«Am schönschte isch es däheim»
«Folklorenachwuchs.ch» heisst die heimeligere, aber nicht minder prickelnde Version von «Music-Star» für die Ländler-Sternchen von morgen. Ein Holdrio vom Casting im «Schäfli».
Veröffentlicht am 22. Mai 2007 - 15:17 Uhr
Beat Schläpfer steht barfuss auf dem gemusterten Spannteppich, schluckt leer und stemmt die Hände in die Hosentaschen. Bald wird der zehnjährige Appenzeller mit seiner Schwester Karin, 14, auf die Bühne steigen und das Jodellied «Däheim» vortragen. Der Saal des Restaurants Schäfli in Goldach SG ist voll besetzt, quer zur Bühne steht der Jurytisch mit Experten, die bei jeder Darbietung die Stirn in Falten legen. Nie galt das Wort aus dem Lied, das Schläpfers singen werden, mehr als in diesem Augenblick: «Am schönschte isch es däheim.» Beat und Karin sind so aufgeregt, dass sie sich, man sieht es ihnen an, am liebsten auf ihren Hof in Schwellbrunn zurückziehen möchten.
Die regionale Vorausscheidung von «Folklorenachwuchs.ch» ist in vollem Gang. Die Luft ist stickig, das Servicepersonal jongliert Rivella, Pommes, Most und Bier durch die Reihen. Beim Wettbewerb, der seit 14 Jahren für die Sparte Musik und seit 12 Jahren für den Jodel stattfindet, können Gruppen und Solisten bis zum 20. Altersjahr mitmachen. Die Jury wählt an diesem Freitagabend 24 Formationen aus, die am Vor-Final Ende Juni in St. Moritz antreten. Im September werden die Gewinner gekürt: am «Final der Finalisten» beim Ländlermusikfest in Stans OW. Es winken eine Live-Übertragung auf Radio DRS, ein Platz auf der CD «Folklore-Vollträffer» und eine Homestory in der Fachzeitschrift «Alpenrosen».
Die Buben vom Spatzenchörli mit Alphorn
«Das Ziel des Wettbewerbs ist es, den Jungen eine Plattform zu bieten», sagt Organisator Martin Sebastian, «auch die Kleinsten sollen einmal auftreten können.» Sebastian, Chefredaktor der «Alpenrosen», führt im tomatenroten, mit Stickerei verzierten Sennenhemd durch den Abend. Geduldig sagt er jede Formation an und macht ab und zu ein Spässchen: «Die Kinder sind gar nicht nervös, aber der Mutter muss man die Hand halten!» Und gekonnt bringt er die Liste der Partner in der Ansage unter: Radio DRS, Schweizer Fernsehen, Jodlerverband...
Gespannt blicken Beat und Karin zur Bühne, wo im Scheinwerferlicht die gemalte Bergkulisse leuchtet. Angereist sind sie mit Vater Jakob, einem Appenzeller Bauern wie aus dem Bilderbuch: klein von Statur, rote Backen, listige Augen, schaffige Hände. Bei Schläpfers auf dem Hof gibt es weder Handy noch Fernsehen oder Internet, und bei der Arbeit im Stall oder beim Abwaschen in der Küche wird gesungen. «Ohne Noten, nur nach Gehör», betont der Vater, der in einem Männerchor ist. Schon letztes Jahr haben Beat und Karin beim Wettbewerb mitgemacht, sind aber ausgeschieden. «Wir haben die Töne zu stark gepresst», erinnert sich Karin. Nun will sie es besser machen.
«Junge Volksmusik klingt frisch»
Ein Blick in die Zeitschrift «Alpenrosen» zeigt: Die Schweizer Volksmusikszene ist tief gespalten. Auf der einen Seite stehen die Traditionalisten, die das «urchige» Musikgut pflegen und in den Verbänden aktiv sind. Auf der anderen Seite gibt es den volkstümlichen Schlager, mit dem Geschäftstüchtige viel Geld machen. Zudem hat sich in den letzten Jahren eine neue, junge Szene gebildet, die auch Einflüsse aus Jazz und Pop in die Volksmusik bringt. Dabei ist nicht einmal klar, was überhaupt als «echt» gelten soll: Gemäss einer Studie des Zürcher Musikethnologen Dieter Ringli reichen die Ursprünge des Ländlers und Jodels nur ins 20. Jahrhundert zurück. Erfunden wurde die Musik vor allem in Städten, besonders in Zürich. Von einer «uralten Bauerntradition» könne keine Rede sein; diese Musikrichtungen gelten zwar als urschweizerisch, dies sei aber «ein Mythos».
Die Jungs vom Buebechörli Urnäsch
Am meisten leidet der Ländler am volkstümlichen Schlager. Die Mischung aus Après-Ski-Gaudi und Heile-Welt-Pathos mit Wurzeln in Tirol und Bayern hat so grossen Erfolg, dass sie der übrigen Volksmusik das Wasser abgräbt. Nur wer es in den «Musikantenstadel» oder an den «Grand Prix der Volksmusik» schafft, hört die Kassen klingeln. Gaby Wyss von der Plattenfirma Koch-Universal-Music sagt, dass der Konzern heute vor allem mit Schlagerstars wie Semino Rossi («Du schöne Madonna») oder Francine Jordi («Im Garten meiner Seele») hohe Umsätze erzielt. Früher sei man mit dem Label Polydor auch mit Schweizer Ländlermusik «sehr erfolgreich» gewesen, sagt Wyss und attestiert der Szene ein neu erwachendes Selbstbewusstsein: «Es ist denkbar, diesen Musikbereich wieder auszubauen; die neue junge Volksmusik klingt frisch und spannend.»
Doch mit neuen Tönen haben alteingesessene Ländlerfreunde Mühe. Gody Studer, Juryobmann beim Eidgenössischen Jodlerverband (EJV), sitzt im «Schäfli» am Jurytisch und büschelt die Bewertungsformulare. Gleich wie bei jedem Jodelfest achte man auf vier Bereiche: Tongebung und Aussprache, Rhythmik und Dynamik, harmonische Reinheit, Gesamteindruck. An diesem Abend zähle zudem der «Altersbonus»: Je jünger die Interpreten, umso mehr Pluspunkte. Und die Kleidung? «Bei uns zieht man sich sowieso korrekt an», sagt Studer süffisant.
«Bei uns zieht man sich sowieso korrekt an»: Gody Studer, Juryobmann beim Eidgenössischen Jodlerverband
Die korrekte Tracht ist im Reglement vorgeschrieben, auch gelangen nur offiziell erlaubte Lieder zur Bewertung. Die erfolgreiche Musikerin Christine Lauterburg, die Jodel mit Techno und eine Männertracht mit kurzen Hosen vermischte, kann davon ein Lied singen: Der EJV nannte ihr Werk 1994 «einen hässlichen Eingriff in unsere Jodeltradition». Heute noch ist es Frauen nicht erlaubt, an Wettbewerben im Fahnenschwingen teilzunehmen; der EJV schreibt nämlich eine regelkonforme Tracht vor, doch mit einem langen Rock ist der «Unterschwung» zwischen den Beinen hindurch schlicht nicht möglich. Hosen zu tragen ist den Trachtenfrauen aber verboten.
Tatsächlich findet man auch in Goldach unter all den Jodlerkindern niemanden in Jeans und T-Shirt, selbst die Musiker tragen fast alle Tracht. Im Vergleich zu «Musikantenstadel» und Co. herrscht Schlichtheit und Gradlinigkeit, im Publikum wird andächtig zugehört statt ausgelassen geschunkelt. Dafür fehlen moderne Einflüsse fast gänzlich. Nur einmal kommt es zu einem Flirt mit der Schlagerwelt: Die «Bodensee Örgeli Driver» setzen Hüte auf, hocken sich auf einen Pferdesattel und intonieren mit Saxophon und Sousaphon den «Cowboy-Schottisch». Qualifizieren können sie sich damit Gott sei Dank nicht - die Zuhörer nutzen die Flaute zum Gang auf die Toilette und an den Tresen.
Der «ehrliche Jodelgesang»
Wollen Jugendliche überhaupt noch Ländlermusik machen, wenn der Erfolg leichter im Schlager zu finden ist und neue Einflüsse abgebremst werden? Der Verband Schweizer Volksmusik (VSV) zählt 13'000 Mitglieder - Tendenz stagnierend. Präsident Jakob Freund, Mitglied der «Streichmusik Alder», meint: «In den ländlichen Regionen ist Volkskultur bei den Jungen sehr im Trend. Zum Beispiel gibt es im Appenzellerland unzählige Jungformationen.» Beim Jodlerverband mit 20'000 Mitgliedern (Tendenz steigend) sei es ähnlich, so Gody Studer: «Man findet überall überalterte Chöre, jedoch auch altersmässig gut durchmischte Klubs. Es gibt Jugendliche, die selber einen Chor gründen, und manche Gruppen führen sogar Wartelisten.»
«Nur nach Gehör»: Karin Schläpfer mit Bruder Beat
Kürzlich schaffte es ein Jodellied in die Hitparade, wo es sich 16 Wochen halten konnte und sogar auf Platz 4 kletterte: «Ewigi Liebi», ein Pop-Song, interpretiert vom Jodlerklub Wiesenberg OW. Prompt kam es in der Fachzeitschrift «Alpenrosen» zu gehässigen Kommentaren: Das Stück sei nur ein Marketinggag und habe nichts mit dem «ursprünglichen, ehrlichen Jodelgesang» zu tun.
Im «Schäfli» spielen Donat und Jennifer Piras als Duo «Urchig High» und im Quartett «Sternecheibe» auf. Die Zwillinge mit Jahrgang 1989 sind mit Mutter Lilli aus dem nahen Tübach gekommen. Obwohl sie im Sankt-Gallischen wohnen, tragen sie Berner Trachten, denn ihre Mutter ist Bernerin. Das Reglement erlaubt solche Kunstgriffe, solange die Tracht nicht verfremdet wird.
Zum Abschluss einen Schottisch
Die Piras-Geschwister spielen den Marsch «Grossvaters 90. Geburtstag» und den Schottisch «Piste frei!». Die Mutter schliesst die Augen, ihre Begleiter drücken die Daumen. Die Bernerin, die einen Italiener geheiratet hat und in der Ostschweiz gelandet ist, begleitet ihre Kinder oft an Konzerte und Wettbewerbe. Donat hat einen Spickzettel aufs Schwyzerörgeli geklebt und blickt während des Vortrags angestrengt zu Boden, Jennifer lächelt tapfer ins Publikum. Beim zweiten Auftritt mit den «Sternecheibe» ist die Anspannung weg, die beiden Gymnasiasten spielen flüssig und locker. Der Applaus ist herzlich, das Quartett kommt eine Runde weiter.
Familie Schläpfer beim gemeinsamen Einsingen
Kurz nach 21 Uhr sind die Appenzeller Beat und Karin Schläpfer an der Reihe. Immer noch sichtlich nervös, gehen sie barfuss nach vorn, stehen mit den Händen in den Taschen auf der Bühne. Freundin Franziska Bleiker, 17, gibt mit dem Örgeli den Ton vor, Speaker Sebastian macht die Ansage: «‹Däheim› von Franz Stadelmann». Das Lied gelingt gut - die Geschwister schaffen es in den Vor-Final.
Besonders ehrgeizige Eltern lassen den Nachwuchs am Abend mehrmals in verschiedenen Formationen auftreten. Am meisten Präsenz verzeichnet Florian Brun, 11, Örgeler aus Ottenhusen LU. Vater Josef, der alles filmt, schickt den Buben dreimal auf die Bühne, seine philippinische Frau sitzt im Publikum. Zuerst spielt Florian beim Quartett «Hopp de Bäse» mit, klimpert dort souverän den Ländler «A de Fuchsjagd» und den Schottisch «Bim Fränzi uf em Bühel» herunter. Zehn Minuten später begleitet er sich selbst als Solist zum Jodel «De Gemsjäger». Und kurz vor Mitternacht, als die Veranstaltung fast zu Ende ist und viele Kinder müde den Kopf auf die Hände stützen, spielt er bei den «Örgeli-Players» einen Ländler und einen Schottisch. Zur Belohnung kann sich Florian Brun gleich zweimal qualifizieren. Obwohl er für den letzten Auftritt das Trachtenhemd gegen ein simples gelbes T-Shirt ausgetauscht hat.