Hause.
Es folgen – fruchtlose – Gespräche mit der Schulpräsidentin. Von esoterischen Einflüssen will diese nichts wissen, sie hört auch nicht auf den Sektenexperten, den Christas Eltern beigezogen haben. Dabei ist nachweisbar: Sozialpädagogin Meier war unter dem Pseudonym Masuri eine Vertraute des One-Life-Gründers Michael Barnett und leitete die Schweizer Vertretung der sektenähnlichen esoterischen Bewegung. Mehrere Einträge im Web zeigen, dass sie sich nach wie vor in esoterischen Kreisen bewegt, ebenso wie ihr Lebenspartner, ein 20 Jahre jüngerer Physiotherapeut.
Statt das Problem mit der Sozialarbeiterin anzugehen, macht die Schule Christa und ihre Familie zu Sündenböcken. Die Lehrerin erzählt der Klasse, es sei alles gelogen und Christas Familie eine «Problemfamilie». «Ich durfte mit den anderen nicht mehr reden», sagt Christa. Schliesslich wird sie in einer Privatschule platziert. «Unter dieser Ungerechtigkeit leide ich bis heute am meisten: Ich musste weg – und Frau Meier darf an der Schule bleiben und weiterhin mit Jugendlichen arbeiten.»
Ende August 2011 begegnen sich Christa und Meier in der Badi. Die Frau lächelt dem Mädchen zu – und Christa ist wieder wie verwandelt. «Als sie mich fixierte und mich anlächelte, kamen die alten Gefühle wieder hoch. Es fühlte sich gut an, erzeugte aber auch enormen Druck.»
Nach zwei Wochen tritt Christa wieder ins Mädchenhaus ein, diesmal freiwillig. Sie will nicht mehr leben, unternimmt einen Suizidversuch.
Die Eltern erfahren davon erst Tage später. Sie bitten die Vormundschaft, den Kontakt ihrer Tochter zur Sozialarbeiterin zu unterbinden. Trotzdem gelingt es dem Mädchen, Meier anzurufen. Glücklicherweise erreicht sie nur den Telefonbeantworter. Drei Monate soll das Mädchen im Heim bleiben.
Schliesslich steht Christa am Nachmittag des 24. September 2011 nach neun Tagen Mädchenhaus überraschend vor der elterlichen Wohnung. Der Bann scheint gebrochen.
*Name geändert
Christa geht es heute psychisch besser, ihre berufliche Zukunft ist aber weiterhin unklar. Die heute 18-Jährige musste mehrfach die Schule wechseln; insgesamt hat das Erlebnis mit der Sozialarbeiterin sie um mindestens zwei Jahre zurückgeworfen.
Juristisch ist der Fall nicht beendet. Am 19. November 2014 ordnete der Bezirksrat eine zweite Administrativuntersuchung an. Wann diese stattfindet, ist noch immer ungewiss.
Für Christa und ihre Eltern geht es um Gerechtigkeit – und um mehrere zehntausend Franken Anwaltskosten und Rechnungen des Mädchenhauses. Die verschiedenen schulischen Notlösungen haben die Gemeinde über 100'000 Franken gekostet. Mindestens zwei weitere Kinder wurden von der Schulsozialarbeiterin psychisch manipuliert. Die Schulpräsidentin stritt das lange Zeit ab, obwohl sie von den Fällen nachweislich Kenntnis hatte.