Die Giftigste hockt ganz unscheinbar in einer Ecke des Terrariums. Die Bananenspinne ist knapp vier Zentimeter gross, mausgrau und haarig. Ihr Biss ist tödlich.

Das hochgiftige Exemplar im nächsten Glaskasten ist nicht grösser als eine Daumenkuppe. Die «Schwarze Witwe» beisse gern in die Genitalien des Mannes, während er das Klosett benütze, steht auf dem Informationsblatt, das vor dem Terrarium auf dem Tisch liegt. Verfasst hat es der Aussteller Samuel Bodmer. «Die Giftigkeit interessiert die Besucher am meisten, darum habe ich sie bei jedem Tier extra erwähnt.»

Bodmer heisst eigentlich anders. Da er aber die Reaktionen seiner Nachbarn fürchtet, will er nicht, dass sein richtiger Name bekannt wird. «Vielen wäre es unwohl, wenn sie wüssten, dass in ihrer Nähe ein paar 100 hochgiftige Tiere leben», sagt er und zieht sich die Dächlikappe tiefer ins Gesicht.

Ein Hobbyraum voller Spinnen

Der 32-jährige Familienvater ist einer von 13 Ausstellern, die an der zweiten «Arachnexpo» in der Mehrzweckhalle Amriswil ihre Tiere präsentieren. Über 100 exotische Spinnen und Insekten sind hier zu sehen, dazu gibts Videos und Vorträge von Fachleuten. Die Spinnenfreunde des Vereins Arachnida Schweiz haben eingeladen, und das Publikum kommt in Scharen.

Bodmer verbringt jede freie Minute bei seinen Tieren. «Mein Keller ist wie eine Wundertüte.» Im Hobbyraum eines Wohnhauses in Frauenfeld züchtet er Skorpione und Giftspinnen. «Natürlich schliesse ich die Tür immer ab», sagt er, «und ich habe noch jedes entlaufene Tier wieder gefunden – früher oder später.»

Der Lokomotivführer erzählt von seinen Kontakten zu Wissenschaftlern. Stolz zeigt er seine schwangeren Skorpione. Seine Augen leuchten, wenn er die «liebevolle Brutpflege» des zehn Zentimeter langen Hundertfüsslers beschreibt, der sich von Mäusen ernährt. Fasziniert hätten ihn die Exoten schon als Bub, unterdessen züchte er als Einziger in der Schweiz erfolgreich «Schwarze Witwen». Eine junge Spinne verkauft er für 15 Franken pro Stück; damit finanziert er sein Hobby.

In der grossen Ausstellungshalle ist es dunkel, obwohl draussen die Sonne scheint. Beleuchtet sind einzig die sechs Tischgruppen. Ein Terrarium reiht sich hier ans andere. Die Zuschauer gehen von Tisch zu Tisch, spähen durchs Glas und suchen die Tiere.

Zu sehen ist nicht viel – oft hocken die Vogelspinnen in ihren Löchern oder sie verstecken sich unter ihrem Netz. Bewegung ist kaum auszumachen, Spinnen sind nachtaktiv. Verändert ein Tier trotzdem einmal seine Position, versetzt es die Betrachter in Aufregung: ekelverzogene Gesichter und skeptische Blicke – vielen ist nicht ganz wohl in ihrer Haut.

Auffällig verkrampft steht Doris Fässler in der Mitte des Raums – dort, wo der Abstand zu den Spinnen am grössten ist. Mit hochgezogenen Schultern, die Hände tief in den Ärmeln vergraben, wartet sie auf ihren Sohn. Die 34-jährige Hausfrau aus St. Pelagiberg leidet unter Arachnophobie – auf Deutsch: Spinnenangst. «Zu Hause muss mein Mann alle Spinnen entfernen. Oder ich zeige sie der Katze, die frisst sie dann.»

Ihr zehnjähriger Sohn Tobias geht unterdessen begeistert von Tisch zu Tisch und informiert dann die Mutter über seine neusten Erkenntnisse: «Der Lehrer hat Mist erzählt, die Wolfsspinne wird gar nicht 25 Zentimeter gross.» Am liebsten hätte er eine Vogelspinne als Haustier. Die Mutter schauderts.

Dauernder Kampf gegen Vorurteile

Der Ekel vor Spinnen ist weit verbreitet. Im Mittelalter brachte man die Achtbeiner mit Schmutz in Verbindung; sie wurden fälschlicherweise verdächtigt, die Pest zu übertragen. Heute haben sich Bilder aus Horrorfilmen in den Köpfen festgesetzt: giftige Vogelspinnen, die in Horden auftreten und Menschen überfallen.

Gegen diese Vorurteile möchte Patrick Locher ankämpfen. Deshalb hat er zusammen mit anderen Spinnenfans die Ausstellung organisiert.

Seine erste Vogelspinne kaufte der 27-jährige Informatiker vor vier Jahren, heute hält er über 200 Stück. «Ich bin ein Spinner», sagt Locher von sich selbst; im Dorf ist er bekannt als «Spiderman». Er lebt in einer Vierzimmerwohnung in Glattfelden. Ein Zimmer ist ausschliesslich für die Spinnen reserviert. 70 Terrarien stehen auf Ikea-Gestellen, in einer Ecke stapeln sich mehr als 100 kleine Plastikgefässe. In jedem hockt eine Vogelspinne – Spinnen sind Einzelgänger.

Locher züchtet verschiedene Arten und führt genau Buch, wann sich die Tiere häuten. So kann er den richtigen Zeitpunkt für die Paarung bestimmen. Wenn es so weit ist, setzt er ein Männchen zum Weibchen und sitzt stundenlang daneben. «Das Männchen braucht Mut, denn die Spinnenfrau ist viel grösser.» Wenn Locher das Spinnenpaar nicht rechtzeitig trennt, landet das Männchen nach dem Schäferstündchen im Magen des Weibchens.

Für Menschen ist die Begegnung mit einer Vogelspinne weniger gefährlich. Das Gift, das sie bei einem Biss in die Wunde spritzt, ist etwa gleich stark wie das einer Wespe und keineswegs lebensgefährlich, wie viele meinen. Locher wurde noch nie gebissen. «Ich behandle meine Tiere mit Respekt; ich sehe es ihnen an, wenn sie zupacken wollen.»

Und plötzlich ist die Panik weg

Der Fanatiker verbringt Stunden bei seinen Spinnen, füttert sie mit lebenden Grillen oder beobachtet sie einfach. «Mein Zimmer ist wie ein Fernseher mit 60 Sendern, ich schalte völlig ab», schwärmt er. Man müsse nur genau hinschauen, dann komme die Faszination von selbst. Locher staunt immer wieder über die Vielfalt der Farben und Zeichnungen auf den Spinnenkörpern. Seine Beobachtungen veröffentlicht er auf einer Homepage, via Webkamera können Interessierte seine Tiere betrachten. «Ich will das schlechte Image der Vogelspinne korrigieren.»
Darum ist Locher auch gleich zur Stelle, als sich Susanne Morgenegg an der Ausstellungskasse meldet – am ganzen Körper zitternd und mit schweissnassen Händen. Die 32-Jährige hält das Betrachten der Achtbeiner hinter Glas nicht aus. «Wenn jemand seine Angst überwinden möchte, helfe ich gern», sagt Locher. Er führt die Frau in den abgeschlossenen
Quarantäneraum. Dort entfernt er den Deckel eines Terrariums, stochert mit der Pinzette in der Korkhöhle herum und lockt so eine Vogelspinne aus ihrem Versteck. Bald krabbelt das handtellergrosse, haarige Tier über den Tisch und über Lochers Arm. Seine Bewegungen werden ruhig und fliessend – langsam hält er dann die Spinne Susanne Morgenegg hin. Das Experiment gelingt: Unter Tränen lässt die Frau die Vogelspinne über ihre Hand laufen, immer wieder. Locher ist gerührt: «Es ist ein schöner Moment, wenn jemand seine Spinnenphobie besiegt.» Morgenegg fasst es kaum: «Das Unmögliche ist plötzlich möglich, meine Panik ist weg.»
Unterdessen stauen sich die Besucher vor den Terrarien. Knapp 3000 Leute besuchen die zweitägige Ausstellung. Werner Jäckle aus Steckborn ist mit seinen Kindern da. «Sie sollen gar nicht erst eine Spinnenangst entwickeln.» Fasziniert streichelt die vierjährige Anita über ausgestellte Spinnenhaut. «Die hat ein Fell wie eine Katze», sagt sie erstaunt. Der sechsjährige Tobias versteckt seine Hände, er möchte lieber den Tierfilm schauen.

Auch für Notfälle ist vorgesorgt

Andrang herrscht vor den Terrarien der «Gespensterschrecken» und der «Wandelnden Blätter». Dominik Lamprecht betreut diese Tische. Der 13-jährige Sekundarschüler weiss viel und erklärt eifrig und stolz, denn sein Vater hält zu Hause über 50 Arten von exotischen Insekten.
Gern würde Lamprecht seine ungiftigen Insekten aus den Terrarien nehmen und seinem Publikum vorführen, doch das erlauben die Ausstellungsmacher nicht. Die Vorsichtsmassnahmen sind streng. Und für den Fall, dass trotzdem ein Tier aus dem Terrarium ausbrechen sollte, hängt neben der Rauchverbotstafel diskret eine Telefonliste mit den Notfallnummern des Toxikologischen Instituts, des Spitals und des Tierarztes. Dass in einem Plastikgefäss unter dem Ausstellungstisch von Samuel Bodmer über 150 junge, nur ein paar Millimeter grosse, giftige «Schwarze Witwen» herumkrabbeln, muss ja niemand wissen.

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