Nachwuchs für Hollywood
Statistenjobs sind undankbar und schlecht bezahlt. Egal: Für das Casting eines deutschen Kinofilms meldeten sich in Thun rund 150 Leute – alles Laien, die davon träumen, entdeckt zu werden.
Veröffentlicht am 5. August 2002 - 00:00 Uhr
«Das Wunder von Bern: Kyburg-Saal», steht diskret auf der Tafel vor dem Hoteleingang. Es regnet. Kein Mensch weit und breit. Susanne Grüter ist nervös. «Vielleicht muss ich ja vor der Kamera etwas sagen», meint sie. Die 20-Jährige ist heute extra von Bern nach Thun gereist. Sie hat im Radio gehört, dass Statisten gesucht werden für einen deutschen Kinofilm, der im Kanton Bern spielt. Interessierte könnten sich im Hotel Freienhof bewerben.
«Casting» heisst das in der Filmsprache. Die junge Frau hat keine Ahnung, was sie erwartet. Und jetzt sucht sie den richtigen Saal. Zögernd geht sie die Treppe hoch. Eine Tür steht offen, leise Stimmen sind zu hören. Endlich: der Kyburg-Saal. Parkettboden, Stukkatur an der Decke, Geranien vor den Fenstern. Susanne Grüter atmet tief durch und tritt über die Schwelle. Drinnen setzt sie sich sofort an den nächsten Tisch: nur nicht auffallen, erst einmal die Lage abchecken.
Es sind bereits über 30 Leute versammelt. Auffallend viele junge Frauen, aber auch rüstige Rentner und ein junger Mann im Fussballdress. Konzentriert sitzen sie an den vier Tischen und füllen einen Fragebogen aus. «Alles halb so schlimm», beruhigt sich Susanne Grüter und nimmt auch ein Papier. Zehn Minuten braucht sie, um die Fragen der Castingagentur schriftlich zu beantworten. Sie gibt Auskunft über Personalien, Automarke und Film-erfahrung: Die Agentur ist neugierig. Grüter hat keine Mühe damit, ihre persönlichen Daten preiszugeben.
Das langhaarige, sorgfältig zurechtgemachte Mädchen gegenüber ist unsicher: «Was für eine Augenfarbe habe ich?», fragt sie ihre Freundin und sperrt ihre stark geschminkten Augen weit auf. An einem anderen Tisch spornt eine Frau um die 40 ihre Begleiterin an: «Du musst bluffen.» So schreibt die Kollegin bei der Rubrik Theatererfahrung: «Aufführungen an Familienfesten» und bei Musikbranche: «Blockflöte (Anfänger)».
Exhibitionismus ist hier gefragt – schliesslich geht es ja um eine Filmrolle. Mal dabei zu sein, wenn ein Kinofilm gedreht wird, das sei ihr Traum, schwärmt Susanne Grüter. Schauspielambitionen habe sie keine, denn im Herbst beginne sie ihr Studium. Trotzdem registriert sie die Konkurrenz: «Es hat zu viele dunkelhaarige Frauen hier. Da habe ich ja keine Chance», sagt sie lachend. Sie trägt ihr Haar zusammengebunden, die grossen Ohrringe fallen auf.
Eine Woche lang Hoffen
Die angehende Politologiestudentin tritt nach vorn. Assistentin Andrea Baumann misst mit einem Band ihren Hals-, Brust- und Taillenumfang. Dann muss sich die junge Frau für eine Fotoaufnahme in die Ecke stellen und einen nummerierten Zettel in die Kamera halten. Susanne Grüter ist die Nummer 17. Lächeln! Das Bild ist im Kasten und Grüter in der Kartei.
Erleichtert nimmt sie ihre Tasche und verabschiedet sich vom Set.
Eine Woche später wird sie erfahren, ob sie im Film mitspielt. Castingleiter Felix Schaad kann nichts garantieren. «Es ist schwierig zu sagen, nach welchen Kriterien die deutschen Filmemacher ihre Statisten auswählen», erklärt er. «Bärner Gringe» seien gesucht – schliesslich spiele der Film in der Schweizer Hauptstadt. Und vermutlich werde das «historische Potenzial» eines Statisten eine Rolle spielen, etwa, ob die Frisur in die fünfziger Jahre passe.
Genauer: ins Jahr 1954. Am 4. Juli siegte damals die deutsche Fussballnationalmannschaft im Berner Wankdorfstadion gegen Ungarn und wurde Weltmeister. Der Regisseur Sönke Wortmann, bekannt durch den Film «Der bewegte Mann», möchte in «Das Wunder von Bern» davon erzählen und ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte beleuchten. Das Budget für den Kinofilm: 7,3 Millionen Euro. Gedreht wird unter anderem auf der Grossen Scheidegg, im Schloss Thun und an der Seepromenade in Oberhofen BE.
Einer, der den legendären Fussballmatch 1954 als 17-Jähriger miterlebt hat, ist Peter Aebischer aus Steffisburg BE, Castingnummer 37. Jetzt möchte der stämmige Rentner mit schneeweissem Backenbart noch einmal Fussballfan spielen. Aebischer ist ein routinierter Statist. Er spielte unter anderem in Gotthelfs «Schwarzer Spinne» mit. Damals als Pesttoter, kreideweiss geschminkt mit aufgemalten Pestbeulen. Sogar den Backenbart hatte er sich dafür abrasieren lassen. Er erinnert sich gern an die Dreharbeiten zurück, auch wenn er den ganzen Tag bewegungslos herumliegen musste. Dafür gab es ein Autogramm von der Hauptdarstellerin. Und bei der Premiere durfte er als Gast direkt hinter den Schauspielern sitzen. Zehn Sekunden lang war er auf der Leinwand zu sehen. «Im Hintergrund zwar, aber immerhin.»
In seiner Freizeit spielt Aebischer Theater bei der Laiengruppe «Steffisburger Spielleute». Er träumt davon, im Film einmal eine kleine Sprechrolle zu bekommen. Am liebsten als Pfarrer oder als Sportkommentator. «Manchmal übe ich diese Rollen zu Hause», verrät er.
Grössere Ambitionen hat der zehnjährige Remo Brechbühl aus Mühlethurnen BE. «Ich will nach Hollywood», sagt er bestimmt und rückt seine Dächlikappe zurecht. Er ist mit seiner Mutter nach Thun gekommen. Mutter Brechbühl fände es eine spannende Ferienabwechslung, wenn ihr Sohn Remo beim Film mitmachen könnte.
Inzwischen ist es Nachmittag geworden. Immer neue Leute betreten zögernd den Raum und fragen schüchtern: «Bin ich da richtig beim Casting?» Fürs Foto streichen sie sich verstohlen durch die Haare, zupfen ihre Kleider zurecht und lächeln verlegen in die Kamera. Lehrerinnen, Automechaniker, Hausfrauen und Rentner. Alle kommen sie mit der Sehnsucht, einmal in ihrem Leben den Glamour der grossen Filmwelt zu spüren.
Ganz anders Nathalie Meier aus Zürich: Selbstbewusst schreitet die grosse, schlanke Frau durch den Raum. Unbefangen strahlt sie in die Kamera. Meier ist Schauspielerin und heute «zufällig zu Besuch in Thun». Die junge Frau findet die Atmosphäre inspirierend für ihre Arbeit. Nach nur fünf Minuten ist ihr Auftritt im Kyburg-Saal vorbei.
Sie ist nicht die Einzige mit Bühnenerfahrung, die sich an diesem Tag in Thun meldet. «Viele Schauspielerinnen hoffen, durch ein Casting entdeckt zu werden», sagt Andrea Baumann. Die Assistentin ist in der Filmwelt zu Hause. Routiniert verteilt sie Fragebogen, misst und fotografiert. Sie ist froh, dass so viele Leute gekommen sind. Beim Casting zum Giacobbo-Film «Ernstfall in Havanna» sei das nicht so gewesen. Gesucht waren damals elegant gekleidete Männer, die Diplomaten spielen sollten. Niemand kam. Baumann musste auf Schauspieler zurückgreifen. «Eine Kostenfrage», sagt sie. Profis seien teuer. Laien bekommen 100 Franken pro Tag.
Statisten braucht jeder Film. Ohne sie wirkt eine Produktion steril. Meistens fragt Baumann zufällig anwesende Passanten, ob sie kurz Spaziergänger mimen könnten. Oder Leute vom Set spielten die Kunden im Hintergrund. Für Massenszenen seien öffentliche Castings jedoch unabdingbar. Und die Laien nehmen einiges in Kauf, um dabei zu sein.
Einen langen Weg zum Beispiel: Elisabeth Portner, 47, kommt mit ihren zwei älteren Schwestern und Sohn Jannik, 14, aus dem Aargau, «damit mein Junge sich casten lassen kann». Herausgeputzt sind aber alle vier: Ihre Frisuren sitzen perfekt. Sie erhalten die Castingnummern 121 bis 124. Die drei Damen geraten ins Schwärmen. Vor allem das Verkleiden fasziniere sie. Was war in den fünfziger Jahren in Mode? «Knickerbocker, Petticoats und hochtoupierte Kurzhaarfrisuren», meint Portner kichernd. Um am Drehtag dabei sein zu können, würde sie auch freinehmen von der Arbeit.
Für Sekunden auf der Leinwand
Die Chancen stehen eins zu vier. 148 Männer, Frauen und Kinder haben sich bis 19 Uhr im Kyburg-Saal gemeldet. Ihre Daten werden jetzt in Deutschland geprüft. 35 werden die erste Runde überstehen und eine Einladung zur Kleideranprobe erhalten. Im Look der fünfziger Jahre darf dann vielleicht Studentin Grüter einen Tag lang an der Passstrasse der Grossen Scheidegg stehen und Rentner Aebischer stundenlang der deutschen Nationalelf zujubeln. Wenn sie Glück haben, werden sie sich im Herbst 2003 für wenige Sekunden auf der Kinoleinwand bewundern können.