Im August, eine Woche vor Beginn des neuen Schuljahres, verschickte die Stadt Zürich eine Medienmitteilung. Alle Klassenlehrerstellen seien besetzt. Gesucht würden nur noch einzelne Fachlehrer und Heilpädagogen.

Wieso überhaupt eine Medienmitteilung, die verkündet, was eigentlich völlig selbstverständlich ist? Dass jede Klasse eine Lehrperson hat?

Der Hintergrund ist wohl im Vorjahr zu suchen. Damals gab es zu wenig Kindergärtnerinnen – und Medien kritisierten, dass die Stadt Zürich mit einer «Schnellbleiche» für Quereinsteiger darauf reagierte. Dieses Mal hat die Stadt wohl darum etwas «überkommuniziert».

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Der «qualitative Lehrermangel»

Zwei Frauen schütteln da den Kopf: Marion Heidelberger, Vizepräsidentin des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH, und Zentralsekretärin Franziska Peterhans. «Natürlich», sagt Marion Heidelberger, «ist bei Beginn des Schuljahres vor jeder Klasse eine Lehrperson gestanden. Die Frage ist bloss: Was für eine?»

Die Zeiten, in denen sich Schulen ihre Lehrpersonen aussuchen konnten, sind vorbei. «Heute muss eine Schulleitung oft jene Person anstellen, die noch am ehesten für die entsprechende Schulstufe ausgebildet ist», sagt Franziska Peterhans. Inzwischen gebe es sehr viel stufen- und fachfremde Lehrpersonen, im Moment sind es 20 bis 30 Prozent. 

«In der Privatwirtschaft wäre die Situation klar. Wenn es zu wenig Leute hat, steigen die Löhne.»

 

Franziska Peterhans, Lehrerverband

«Wenn zum Beispiel für eine Klasse kein Oberstufenlehrer zu finden ist, bedienen sich die Anstellungsbehörden bei den Primarlehrern. Oder man sucht einen Lehrer, findet aber keinen, der die entsprechende Ausbildung in allen Fächern hat. Also stellt man einen an, der von fünf Fächern, die er unterrichten soll, nur in dreien entsprechend ausgebildet ist.» Das sei dramatisch, weil das stufenspezifische Wissen fehle. 

«Wir sprechen deshalb von qualitativem Lehrermangel», sagt Franziska Peterhans. «Es ist schon nicht so, dass man in ein Schulzimmer käme, und es ist kein Lehrer da. Aber möglicherweise eben einer, der nicht entsprechend ausgebildet ist.»

Verbesserung in Sicht? Ganz im Gegenteil...

Daran ändern auch Pressemitteilungen nichts. «Die Situation ist seit Jahren die gleiche, und sie wird sich in den kommenden Jahren noch massiv verschlimmern», sagt Franziska Peterhans. Es kommen drei Probleme zusammen, die sich gegenseitig potenzieren: Die Lehrer-Generation der Babyboomer kommt ins Pensionsalter, die Schülerzahlen steigen, und die Attraktivität des Berufs nimmt ab.

An den ersten beiden Entwicklungen lässt sich nichts ändern. Und man ist auf dem besten Weg dazu, auch die dritte zu verschlampen. «In der Privatwirtschaft wäre die Situation klar», sagt Peterhans. «Wenn es zu wenig Leute hat, steigen die Löhne. Das wäre toll, aber an den öffentlich-rechtlichen Schulen gelten andere Gesetze.»

Konkret: Die Lehrerlöhne sind in den letzten Jahren kaum gestiegen. Einzelne Kantone wie das reiche Zug können es sich zwar leisten, mit weit überdurchschnittlichen Salären gute Lehrpersonen aus den Nachbarkantonen anzulocken. Aber in anderen Kantonen, im Aargau zum Beispiel, ist der Reallohn zwischen 1993 und 2016 um 10,3 Prozent gesunken (Einsteigerlohn, Basis II, Mittelstufe/Gymnasium). 

«Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur noch nebenher unterrichte.»

 

Marion Heidelberger, Lehrerverband 

«Wenn man heute im Aargau Gymi- oder Seklehrer ist, hat man faktisch weniger in der Tasche als 1993. Das geht doch nicht», sagt Franziska Peterhans. Doch es gelinge nicht, Druck auf die Politik aufzubauen. «Viele Randkantone holen Lehrkräfte aus dem Nachbarland. Die pendeln und sind darum mit ihren Schweizer Löhnen hochzufrieden. Im Aargau arbeiten viele Deutsche, St. Gallen hat Inserate in Vorarlberger Zeitungen geschaltet.»

Als wären die seit Jahren stagnierenden Löhne nicht schlimm genug: Lehrpersonen müssen auch immer mehr leisten für ihr Geld. «Ich habe aufgehört, die Stunden zu zählen, die ich in Jahrgangsteams, Fachgruppen, Besprechungen zubringe», sagt Marion Heidelberger, die seit vielen Jahren als Primarlehrerin arbeitet. «Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur noch nebenher unterrichte.»

Zudem: Immer mehr Kinder leben bei nur einem Elternteil, können wegen ihres Migrationshintergrunds noch nicht gut Deutsch oder sind verhaltensauffällig – und brauchen eine spezielle Betreuung.

Teilzeitjobs werden zum Problem

Die Arbeit als Lehrer hat unzählige Vorteile. Da sind die 13 Wochen unterrichtsfreier Zeit, die zumindest von aussen sehr luxuriös aussehen. Und der Job eignet sich hervorragend für kleine Pensen und Wiedereinsteigerinnen. «Wir hören sehr oft: Ich werde mal Lehrerin, dann möchte ich Familie, und dann kann ich ja noch einen Tag in der Woche arbeiten», erzählt Marion Heidelberger. Und wenn der Nachwuchs Ferien hat, hat man selber auch frei.

Bloss werden die vielen Teilzeit-Lehrkräfte zunehmend zum Problem für jene, die ein volles Pensum stemmen. Sporttag organisieren? Am Schulfest dabei sein? Notenkonvent leiten? Prüfungsaufsicht machen? «Das verteilt sich auf immer weniger Schultern», sagt Marion Heidelberger. «Ich habe volles Verständnis, wenn man mit einem kleinen Pensum und Kindern nicht an seinen freien Tagen in die Schule kommen möchte – ich habe auch Kinder. Aber die Folgen dieser Aufsplittung sind ungut. Und sie tragen weiter zur Frustration von engagierten, erfahrenen Lehrpersonen bei.» Ein Teufelskreis.

Es mangelt an Heilpädagoginnen

Ein zusätzliches Problem für die Lehrpersonen ist: Seit 2002 müssen sie Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die früher in Kleinklassen betreut wurden, in Regelklassen integrieren. Das verlangt neue, zusätzliche Kompetenzen – oder mehr Personal, im Idealfall schulische Heilpädagogen. Doch ausgerechnet bei ihnen herrscht der grösste Mangel. Zwei von drei Schulleitungen geben an, es sei «schwierig bis unmöglich», geeignete Heilpädagoginnen und -pädagogen zu finden, zeigt eine Umfrage, die dem Dachverband LCH vorliegt.

Deshalb, sagt Primarlehrerin Marion Heidelberger, hätten Schulen damit angefangen, fehlende Heilpädagoginnen durch sogenannte Klassenassistenzen zu ersetzen. Das sind Personen, die für einen bescheidenen Lohn einfache Arbeiten im Schulzimmer übernehmen, um die Lehrpersonen zu entlasten – korrigieren, Fotokopien von Schulmaterial machen. 

«Das ist grundsätzlich eine gute Sache», sagt Heidelberger. «Aber wenn diese Assistenzen schulische Heilpädagogen ersetzen sollen, ist das ein Affront den Kindern gegenüber. Weil sie dann nicht die Unterstützung erhalten, die sie brauchen und auf die sie Anrecht haben. 

Ausserdem ist es eine Zumutung für die jeweilige Lehrperson: Ich muss dann jemanden zusätzlich betreuen und coachen. Das ist dann viel mehr Be- als Entlastung.» Und der Frust wächst weiter.

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Raphael Brunner, Redaktor
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