Samuel Schmid tickt eben doch etwas anders als andere. Bei Fussballspielen, liess der Bundespräsident unlängst verlauten, besuche er immer die Schiedsrichter: «Das sind die wahren Stars.» Mirco Baumann, Student der Wirtschaftskommunikation, ist einer von ihnen. Doch als es an diesem lauen Donnerstagabend um halb acht an der Tür zu seiner Schiedsrichterkabine klopft, tritt bloss der Captain des FC Seefeld 3 ein. Er bringt die Spielerpässe und die Mannschaftsaufstellung, zudem 45 Franken in bar. Das ist die Hälfte der Entschädigung, die Student Baumann dafür bekommt, fünf Stunden seiner Freizeit herzugeben, um über Fouls und Offsidepositionen zu urteilen. Man schüttelt sich die Hände, wünscht «en schöne Match».

Der Match gemäss Aufgebot des Fussballverbands der Region Zürich: FC Küsnacht 2 gegen FC Seefeld 3, 4. Liga, Gruppe 9, 20.15 Uhr, Sportanlage Heslibach in Küsnacht, Spielnummer 141'815. Eine Begegnung in der zweituntersten von sieben Wettkampfligen in der Schweiz – definitiv keine Champions League, keine TV-Kameras, kein Sportminister.

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Der Schiri versteht sich als Fussballer

Mirco Baumann ist das egal. Wie bei jeder der über 30 Partien, die er pro Saison leitet, ist er eine Stunde vor Spielbeginn auf der Anlage, um sich auf seinen Einsatz vorzubereiten. «Darauf haben die Spieler ein Anrecht», sagt er, «auch in einem 4.-Liga-Spiel.» Nach dem Einlaufen setzt sich der 26-Jährige in der engen Kabine an ein Pültchen, überträgt die Namen der Spieler auf die Matchkarte und legt seine Utensilien zurecht: Uhr, Pfeife, Münze, Karten, Stift. Und er hat – widerwillig zwar – das «böse Schwarze» angezogen, den klassischen Dress der Gilde. Das bevorzugte hellblaue Tenü würde sich zu wenig vom Weiss des Gastklubs unterscheiden.

In der Luft hängt der unverwechselbare Geruch von Schweiss und Massageöl, den Fussballer ein Leben lang nicht aus der Nase kriegen. Als Fussballer versteht sich der schlaksige Mann aus Oberrieden, der im letzten Juni mit dem Kicken aufgehört hat, nach wie vor: «Ich habe zwar eine andere Aufgabe, aber ich bin Teil dieses Spiels.» Und zwar in einer einflussreicheren Rolle, als es ihm als durchschnittlichem 4.-Liga-Spieler je möglich gewesen wäre.

Zehn Minuten vor Kickoff besucht Schiedsrichter Baumann die Teams in den Kabinen, lässt die jeweiligen Captains die Spieler aufrufen, kontrolliert Rückennummern, Schienbeinschoner und Stollen. Dieses Ritual ist der letzte Akt der Vorbereitung, bevor es hinausgeht auf den Rasen. Jetzt tigert Mirco Baumann unruhig in der Garderobe umher. Etwas nervös sei er vor jedem Spiel, sagt er. Schliesslich gäbe es da draussen 22 Mann mit hohem Adrenalinpegel, hitzige Betreuer und ein parteiisches Publikum. Da könne man sich mitunter schon sehr einsam fühlen, vor allem nach einem strittigen Entscheid: «Dann fressen sie dich auf.»

Von Fussballschiedsrichtern wird einiges verlangt: Im 12-Minuten-Lauf sind 2'400 Meter das Mindeste, der 200-Meter-Sprint muss in 36 Sekunden zurückgelegt werden. Regelkunde ist ein Pflichtfach, und wer den vom Verband geforderten Persönlichkeitsmerkmalen wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit oder Kritikfähigkeit nicht genügt, darf nicht zur Pfeife greifen. Mindestens einmal pro Saison steht unangemeldet ein Inspizient am Spielfeldrand, um die Leistung jedes Schiedsrichters zu kontrollieren. Wer den Match verpfeift, kann es vergessen, je aus den Niederungen der unteren Ligen aufzusteigen.

Die 4'600 in der Schweiz lizenzierten Schiedsrichter reichen knapp aus, um den Spielbetrieb der 12'000 gemeldeten Mannschaften mit 230'000 Aktiven aufrechtzuerhalten. «Eigentlich bräuchte es mehr Schiris, aber es wird immer schwieriger, sie zu finden», sagt Luigi Ponte, Zentralpräsident des Verbands der Schweizer Schiedsrichter. «Vor allem die Jüngeren wollen es sich nicht mehr bieten lassen, dauernd der Bölimann zu sein.»

Sicherheitsleute am Spielfeldrand

Wenn es um die Respektlosigkeit geht, die den Leuten in Schwarz auf dem grünen Rasen entgegenschlägt, redet sich Ponte richtiggehend ins Feuer. «Verschiesst ein Stürmer einen Penalty», klagt er, «spielt er einfach weiter. Macht hingegen der Schiedsrichter einen Fehler, wird er fertig gemacht.» Die zunehmende verbale und körperliche Gewalt gegen Unparteiische hat im hiesigen Amateurfussball bereits dazu geführt, dass einzelne kritische Spiele von Sicherheitsleuten in Zivil beobachtet werden. Als Massnahme gegen diese Entwicklung fordert der Ref-Chef härtere Sanktionen gegen fehlbare Spieler, deren Trainer und Vereine. Darin wird er unterstützt vom früheren Star-Schiedsrichter Urs Meier, in aktiven Zeiten selber Zielscheibe massiver Angriffe. Meier stellt fest: «Heute schauen die Verantwortlichen zu oft weg, tun Vorfälle als Einzelereignisse ab. Dabei ist das Problem akut.»

Ein Auszug aus dem jüngsten Sündenregister bestätigt diese Einschätzung. April 2005: Beim Match Tägerwilen gegen Besa St. Gallen in der 3. Liga kommt es zu Tumulten, in deren Verlauf der vom Gastklub gestellte Linienrichter den Schiedsrichter mit der Fahne niederschlägt. Juni 2005: Das Aufstiegsspiel in die 3. Liga zwischen Hildisrieden und Zug 94 muss abgebrochen werden, nachdem der Zuger Goalie den Ref mit einem Kopfstoss niederstreckt. Eine Woche später: Die Partie zwischen den 4.-Liga-Teams von Schötz und Schwyz endet mit einer Attacke von Schwyzer Anhängern auf den Schiedsrichter, dem zuvor schon auf dem Feld von Spielern Prügel angedroht werden. Und auch in der jungen Saison 2005/2006 liegen die Nerven wieder blank: Als im August wegen der Unwetter ein Spiel des Drittligisten FC Adligenswil abgebrochen werden muss, geht dessen Trainer auf den Referee los und beschimpft ihn massiv.

In Küsnacht läuft hingegen alles in geordneten Bahnen. Bei Halbzeit führt der Heimklub mit 3:0, Mirco Baumann hat die Sache im Griff. Sein Auftreten auf dem Platz ist so, wie er es sich vorgenommen hat: konsequent und selbstbewusst. Ein Schiedsrichter brauche eine «gesunde Arroganz», sagt er beim Pausentee. Und gut verkaufen müsse man sich. «Denn wenn du auch nur ein bisschen zauderst, nehmen sie dir deine Entscheide nicht ab.»

Als Spieler hat Baumann oft Verwarnungen wegen Reklamierens erhalten. Vielleicht ist er als Schiedsrichter deshalb etwas toleranter, wenn ein Fussballer aus der Emotion heraus die Hände verwirft und sich beklagt. Kein Pardon kennt er hingegen, wenn gefährlich auf den Körper gespielt wird. Und wenn die Spieler schauspielern, nach dem kleinsten Schubser umfallen, ärgert sich der Fussballer in ihm. «Tüend doch tschuute», rufe er den Diven aus der 4. Liga dann jeweils zu.

«Die Stimmung kann schnell kippen»

Zeit für die zweite Halbzeit. Der Student mit der Pfeife zupft sein «böses Schwarzes» zurecht und überprüft, ob die Karten am richtigen Ort sitzen: gelb vorne links, rot hinten rechts. Trotz des klaren Spielstands will er aufmerksam bleiben, «denn Fussballspiele sind unberechenbar, die Stimmung kann beim geringsten Anlass kippen». Das hat Baumann letztes Jahr bei einer Partie zwischen B-Junioren erfahren, als ihm ein Spieler beim Stand von 12:0 die Hand ins Gesicht schlug – aus purem Frust. «Ich weiss, dass die Schuld damals nicht bei mir lag», sagt er. «Wäre es anders, würde ich wohl nicht mehr pfeifen.» Stattdessen ist Mirco Baumann in seiner zweiten Karriere rasch vorangekommen, darf nach anderthalb Jahren bereits 3.-Liga-Spiele leiten. Damit sind seine Ambitionen aber noch nicht gestillt, ein Stück weiter nach oben soll es schon noch gehen. Für die Spitzenklasse wird es aber kaum reichen – dafür ist der Jung-Schiri schon zu alt.

Eine Alterslimite, um als Schiedsrichter einzusteigen, gibt es allerdings nicht. Rahel Doswald, vierfache Mutter aus Binz, wagt es im Alter von 39 Jahren. Drei ihrer Buben sind Juniorenfussballer, deren Leidenschaft sie jetzt in einer aktiven Rolle teilen will. Mit ihrem Ehemann hat Doswald Anfang September den Grundkurs für Schiedsrichter absolviert – als eine von drei Frauen unter 40 Teilnehmenden. Nach dem erfolgreich absolvierten Regeltest darf sie nun Juniorenspiele leiten. Dies eingestandenermassen mit gemischten Gefühlen: «Ich bin mir bewusst, dass es auch zu unangenehmen Situationen kommen kann.» An der dreitägigen Schulung hat sie jedoch gemerkt, dass alle Neulinge solche Ängste kennen. Und noch eine Erkenntnis hat sich in den Diskussionen – nur halb im Scherz – durchgesetzt: «Etwas masochistisch veranlagt muss man als Schiri offenbar schon sein.»

Das würde Bernard Cuenin wohl unterschreiben. Er ist ein alter Hase: 60-jährig, seit 20 Saisons als Schiedsrichter in unteren Ligen tätig, pro Woche zwei bis drei Einsätze in den hintersten Winkeln des Kantons Zürich. «Fertig, jetzt reichts!», sage er sich ab und zu, wenn ihm wieder mal ein kickender Spund frech gekommen ist. «Aber das hält nie lange an. Wie sonst sollte ich in meinem Alter so nah am Puls des Fussballs bleiben?» Aber auch Cuenin hat festgestellt, dass das Klima auf den Plätzen rauer geworden ist. Und zwar ganz allgemein, nicht nur gegen die Schiedsrichter: «Irgendwie ist uns die Fehlerkultur abhanden gekommen», sagt der Doyen der Szene. Seine Konsequenzen daraus bleiben marginal: Er pfeift keine 3.-Liga-Matches mehr – «zu ambitioniert» –, sondern nur noch Spiele in der 4. und 5. Liga sowie Partien zwischen Junioren und Senioren.

Auf den Schiri wartet Papierkram

Kurz vor 22 Uhr, Schlusspfiff auf dem Heslibach-Rasen. Die 4.-Ligisten von Küsnacht 2 haben die löchrige Abwehr von Seefeld 3 auseinander genommen und 7:1 gewonnen. Schiedsrichter Baumann zeigte einem Spieler der Gäste zu Beginn der zweiten Halbzeit nach einer rüden Attacke eine gelbe Karte und konnte so das Gift unschädlich machen, das sich trotz des eindeutigen Resultats ins Spiel geschlichen hatte. Das allgemeine Shakehands nach dem Match verläuft in Minne.

Mirco Baumann schnappt sich den Ball und trabt zurück zur Kabine. Weshalb tut er sich das an? Wochenende für Wochenende bei jedem Wetter auf irgendwelchen holprigen Äckern zu verbringen? Sich von durchschnittlich begabten Kickern bedrohen, von übereifrigen Trainern anschnauzen, von angeheiterten Zuschauern demütigen zu lassen? Für nichts als ein Trinkgeld und einen wässrigen Pausentee? Ist es womöglich das süsse Gefühl der Macht, wenigstens auf einem Feld von 100 mal 70 Metern derjenige zu sein, nach dessen Pfeife getanzt werden muss?

Die ketzerische Frage erübrigt sich, wenn man Mirco Baumann jetzt sieht. An den ruhigen, beherrschten Schiedsrichter, der pflichtschuldig seiner Aufgabe nachgeht, erinnert nicht mehr viel. Aufgedreht ist er, wie er da verschwitzt im Kabinengang steht, und unaufgefordert sprudelt es aus ihm heraus: «Dieses Gefühl nach dem Schlusspfiff! Wenn du merkst, dass du zwei Dutzend Leuten geholfen hast, einen schönen Match zu spielen – Hühnerhaut!»

Dann kehrt sich die offenkundige Befriedigung bei Schiedsrichter Baumann wieder nach innen. Auch sonst wird es ruhig auf dem Heslibach. Der Platzwart dreht die Scheinwerfer aus. Die Spieler tröpfeln aus dem Garderobengebäude, um sich drüben am Wurststand ein Bier zu genehmigen. Bald brennt nur noch in der Schiedsrichterkabine Licht: Nach der Dusche schreibt Mirco Baumann einsam seinen Spielrapport. Das soll nicht warten, schliesslich hat er die Aufgebote für die nächsten drei Spiele schon im Haus.