8 Tipps für Entdecker
Früher wurde in Schweizer Bergwerken geschürft, was der Fels hergab. Geblieben sind geheimnisvolle Relikte, die man noch heute erkunden kann.
Veröffentlicht am 1. Oktober 2020 - 12:37 Uhr
Roger Widmer ist ein häufiger Gast bei Adam und der ebenso spärlich bekleideten Eva, er kennt sie seit Jahren. Aber wenn er die schwere Metalltür zu ihnen aufstösst, befällt ihn bei aller Routine immer noch eine gewisse Aufgeregtheit. «Einfach fantastisch!», entfährt es ihm, kaum ist er eingetreten.
Es ist ein verwirrend verwinkeltes Haus, in dem das Paar lebt. Aber Widmer geht zielsicher durch die Gänge, vorbei an allerlei Getier und Wappenscheiben. Beim Erzengel Gabriel, der sich lässig an die Wand lehnt, geht es noch einmal ums Eck, dann ist der Besucher bei Adam und Eva angekommen. Sie schenken ihm jedoch keine Aufmerksamkeit – verklärt hängt ihr Blick auf der verführerischen Schlange, die sich um den Stamm eines Apfelbaums windet.
Adam und Eva im Bergwerk Buchs
Diese eigentümliche Wohngemeinschaft befindet sich im Zürcher Unterland, und sie ist gut versteckt: im Erdboden. Im Stollenlabyrinth des Bergwerks von Buchs wurde im späten 19. Jahrhundert damit begonnen, Quarzsand für die nahe Glashütte Bülach abzubauen. Beim Verladen in die Förderwagen gab es längere Wartezeiten, in denen die Kumpel anfingen, Objekte in die Wände zu schlagen und mit Wasserfarbe zu bemalen. So entstanden nach und nach gegen 40 Skulpturen, die – exakt 100 Jahre nach der Stilllegung der Anlage – noch gut erhalten sind.
Wobei: gut erhalten bis auf die Köpfe einzelner Figuren. Diese zertrümmerte ein Arbeiter aus Wut darüber, dass er die Kündigung erhalten hatte. Später baute ein «richtiger» Künstler die Köpfe nach – «ziemlich plump», wie Roger Widmer findet. Solche Reminiszenzen hat der 51-jährige Zürcher im Dutzend auf Lager. Nicht von ungefähr, denn Bergwerke und alles, was damit zu tun hat, sind seine Passion.
Ein Werk der Kumpel
Im etwa 400 Meter langen Grubensystem von Buchs gibt es für Bergwerkforscher nicht mehr viel zu erforschen. Widmer selber hat im Auftrag der ETH die Quarzsandstollen bis in den hintersten Winkel vermessen und dokumentiert, was er gefunden hat. Aber sonst gibt es für Leute wie ihn reichlich zu tun: Es wimmelt in der Schweiz von stillgelegten, oft verfallenen Bergwerken. Das nationale Rohstoffinventar weist über 1000 Orte aus, an denen Erze oder Energierohstoffe gewonnen wurden. Die Schweiz ist auch ein bisschen Ruhrpott – Glück auf!
Wenn er mit Helm und Lampe in eine vergessene Mine einsteigt, treibe ihn der Entdeckergeist an, sagt Roger Widmer. «Was ist noch vorhanden? Wie weit geht es?» Die Suche nach Relikten einer vergangenen Industriekultur führe ihn mitunter an Orte, an denen sich seit 100 Jahren kein Mensch mehr aufgehalten hat. Ein erhabenes Gefühl sei das, sagt der Mann, der bereits als Jugendlicher einen guten Teil seiner Freizeit in alten Fabrikkanälen an der Sihl verbrachte. Der Hang zum Untergrund ist unverkennbar.
Widmer gehört zu einer verschworenen Gruppe Menschen, die dem Reiz von «Lost Places» unter Tage erlegen sind. Ihre Leidenschaft teilt sich in einen Theorie- und einen Praxisteil. Erst steigen sie hinab in Archive, um alte Pläne und geologische Karten nach Hinweisen über den Verlauf ehemaliger Minen zu durchforsten. Mit diesem Material geht es anschliessend auf Spurensuche nach draussen. Auffällige Konturen in der Landschaft? Eine bestimmte Gesteinsart am Boden? Oder könnte dort, wo ein Wasserlauf aus dem Berg kommt, früher nicht ein Stolleneingang gewesen sein?
«Wir scannen das Gelände», erklärt Roger Widmer, «und mein Scanner läuft unablässig.» Vor allem im Wallis und im Bündnerland ist er häufig auf Entdeckungstour.
«Der schleichende Verfall lässt sich nicht aufhalten. Irgendwann ist Schluss.»
Der Abbau von Rohstoffen hat in der Schweiz eine lange Geschichte. Schon vor rund 5000 Jahren wurde in der Region Olten SO nach Feuerstein gegraben. Später deckten die Menschen in kleinen, lokalen Bergwerken den Eigenbedarf an Rohstoffen. Für die Förderung von Kohle oder Erzen im grossen Stil waren die hiesigen Verhältnisse jedoch unvorteilhaft. Denn durch die Gebirgsfaltung der Alpen sind viele Lagerstätten tektonisch gestört, von geringer Qualität und Quantität und oft nur schwer zugänglich. Das trug der Schweiz schon früh den Ruf ein, «reich an armen Bergwerken» zu sein.
Den Todesstoss versetzte der einheimischen Rohstoffgewinnung die Industrialisierung. Bald waren Importe günstiger als die aufwendige Produktion vor Ort. Eine letzte Blüte erlebte sie in der Zeit der Weltkriege im Zeichen der Selbstversorgung, danach wurde eine Mine nach der anderen dichtgemacht.
Diese Geschichte gilt es noch zu erzählen. Bergwerkforscher Roger Widmer arbeitet seit vier Jahren an einem Buch zum Thema; Ende 2021 soll es publiziert werden. Das umfassende Werk mit historischem Karten- und Bildmaterial will dokumentieren, wo und unter welchen Umständen in der Schweiz unter Tage Rohstoffe abgebaut wurden. Und eigene Fotoaufnahmen zeigen, was in der Gegenwart davon übrig geblieben ist.
Von den genauen Örtlichkeiten der ausgewählten Schauplätze wird der Buchautor aber bewusst nicht viel preisgeben. Vor allem aus Sicherheitsgründen: In verlassene Stollen zu steigen, birgt Gefahren. Es kann zu Einstürzen kommen, in Hohlräumen können sich giftige Gase angesammelt haben – das ist nichts für Ausflügler ohne spezifisches Fachwissen und passende Schutzausrüstung. Wer als Nichtforscher Grubenluft schnuppern will, weicht besser auf Besucherbergwerke aus.
Hinzu kommt: «Stillgelegte Bergwerke führen einen Kampf gegen die Zeit», sagt Roger Widmer. Im Quarzsandstollen von Buchs werden die Schäden immer deutlicher sichtbar. Das hat viel mit der Klimaveränderung zu tun. Der immer ausgeprägtere Wechsel von trockenen und feuchten Phasen setzt dem weichen Gestein zu. Da und dort ist es zu Einstürzen gekommen, und in den Stollenwänden zeigen sich Risse. Vom unterirdischen See aus Grundwasser, vor wenigen Jahren noch knietief, sind dünne Rinnsale geblieben.
«Der schleichende Verfall lässt sich nicht mehr aufhalten, irgendwann ist hier Schluss», so die Prognose des Bergwerkforschers. In der kuriosen WG von Adam und Eva und dem Erzengel Gabriel könnte bald Endzeitstimmung aufkommen.
- Bergwerk Buchs ZH: Auf Anfrage sind Besichtigungen für Gruppen bis zehn Personen möglich. quarzsand-bergwerk.ch
Schleitheim, Herznach und Co. – 7 Ausflugstipps zu stillgelegten Bergwerken
Bergwerk Gonzen SG
Bergwerk Schleitheim SH
Bergwerk Herznach AG
Bergwerk Käpfnach ZH
Salzminen Bex VD
Landesplattenberg Engi GL
Silberberg Davos GR
- Bergwerkforschung Schweiz: bergwerkforschung.ch, die Website von Roger Widmer.
- Schweizerische Gesellschaft für historische Bergbauforschung: sghb.ch