Epischer Nervenkitzel auf dem Bike
2070 Höhenmeter bergab, 615 bergauf, über 80 Prozent Singletrail: Der Alps Epic Trail in Davos zählt zu den spektakulärsten Mountainbikestrecken weltweit.
aktualisiert am 28. August 2017 - 14:04 Uhr
Noch etwas ungelenk müht sich eine Frau auf dem Mountainbike den Pfad hinunter. Elegant kurvt Michi Wild heran, bleibt auf dem engen Weg auf gleicher Höhe stehen und stellt ihr flugs den Sattel richtig ein. «Speed is your friend», gibt er ihr noch mit auf den Weg, bevor er sich in die nächste Kurve stürzt.
Oben auf den Gipfeln rund um Davos hat der Winter seine erste weisse Warnung verstreut, es ist kalt an diesem Herbsttag, fast frostig. Doch der Alps Epic Trail ist rege befahren.
Seit der abwechslungsreiche Weg vom Jakobshorn hinunter ins Sertigtal und via Rinerhorn und Monstein nach Filisur 2014 von der International Mountain Bicycling Association ausgezeichnet wurde, ist er so etwas wie das Aushängeschild der Bikeregion Davos. Mit über 80 Prozent Anteil Singletrail und einer Länge von 45 Kilometern verdient der Alps Epic Trail diese Auszeichnung – doch er bietet noch weit mehr.
Seit der Trail in jedem Führer, auf jeder Internetseite empfohlen wird, trifft man in der Bahn aufs Jakobshorn auf Leute aus der ganzen Welt. «Das geht so weiter, bis mir einer auf der Motorhaube landet», klagt ein Bergbauer, dessen Zufahrt zur Scheune Teil des Trails ist.
Mountainbiken ist ein Politikum in Davos, im Gegensatz zum längst etablierten Wintersport wird darüber noch intensiv diskutiert. Der Schnee bleibt in den ersten Wintermonaten je länger je mehr aus, das Geld muss anders eingespielt werden. Und so prallen am Berg Kulturen aufeinander, Bauern müssen neben Bikern, Wanderer neben Joggern zurechtkommen.
«Ich realisierte früh, welches Potenzial in der Region steckt.»
Michi Wild, Biketouren-Guide
«Es ist schwer, es allen recht zu machen», sagt Wild, nachdem er den Bauern, den er seit Jahren kennt, mit einem Schwätzchen besänftigt hat. Als Inhaber der Bike Academy vermietet und verkauft Wild Bikes und bietet Touren an. Er weiss: Es müssen Kompromisse gefunden werden.
Doch das ist nicht immer ganz einfach. Ist ein zweiter Bergweg geplant, damit Wanderer und Biker etwas mehr Platz haben, prallt man am Naturschutz ab. Eine Strasse für den Bergbauern wird dann aber bewilligt – ein weitaus grösserer Einschnitt in die Natur.
Heute funktioniert das Nebeneinander gut. Es geht gegen Mittag zu, die Sonne wärmt, wir legen uns schon mutiger in die Kurven. Neben Michi Wild begleitet uns Simone Meyer. Wenn die Ärztin nicht in ihrer Praxis oder auf den Skiern steht, sitzt sie fast sicher auf dem Bike – seit neuestem wieder. Sie hat lange pausiert, doch dazu später mehr.
Erst einmal geht es rasant den Berg hinunter Richtung Sertigtal. Eine Wandergruppe bleibt bereitwillig stehen, spendet sogar Szenenapplaus. Die Abfahrt ist einer der Höhepunkte der Tour. 730 Höhenmeter spult man alleine hier ab, wir fahren erst durch Geröllfelder, dann neben Beerensträuchern und schliesslich durch Föhrenwälder. Das Sertigtal ist der vielleicht stillste Ort rund um Davos, eine einzige, schmale Strasse führt zuhinterst ins Tal, wo der steile Wanderweg nur über den Sertigpass weiterführt.
Euphorisiert von der rasanten Abfahrt und zufrieden nach dem gemütlichen Mittagstisch im Restaurant Bergführer muss man sich den nächsten Aussichtspunkt so richtig verdienen: Aufstieg Richtung Rinerhorn. Der Weg steigt nicht nur an, er wird auch steiniger und schmaler. Es ist weder Wochenende noch Ferienzeit, und doch kreuzen sich Wanderer und Biker in erstaunlicher Regelmässigkeit. Wild grüsst routiniert, weiss, wo und wie am besten ausweichen. «Ich mache immer den Abschluss, denn ich bringe jeden noch so missgestimmten Wanderer zum Lachen», sagt er schmunzelnd.
Geboren und aufgewachsen ist der 44-jährige Wild im Zürcher Oberland. Nach einer kaufmännischen Ausbildung arbeitete er als Betriebsdisponent der SBB in der Ostschweiz. «Ich war viel im Büro, zu viel», erzählt er. Also sattelte er um, auf Forstwart, raus in die Natur. Das gefiel Wild ganz gut, doch irgendwann machte sein Sprunggelenk nicht mehr mit. Er kam nach Davos, wo er im Sommer als Zimmermann und im Winter in der Schneesportschule arbeitete. «2002 habe ich mein erstes Bike gekauft. Ich realisierte früh, welches Potenzial in der Region steckt.» Zwei Jahre später gründete er die Bike Academy. Von da an ging es nicht nur auf dem Velo steil aufwärts.
Wild hat nicht nur die Möglichkeiten der Hügel und Berge rund um Davos erkannt, er ist auch ein guter Netzwerker. Schaut mal im Tessin, mal im Berner Oberland vorbei – interessiert sich dafür, wie es die anderen machen. Er ist in Werbefilmen zu sehen. Und mittlerweile drehen sogar Weltklassebiker wie der Schotte Danny MacAskill mit ihm eine Runde in Davos.
Mountainbike zählt nach wie vor zu den absoluten Boom-Sportarten. In der Schweiz wurden im Sportsegment 2016 rund 157'000 Fahrräder verkauft – der grösste Teil davon Mountainbikes. Das ist erstaunlich, begannen doch die Pioniere schon in den siebziger Jahren, geländetauglichere Räder zu bauen. Ein erster Boom folgte etwa 25 Jahre später, als 1996 in Atlanta Mountainbike erstmals olympische Sportart war. Doch die Bauweise wurde stets weiterentwickelt, die Abfahrten am Berg wurden immer schneller, immer wilder, weshalb das Gefühl auf einem voll gefederten Mountainbike heute eher dem auf einem Traktor als einem herkömmlichen Velo gleicht.
Neuerdings vermietet Wild in seiner Bike Academy auch E-Bikes. Was erst nach übertriebenem Luxus klingt, entpuppt sich auf der Tour für den Journalisten, der mehr auf dem Stadtvelo zu Hause ist, als ziemlich nützlich. In kniffligen Situationen am Hang den entscheidenden Schub zu kriegen, ist gar nicht so schlecht. Die Unterstützung ist regulierbar, ins Schwitzen kann man also immer noch kommen. Wild attestiert E-Mountainbikes eine grosse Zukunft: «Die Leute haben immer weniger Zeit, auch in der Freizeit.» Wer dank dem E-Bike eine halbe Stunde beim Aufstieg spart, packt mehr in einen halben Tag. Aber ob mit oder ohne Motor: Früher oder später wird man auf einem Mountainbike auch mal stürzen. «Beine breit, Gewicht nach hinten», instruiert Wild, «denn fast alle fallen vornüber.»
«Steil, steinig, unwirtlich – für mich ist es reizvoll, das alles zu überwinden.»
Simone Meyer, Ärztin und Bikerin
Auch Simone Meyer ist schon gestürzt. 16 Jahre ist das jetzt her, es war ein gröberer Sturz. «Ich bin danach lange nicht mehr aufs Bike gestiegen», erzählt sie. Bis sie letztes Jahr ein gutes Mountainbike geschenkt bekam, wieder Vertrauen fasste und sich wieder in den Sattel wagte – und sogleich wieder richtig einstieg.
Das Radfahren in diesem unwegsamen Gelände hat für Meyer auch eine psychologische Dimension. «Steil, steinig, unwirtlich – für mich ist es reizvoll, das alles zu überwinden. Dazu zählte auch meine Angst vor einem Sturz.» Doch auch wenn einem das Biken helfen kann, Ängste zu überwinden: Schwache Nerven, Höhenangst und Trittschwäche sind schlechte Voraussetzungen, um den Alps Epic Trail zu absolvieren.
Die Szenerie rund um Jenisberg mutet wie ein Tessiner Geröllhang an. Das Gros der Fahrer steigt hier freiwillig ab und schiebt – und das nicht nur, wenn es auf der Gegenseite die Felstreppen bergauf geht. Trotz 2070 Höhenmeter reiner Abfahrt – der Trail ist mitnichten nur eine Downhill-Veranstaltung. Wer die ganze Strecke am Stück durchfahren will, muss nicht nur gute Fahrkünste und eine vernünftige Kondition, sondern auch mindestens einen Tag Zeit mitbringen. «Das Ganze in Eile durchzurattern, hat keinen Sinn und ist gefährlich», sagt auch Wild.
Wer dann am Ende dieses langen, schönen Tages in Filisur mit einer Monsteiner «Mungga» – einem Bündner Bio-Bier – in die Oktobersonne blickt, die schweren Beine streckt und sich die durchgeschüttelten Handgelenke reibt, der weiss: Es hat sich alles gelohnt. Auch der Journalist hat mächtig dazugelernt, auch er lernte den «Speed» als seinen «Friend» kennen – und mit einem kleinen Sturz auch seine persönliche Grenze. Aber die lässt sich verschieben. Zum Beispiel auf dem Epic Trail in Davos.
45 Kilometer, 2070 Höhenmeter abwärts, 615 Höhenmeter aufwärts. Der Start erfolgt auf dem Jakobshorn, das Ziel ist in Filisur.
Kürzere Abschnitte möglich. Für sattelfeste Biker, Trail-Schwierigkeitsgrad S 2.
Ein Mountainbike des Typs Enduro oder All Mountain ist für den Alps Epic Trail Voraussetzung. Die Räder sind bei diesen Modellen bis zu 29 Zoll gross, mit dem hohen Radstand und der Federgabel schlucken sie fast jeden Stein. Schutzkleidung ist empfehlenswert, ein guter Helm Pflicht, Handschuhe und ein Rucksack sind von Vorteil.