Ich probiere Geschichten an wie Kleider.
«Mein Name sei Gantenbein»

Da stehe ich nun, am Fuss des 3418 Meter hohen Piz Kesch und probiere deine Geschichte an wie meine neue Wanderhose. Wird sie mir gut passen oder wird sie mir unbequem sein? Wie werde ich dir begegnen, 20 Jahre nach deinem Tod, wenn ich deine Zeilen aus den Büchern nicht nur nachlese, sondern nacherlebe?

Das war 1942, ein Sonntag im April oder Mai, wir hatten Kantonnement in Samaden, Graubünden, (…) ich hatte Urlaub übers Wochenende, fuhr aber nicht nachhaus, sondern wollte ohne Menschen sein und ging in die Berge. Eigentlich war’s den Urlaubern strengstens verboten, allein in die Berge zu gehen, der Gefahren wegen; aber ich ging also trotzdem, und zwar auf den Piz Kesch. Übernachtet hatte ich in einem Heustadel, wo es hundekalt war.
«Mein Name sei Gantenbein»

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Ich suche die Antworten auf meine Fragen an einem sonnigen Morgen im Engadin. Die Tage zuvor hat es geschneit, recht früh für die Jahreszeit, es ist Anfang Oktober. Ausgerüstet mit Wanderstöcken und schweren Schuhen, laufe ich los. In meinem Rucksack: eine Wasserflasche, Kekse und zwei Stück in Leinen gebundene Weltliteratur. Meine Wanderung beginnt am Albulapass, auf etwa 2000 Metern Höhe. Zu Beginn lassen mich die vielen Kuhfladen noch an Lebewesen hier oben glauben, später werden die Haufen weniger, der Weg wird schmaler, das Panorama weiter. Talwärts breiten sich nahezu endlose, graubraune Geröllfelder aus, ganz leicht verschneit, wie ein viel zu gross geratener Nusskuchen, gleichmässig mit Puderzucker bestäubt.

Der Fels, jetzt im Nachmittagslicht, erschien wie Bernstein, der Himmel darüber violett, der kleine Gletscher dagegen bläulich, die Spalten zumindest, der Schnee eher wie Milch, nur meine tiefen Stapfen darin erschienen glasigblau. Alles reglos.
«Mein Name sei Gantenbein»

Nach einer Stunde: der erste Blick auf den Piz Kesch. Kaum ein Wanderer verirrt sich noch in diese Höhen, jetzt, wo die Wege schon schneebedeckt sind. Piz Bernina, Morteratsch, Piz Roseg, um die 4000 Meter hohe Gipfel, sie alle blicken herunter auf mich. Schweigen. Wir sind allein, Grossvater und Enkelin. Du schriebst einmal: «Es gibt keine Fiktion, die nicht auf Erfahrung beruht.» Ob du wirklich hier oben gewesen bist? Damals, im Frühjahr 1942? Vermutlich. Jetzt jedenfalls bist du da. Bei mir, in meinen Gedanken.

Ob ich mit dir über Bücher gesprochen habe? Eine so häufig an mich gestellte Frage. Haben andere Enkel oft mit ihren Grossvätern über ihre Arbeit gesprochen? Über ihren Alltag als Postbote, Lehrer oder Rechtsanwalt? Ich war 15, als du starbst. Noch kein Alter, in dem ich mich besonders für meine Berufswahl interessierte. Über deinen Tod 1991 hat selbst in Deutschland die «Tagesschau» berichtet, es gab Sondersendungen, die Zeitungen waren gefüllt mit Nachrufen. Für die Weltöffentlichkeit war ein namhafter Schriftsteller gestorben. Für mich mein Grossvater.

Auch wenn du keiner im klassischen Sinne gewesen bist. Zur Geburt der Enkelin kam ein Brief, Glückwünsche an die Eltern, aber leider sei wegen Lesungen keine Zeit für einen Besuch. Das war 1975, da zähltest du zu den wichtigsten Autoren der Gegenwartsliteratur. Ein Anruf zum Geburtstag? Nicht ein einziges Mal. Dass ich «Grossvater» sagen durfte, anstatt dich mit deinem Vornamen anzusprechen, mussten die Eltern für mich erkämpfen. Was hatte ich Freundinnen beneidet, die einen «Opa» hatten, doch das verbatest du dir. «Grosspapi», immerhin, das wurde der Kompromiss, später, im Schulalter, wurde daraus einfach Max.

Dennoch, du wusstest das Kind, das jeden Sommer mit dir in deinem Haus in Berzona im Tessin verbrachte, zu begeistern. Hast mir von deinen Reisen erzählt, immer mit zeigendem Finger am Globus, hast mich beim Pingpong-Spielen gewinnen lassen oder kleine Spielzeugpferde mit mir gebastelt. Einmal, ich war etwa fünf Jahre alt, hattest du versehentlich von mir aus einem Hochglanzprospekt ausgeschnittene Autos ins Kaminfeuer im Esszimmer geworfen. Meine Tränen waren so gross, dass du augenblicklich Pappkarton holtest und Ersatz für mich basteltest. Ich hütete ihn stolz, waren deine Autos doch viel schöner als jene aus dem Prospekt. Als ich später, vielleicht mit zwölf, wie jedes Mädchen ein Poesiealbum hatte, hast du darin ein kleines Gedicht für mich geschrieben. Ich kann es heute noch auswendig.

Ein Gebirgsbach fliesst quasselnd ins Tal. Schon lange bevor er zu sehen ist, kann ich sein Geschwätz hören. Ansonsten: absolute Geräuscharmut. Ich quere einen Steingarten mit Skulpturen, erbaut von Wanderern, die hier im Laufe der Jahre vorbeikamen und Schieferstücke aufeinandergetürmt haben. Jahre, Jahrzehnte. Bist du diesen Pfad gegangen, hast eine Skulptur hinterlassen?

Aber ich sah also niemand. Ich war allein wie auf dem Mond. Ich hörte die Schneescherben, die über die Felsen kollerten, sonst nichts, ab und zu das Klingeln meines Pickels an den scharfen Felsen, Wind, sonst nichts, Wind über den Grat.
«Mein Name sei Gantenbein»

Rast auf 2594 Metern. Auf einer Anhöhe flattert leuchtend rot die Schweizer Flagge im Föhnwind. Die Chamanna d’Es-cha ist geöffnet. Also gibt es doch Leben hier oben! Ich bestelle Rösti und ein Rivella. Frage die Hüttenwartin mit dem sonnengebräunten Knabengesicht, ob sie etwas über «Gantenbein» und eine darin beschriebene Wanderung von Max Frisch wisse. Sie schüttelt den Kopf. Aber Max Frisch, ja natürlich, den kenne sie, sagt sie, bevor sie damit fortfährt, einen Teppich auszuklopfen.

Der Schnee hindert mich daran, meine Spurensuche bis zum Gipfel fortzusetzen. Weiter oben, die Hüttenwartin bestätigt es, das ist nur etwas für geübte Bergleute. Du, das weiss ich, bist oft in die Berge gegangen, Erfahrung fehlte dir nicht. Für mich muss der Piz Kesch ein Anblick aus respektvoller Distanz bleiben. Zeit für den Abstieg.

Wieder im Tal, eine eher zufällige Spur: In der Buchhandlung in Pontresina liegt dein Roman «Stiller» ganz vorn im Regal, der einzige Frisch, der im Laden zu haben ist. Nachfrage bei der Buchhändlerin: Ob sie denn wisse, dass das Buch auch den Ort zum Thema mache. Stirnrunzeln, Erstaunen, nein, man habe den Roman hier, weil er eben eines der wichtigsten Werke des Schriftstellers sei. Ich nenne meinen Namen nicht und gehe weiter.

Zwischensaison im Engadin. Die Sonne noch wärmend, doch die weissen Bergspitzen und Reste des ersten Schnees auf der Via Maistra, der Dorfstrasse in Pontresina, zeugen davon, dass der Sommer vorüber ist. Die Natur ist hin- und hergerissen, noch plätschern die Brunnen, blühen die Pflanzen in den Balkonkästen, vereinzelt singen Vögel. Touristen mit umgebundener Jacke, man weiss ja nicht, wann die Kälte kommt.

Sie gingen durch girrenden Schnee, Hauch vor dem Mund; es war bitterkalt, aber schön, links und rechts die Wälle von Schnee, die Häuser wie unter weissen Daunenkissen, Sterne darüber, eine Nacht aus Porzellan. «Wo wohnst du denn eigentlich?», erkundigte sich Sibylle, als man vor dem kitschigen Portal ihres Hotels stand.
«Stiller»

Es gibt Vermutungen, dass es sich bei dem Portal, das du in «Stiller» beschreibst, um das des Grand Hotel Kronenhof in Pontresina handelt. Ich nehme ein Zimmer und suche vergebens nach dem von dir erwähnten Kitsch. Heute ist der «Kronenhof» eines der stilvollsten Häuser der Schweiz. 2008 erhielt er die Auszeichnung «Hotel des Jahres».

Nachmittagstee im Kaminzimmer, der aufmerksame Oberkellner im weissen Frack klappert leise mit dem Silbergeschirr. Ich staune über die fünf Zuckersorten, die er mir bringt. Aus der Hotelhalle nebenan höre ich den Pianisten «Für Elise» spielen. Um mich herum Menschen, für die Geld kein Thema ist. Man hat es eben.

Hast du dir ein solches Hotel geleistet? Oder nur deine Romanfiguren hierhergeführt? Keine Spur von dir. Weder die Hotelleitung noch die Haus-Chronik helfen mir weiter. Ich helfe mir selbst, indem ich mich von den Plüschsesseln zu einer Lesestunde überreden lasse. Je länger meine Suche dauert, desto weniger greifbar werden deine Spuren. Dafür, und das zählt für mich viel mehr, finde ich dich in meinen Erinnerungen.

Die Wärme des Kaminfeuers macht mich müde. Wie damals: Theaterpremiere, Schauspielhaus Zürich, 1989, dein letztes Stück, du bist anwesend, die ganze Familie, ein Platz in der Loge, perfekte Sicht, die Enkelin schläft. Natürlich hat es interessiert, was der Grossvater für einen Stoff auf die Bühne bringt: «Schweiz ohne Armee? Ein Palaver». Aber für eine 14-Jährige, noch dazu in Deutschland aufgewachsen, ein sperriges Stück. Wärme und Dunkelheit haben den Tiefschlaf begünstigt. Ob du böse warst, gekränkt? Nein, ich glaube nicht. Hätte es dir geschmeichelt, von der Enkelin bewundert zu werden? Ach. Das wurdest du in der Öffentlichkeit genug.

Alles war gut so, wie es war. Ein normaler Umgang zwischen Grossvater und Enkelin, und ich habe mit meinem Schlaf im Theater reagiert, wie ein Kind eben reagiert, das die Erwachsenenwelt nicht begreift. Ich verstand und verstehe so viel oder so wenig von Literatur wie Millionen andere Menschen auch.

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, dass ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: «Ich kenne dich.»
«Stiller»

Im vergangenen Mai wärst du 100 Jahre alt geworden. Viel ist geschrieben worden und wird auch weiter noch geschrieben werden. Doch wer von den vielen, die Texte über dich publizieren, hat dich auch gekannt? Hast du nicht in deinem Theaterstück «Andorra» geschrieben: «Du sollst dir kein Bildnis machen»? Sie alle, die schreiben und lesen, haben ein Bildnis von einer öffentlichen Figur, dem berühmten Frisch. Ich bin froh, dass ich nicht den Schriftsteller Frisch kennengelernt habe, sondern nur den Menschen Max. Genau so, wie er war.

Quelle: Peter Mathis


Der Weg zum Piz Kesch: Von Max Frisch literarisch verewigt Chamanna d’Es-cha: Bewartet bis Mitte Oktober. Der Aufstieg ab Zuoz oder Madulain dauert etwa drei Stunden. Übernachtung: ab 37 Franken (SAC-Mitglieder: 26 Franken).
Tel. 081 854 17 55
www.es-cha.com

Grand Hotel Kronenhof: Eines der schönsten Hotels in Pontresina. Der traumhafte Wellnessbereich bietet einen schönen Blick auf das Bergpanorama. Doppelzimmer ab 455 Franken.
Tel. 081 830 30 30
www.kronenhof.com

Wanderung: Max Frisch ist wohl ab Samedan gewandert. Katja Frisch nahm den Weg vom Parkplatz Punt Granda aus, den man vom Tal her auch per Taxi erreicht (im Voraus reservieren). Von dort führt ein Wanderweg in rund zwei Stunden zur Chamanna d’Es-cha. Gutes Schuhwerk vorausgesetzt, meistern ihn auch Ungeübte.