Dass ich mit 16 Jahren einen Monat lang in der chinesischen Stadt Xian mit einheimischen Mädchen und Buben Wushu trainieren würde, hätte ich mir nie träumen lassen. Noch vor fünf Jahren sagte mir der Name Wushu überhaupt nichts. Meine Mutter stiess damals auf ein Zeitungsinserat über diese chinesische Kampfkunst, die aus Filmen unter dem Namen Kung-Fu geläufig ist. Sie schickte mich in ein Schnuppertraining in der Nachbargemeinde Unterentfelden, wo es eine Schule der Schweizer Wushu-Akademie gibt. Seither trainiere ich wöchentlich an drei Abenden. Ich bekam immer mehr Spass an den Formen und Bewegungen.

Der China-Aufenthalt wurde organisiert von Jürg «Wisi» Wiesendanger, dem Gründer und Leiter der Wushu-Akademie. Wisi sagte, er wolle seine drei besten Schüler in Xian mit täglichem Privatunterricht und gemeinsamem Training mit chinesischen Wushu-Schülern noch gezielter fördern. Neben Lisa, 12, und Melanie, 13, war ich die Älteste, die ausgewählt wurde.

In Xian wohnten wir bei unserem chinesischen Wushu-Lehrer Fan, einem Freund von Wiesendanger. Er gab uns morgens zwei Stunden Privatunterricht. Seine Wohnung war europäisch eingerichtet. Wir hatten sogar eine Waschmaschine. Der Tagesablauf war klar strukturiert. Um neun Uhr standen wir auf, frühstückten und fuhren mit dem Taxi zum Unterricht in eine etwas düstere Sporthalle. Anschliessend gingen wir in einem Restaurant essen und legten uns dann zwei bis drei Stunden hin. Ich hatte unserem Trainer zu Hause nicht geglaubt, dass wir ohne Mittagsschlaf nicht durchhalten würden – aber er hatte Recht.

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Lob für blaue Flecken an den Händen
Von sechs Uhr bis halb neun Uhr abends trainierten wir mit den Chinesen. Wir gaben unser Bestes. Aber bei den Sprüngen konnten wir nicht mithalten. Auch das Krafttraining war uns zu streng. Anfänglich machte sich nach den vielen Schnellkraftübungen der Muskelkater bemerkbar. In den ersten Tagen hatte ich blaue Flecken an den Händen, was der chinesische Trainer lobend erwähnte. Bei verschiedenen Wushu-Formen werden die Hände aufeinander geschlagen – je härter, desto besser. Wöchentlich kamen wir wie geplant auf 25 Trainingsstunden. Wisi gegenüber äusserte ich einmal, wir würden ja nur trainieren, essen und schlafen. Das sei nicht anders vorgesehen, meinte er.

Schmerzhafter Drill für die Kleinen
Mir ist beim Training in der Sporthalle sofort aufgefallen, dass die Kleinen in China viel härter behandelt werden als bei uns. Der Lehrer steht bei den Übungen mit einem Stecken daneben und schlägt sie, wenn sie sich nicht genügend anstrengen, zu wenig Kraft aufbringen oder nicht perfekt springen. In ihrem Ehrgeiz unterstützen die Eltern diesen Drill. Mir taten die Kinder leid, wenn sie der Lehrer beim Spagat gegen den Boden drückte und sie zu schreien begannen. Von diesen Methoden blieben wir verschont. Wisi glaubt nicht, dass man damit weiterkommt.

An den Wochenenden machten wir Ausflüge. Damit wir uns mit ein paar Brocken verständlich machen konnten, erteilte uns Ye Qianqian, eine Deutschstudentin der Fremdsprachenuniversität von Xian, viermal pro Woche eine Lektion Chinesisch. Sie war mega nett und begleitete uns auch auf die Einkaufstrips in die Stadt. Ich erfuhr, dass Xian während elf Dynastien die Hauptstadt des legendären Reichs der Mitte war. Heute sind alle Strassen so breit gebaut und so dicht befahren wie unsere Autobahnen.

Auf der Strasse starrten uns die Leute an, als wären wir Aliens. Nach dem Besuch der so genannten Terrakotta-Armee, eines alten Grabfunds von rund 6000 Tonsoldaten und -pferden, waren wir plötzlich von 30 Strassenhändlern umringt, die uns Souvenirs aufdrängen wollten. Das war ein unangenehmer Moment. Peinlich war mir auch, als ein chinesischer Journalist in seinem Artikel über uns drei Mädchen die «goldfarbenen Haare und blauen Augen» besonders hervorhob.

Ich war zum ersten Mal im Ausland. Die zehn Stunden Flug nach Peking machten mir keine Mühe. Auch das Essen mit den Stäbchen ging mir leicht von der Hand. Aber es gab so viele fremde Eindrücke, dass ich sie nur schwer beschreiben oder zusammenfassen kann. Noch heute sehe ich im Traum Bilder aus China. Berührt hat mich, dass so viele Leute auf der Strasse leben und betteln müssen. Einmal lief mir eine Bettlerin auf dem Markt nach. Ich beobachtete auch, wie Menschen auf dem Boden schlafen müssen.

Wunschtraum Olympische Spiele
Nach China fühlte ich mich topfit. Ich wäre gerne noch länger geblieben. Wenn ich dort aufgewachsen wäre oder so intensiv trainieren könnte wie die Chinesen, könnte ich noch viel zulegen. Aber ich will ja auch die Schule nicht vernachlässigen. So habe ich mich auch in Xian nach dem Abendtraining oft ins Aufgabenheft vertieft, bevor ich mit meinen Schwestern zu chatten begann – bis die Mutter ausrichten liess, jetzt müsse ich endlich ins Bett.

Mein Wunschtraum ist die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2008 in Peking, falls Wushu als olympische Disziplin anerkannt wird. Derzeit wird darüber diskutiert. Jetzt gehe ich erst mal beim Schweizer Nationalteam schnuppern. Wir suchen bereits Sponsoren für die Olympischen Spiele – denn Reise und Teilnahme sind teuer. Ich hoffe, dass meine sportlichen Träume nicht am Geld scheitern.