Die wilden Seiten der Schweiz
Wer Ruhe und Natur sucht, findet auch in der Schweiz noch zahlreiche unberührte Ecken. Fünf Naturfilmer verraten, wo sie auf Safari gehen – und was sie dabei erleben.
aktualisiert am 31. Mai 2013 - 17:12 Uhr
Gewandt balanciert Jost Schneider über den schmalen, schneebedeckten Grat. Eisstücke lösen sich unter seinen Schritten und kullern in den mehrere hundert Meter tiefen Abgrund – kein Grund zur Beunruhigung für den geübten Berggänger. Auch der schwere Rucksack mit der Kameraausrüstung scheint den Naturfilmer nicht zu behindern. Minuten später steht Schneider in feldgrüner Tarnkleidung auf einer windverwehten Bergkuppe mitten im Alpstein. Er will Ausschau halten nach Huftieren. Es ist Anfang Oktober, die Aussicht über das Schweizer Mittelland und halb Süddeutschland ist überwältigend. «Dort unten», sagt Schneider und zeigt in ein Tal, das vom Toggenburg in den Alpstein hineinführt, «dort unten konnte ich zum ersten Mal die Geburt eines Steinbock-Kitzes filmen.»
Jost Schneider ist einer der wenigen professionellen Naturfilmer der Schweiz. Viele Tage im Jahr durchstreift er abgelegene Urlandschaften, «die noch ganz der Natur gehören und in denen der Mensch nur zu Gast ist». Zusammen mit vier anderen Naturfilmern hat er sich bereit erklärt, BeobachterNatur in diese Wildnisgebiete zu führen – an Orte, an denen sie auch die Aufnahmen für ihren gemeinsam produzierten Film «Wildnis Schweiz» gemacht haben.
Jost Schneiders bevorzugtes Streifgebiet ist der Alpstein. Das schroffe Bergmassiv bietet an diesem windigen Herbsttag grosses Kino: Drei parallele, fast surreal wirkende Bergketten ragen schwarz und steil aus dem sattgrünen Hügelland des Appenzellerlands. Dazwischen sind wie glitzernde Perlen mehrere Seen und kleine Moore eingestreut. «Wenn man sich nur einige hundert Meter von der Bergstation entfernt, kann man hier lange unterwegs sein, ohne einer Menschenseele zu begegnen», sagt Schneider. Dafür sieht man mit etwas Glück vielleicht zahlreiche Alpentiere: Steinböcke und Gämsen oder Steinadler und viele weitere Vogelarten. Und weiter unten, rund um die Schwägalp, balzen im Frühling noch Birk- und Auerhühner, und Luchse jagen Rehe. «Das zu beobachten war mir leider bisher noch nicht vergönnt.»
Der «Naturbesessene», wie Schneider sich selbst nennt, ist für seine Filmaufnahmen nicht nur rund um den Säntis unterwegs. Zu seinen Geheimtipps gehören auch das Calfeisental, ein wildes Seitental bei Bad Ragaz SG. Das Massiv von Les Diablerets im Grenzgebiet der Kantone Waadt, Wallis und Bern. Oder das Val Trupchun im Engadin, wo zu jeder Jahreszeit grosse Hirschrudel zu beobachten sind. Es sind wilde Gegenden, in denen nicht einmal mehr das Gebimmel von Kuhglocken zu hören ist. Täler, in die keine Strasse führt. Berge, auf die keine beheizte Gondel fährt. Orte, an denen es manchen Menschen unwohl wird, weil sie sich von der rohen, ungebrochenen Kraft der Wildnis bedroht fühlen.
Dieses Gefühl kann sich auch in den ausgedehnten Hochmooren und Sumpfwäldern rund um Sörenberg LU einstellen.
Die Gegend unterhalb der zerklüfteten Schrattenfluh gehört zu den bevorzugten Streifgebieten des Kameramanns Andreas Meier. Auf schmalen Pfaden führt der Naturfreak oberhalb von Sörenberg in einen Sumpfwald. Anfänglich ist noch nicht viel Wildnis zu spüren. Doch nach kaum 50 Metern fühlen sich die Eindringlinge von unbändiger Natur umzingelt. Während das Moor unter den Schuhen bedrohlich gluckst, steigt ein leises Gefühl der Verlorenheit auf, und man glaubt schon bald, die Orientierung und jegliches Zeitgefühl zu verlieren.
«Einfach phantastisch», entfährt es Meier auf einer kleinen Lichtung, die umgeben ist von knorrigen, toten Bäumen. Es nieselt leicht, genau das richtige Wetter für eine Exkursion ins unheimliche Moor. Ein Blick zu Boden, und schon entdeckt Meier geübten Auges Sonnentau, eine fleischfressende Pflanze. Nebenan hüpft ein winziger Grasfrosch über das Torfmoos. Er wird vielleicht einer der Protagonisten von Meiers nächstem Film sein: Voller Begeisterung richtet der Filmer seine Kamera auf den jungen Lurch.
Der Sumpfwald, in dem Andreas Meier steht, gehört zu einem zusammenhängenden Band von Mooren, das von Habkern oberhalb Interlaken über Sörenberg und den Glaubenberg fast bis zum Pilatus reicht. Die Moore sind heute mehrfach geschützt, unter anderem als Kernzone des Biosphärenreservats Entlebuch. Eher seltsam mutet aus heutiger Sicht an, dass auch das Skigebiet von Sörenberg mitten durch diese äusserst sensible Moorlandschaft führt.
Besonders schöne Wildnisperlen kennt auch der Naturfilmer Kurt Baltensperger aus Wiesendangen ZH. Er hat in den letzten 30 Jahren vor allem das Wallis durchforstet, wo er heute beinahe jeden Winkel kennt. «Hier ist wohl schweizweit noch am meisten Wildnis zu haben», sagt er, als er mit Kamera und Stativ durch den Aletschwald marschiert. Die Herbstsonne verleiht dem geschützten Arven- und Lärchenwald oberhalb der Riederalp einen goldenen Glanz. Ein Hirsch röhrt in der Ferne. Tannenhäher transportieren pausenlos Arvennüsschen in ihre Winterdepots. Und als der Aletschgletscher ins Blickfeld rückt, verschlägt es Baltensperger einmal mehr beinahe die Sprache. «Wunderschön, diese Naturkulisse», entfährt es ihm.
Das finden auch zahlreiche Touristen, die teils in Turnschuhen den leicht zugänglichen Bergwald abschreiten. Seit das Aletschgebiet Unesco-Weltnaturerbe ist, zieht es jedes Jahr mehr Menschen an.
Andere Ecken, in denen Baltensperger nach filmreifen Szenen sucht, sind weniger leicht zugänglich. Basis für seine Streifzüge ist stets Leuk. Noch vor Sonnenaufgang steigt er in sein Auto und fährt hoch in die Seitentäler und wandert über den steinigen Restipass oberhalb von Leuk, durch das Zwischbergental an der Grenze zu Italien, durch das Baltschiedertal oder das hintere Val d’Hérens.
Ganz ungefährlich sind diese Gebirgswanderungen nicht. Trotzdem ist Baltensperger am liebsten allein unterwegs. «Ich bin so viel aufmerksamer und kann nach Lust und Laune stehen bleiben.» Ungemütlich sei es erst einmal geworden, erzählt er, «aber das war nicht in den Bergen, sondern in einem Zürcher Wald». Damals rannte urplötzlich ein stattliches Wildschwein auf ihn los. Doch das Tier umkreiste den verdutzten Filmer nur – und zog dann grunzend von dannen.
Solche Szenen könnten sich auch in der Grande Cariçaie am Neuenburgersee ereignen. Das rund 40 Kilometer lange Südostufer mit grossen Schilfflächen beherbergt ebenfalls eine stattliche Wildschweinpopulation. Zudem ist es das grösste Feuchtgebiet der Schweiz und eines der letzten grandiosen Naturgebiete im Mittelland, das noch vielen raren Tieren und Pflanzen ein Refugium bietet.
Paradiesische Zustände für den Solothurner Filmer Christoph Schmid. «Man wähnt sich am Neuenburgersee manchmal fast in Afrika», sagt er. Bloss hinterlassen zwischen Yverdon und Witzwil nicht Elefanten und Flusspferde ihre Spuren im Schilf, sondern Zwergmäuse, Teichmolche und Ringelnattern. Aber das stört Schmid nicht: «Die einheimischen Tiere finde ich mindestens so interessant wie die exotischen», sagt er.
Zu beobachten gibt es auf der wilden Seite des Neuenburgersees einiges: In den Flachwasserzonen fressen sich Tausende Enten und Watvögel satt. Im Schilf singen seltene Rohrsänger und Bartmeisen. Im Flachmoor spriessen Orchideen und Lilien, und im Bruchwald haben Laubfrösche und Pirole ihr Quartier. Einmal filmte Schmid, wie ein Reiher eine über einen Meter lange Ringelnatter fing und dann so lange weich klopfte, bis sie nicht mehr zuckte – und sie in einem Stück verschlang. Ein andermal konnte er dokumentieren, dass Haubentaucher in Gruppen Fische jagen. «Sie kreisten den Schwarm gezielt ein, bevor sie zustiessen», erzählt er.
Naturperlen wie die Grande Cariçaie sind im zersiedelten Mittelland die absolute Ausnahme. «Wer echte Wildnis sucht, muss heute weit hinauf in die Berge fahren», sagt Christoph Schmid. Allerdings seien auch im verbauten Mittelland noch immer Naturerlebnisse möglich, sogar in unmittelbarer Nähe zu Siedlungsgebieten.
So findet etwa der Naturfilmer und Wildtierbiologe Felix Labhardt die tierischen Hauptdarsteller seiner Filme in den Wäldern rund um Basel. Dort studiert und filmt er abends stundenlang das Verhalten von Dachs- oder Fuchsfamilien. Diese sind zwar sehr scheu, doch Labhardt kennt ein einfaches Rezept, wie man sie in den Naherholungsgebieten der Städte entdeckt: «Man muss nur Augen und Ohren öffnen, um ein Stück Wildnis zu erleben.»
Jost Schneider
Der St. Galler Primarlehrer und Naturfilmer Jost Schneider, 60, hat sich vor allem auf Stadtfüchse und Alpentiere spezialisiert. Im Sommer 2010 gelang es ihm, die Geburt eines Steinbock-Kitzes zu filmen. Das war vor allem eine Frage der Geduld: Fünf Stunden lang musste Schneider unter einer Felswand im Alpstein warten, bis sich die Steingeiss endlich zur Geburt hinlegte. Dann der Schreckmoment: Kaum geboren, fiel das Kitz rund 20 Meter die Felsen hinunter und blieb auf einem schmalen Bord hängen. Doch das Tier blieb unverletzt. Und Schneider zog mit sensationellen Aufnahmen von dannen.
Mit dem Steinadler hatte Schneider weniger Glück. Er wartete zwei Wochen lang in seinem Versteck und legte drei Rehkadaver aus, doch ein Adler zeigte sich nicht. Dafür gelangen dem Kameramann Aufnahmen von fressenden Kolk-raben – sehr scheuen und aufmerksamen Tieren.
Christoph Schmid
Christoph Schmid, 47, versucht sich den Tieren meist ohne Tarnzelt zu nähern. Besonders gut klappt das bei Dachsen – denn die sehen ausserordentlich schlecht. «Wichtig ist aber, peinlich genau auf die Windrichtung zu achten», verrät der Naturfilmer aus Solothurn. Zugvögeln aus dem hohen Norden könne er sich oft bis auf zwei Meter nähern: «Sie haben noch keine schlechten Erfahrungen mit Menschen gemacht.» Auch Nahaufnahmen von balzenden Haubentauchern in der Grande Cariçaie sind ihm schon gelungen. Seinen grössten Glücksmoment erlebte Schmid aber beim Filmen einer Wildschweinbache, die zehn Frischlinge säugte. Zuvor hatte er extra nach Hause rasen müssen, um seine Kamera zu holen. Sein Rezept für gelungene Aufnahmen: «Wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein will, braucht sehr gute Naturkenntnis.»
Felix Labhardt
Der 60-jährige Gymnasiallehrer und Wildtierbiologe Felix Labhardt gehört zu den bekanntesten Naturfotografen der Schweiz. Auch in der Disziplin Film ist er heute ein gefragter Spezialist, obwohl er sich erst ab 2005 mit der Kamera vertraut machte. Einen Namen gemacht hat er sich vor allem mit Aufnahmen von Säugetieren wie Fuchs, Dachs oder Reh. Seine Aufnahmen von seltenen Wildkatzen im Jura zeigte auch das Schweizer Fernsehen.
Auf seinen abendlichen und nächtlichen Streifzügen durch die Natur ist Felix Labhardt immer allein unterwegs. Manchmal versteckt er sich gleich neben einem Weg. «Die Menschen sehen mich nie», schmunzelt er. In brenzlige Situationen ist er kaum je geraten: Der «gefährlichste» Angriff eines Tiers war derjenige einer Hornisse. Lästiger findet Labhardt jedoch die Stechmücken, die immer mal wieder den Weg in sein Tarnzelt finden.
Andreas Meier
«Die Natur macht selten, was du willst», sagt Andreas Meier, «doch genau das gefällt mir beim Filmen.» Da der 62-Jährige aus Biel-Benken mit einer analogen Kamera filmt, kostet ihn jede aufgenommene Minute 120 Franken. Besonders gern geht der Naturschützer in Mooren und Feuchtgebieten auf die Pirsch. Es ist ihm ein Anliegen, dabei seltene Tiere wie etwa den Auerhahn nicht zu stören. Einmal richtete er sich in Korsika frühmorgens in seinem Tarnzelt ein, um unbemerkt Vögel zu filmen. Doch statt Watvögeln traten nackte Menschen vor seine Kamera. Die FKKler entdeckten ihn zwar nicht, doch er wollte die peinliche Situation beenden. Er enttarnte sich – und rannte zum Auto, so schnell er konnte.
Kurt Baltensperger
Wenn Kurt Baltensperger filmt, redet er gern mit den Tieren – egal, ob es sich um Siebenschläfer, Schmetterlinge oder Eidechsen handelt: «Meine Stimme scheint sie zu beruhigen», sagt er schmunzelnd. Der 60-Jährige aus Wiesendangen ZH ist hauptberuflich Coach und Berater. Am häufigsten ist er mit seiner Kamera im Wallis unterwegs, wo er unter anderem dokumentieren konnte, wie die Natur die Waldbrandfläche von Leuk zurückeroberte. Doch auch im heimischen Naturgarten sind ihm etliche Makroaufnahmen gelungen. So konnte er die Metamorphose mehrerer Schmetterlinge vom Ei bis zum Falter filmen. Kurt Baltensperger schneidet und vertont seine Filme im eigenen Studio. «Eine Minute Film bedeutet mindestens zwei Stunden Arbeit», rechnet er vor. Die so entstandenen Werke hat er schon an 700 Vorführungen gezeigt.