Ein Tal baut auf Stein
Das Valle di Peccia litt lange unter Randständigkeit und Entvölkerung. Eine Künstlerschule gibt dem Tessiner Bergtal neue Impulse.
Veröffentlicht am 29. Oktober 2012 - 16:24 Uhr
An den Steilhängen zu beiden Seiten des engen Tals ziehen sich dichte grüne Kastanienwälder hoch, unterbrochen von ein paar schwer zugänglichen Alpweiden zwischen nackten Felswänden. Oben auf den Bergflanken beginnt der Föhrenwald. Im Gelände liegen zahlreiche mächtige Findlinge. Die schmale Strasse schlägt ein paar kühne Haarnadelkurven und quert in einer Galerie einen Lawinenhang.
Die Weiler wirken ausgestorben, ausser vielleicht im Juli und August. Als Folge der Abgeschiedenheit warten hier möglicherweise mehr Rustici auf einen Käufer als anderswo.
Das Tessin ist nicht nur die mondäne Betriebsamkeit von Ascona, Locarno und Lugano, sondern genauso die Stille und Ursprünglichkeit der stotzigen Bergtäler. Das Valle di Peccia, das bei Peccia ins Val Lavizzara mündet, in den obersten Teil des Maggiatals, ist eines von ihnen. Noch etwas abgelegener, noch etwas stiller und noch etwas menschenleerer als andere Täler. Heute leben 180 Menschen im Dorf Peccia und seinen Weilern, 1970 waren es noch 275. Seit 2004 ist die Ortschaft Teil der Gemeinde Lavizzara, einer politischen Fusion von sechs Dörfern, deren Hauptort Prato-Sornico ist.
Sechsmal am Tag fährt die junge Postautofahrerin Francesca Vedova oder eine ihrer beiden Kolleginnen von Peccia nach Piano di Peccia. Dort hinten im Tal steht man in einer imposanten Naturarena und blickt hinauf zu den mächtigen Felswänden von Poncione di Braga, Pizzo Castello und Pizzo della Rossa.
Noch ein paar Kurven weiter hinten, inzwischen auf einem Natursträsschen, ragt eine weitere gewaltige Wand empor, diesmal eine sichtlich von Menschen geschaffene – oder zumindest freigelegte: die Cava di Marmo. Im ältesten Marmorbruch der Schweiz wird seit 1946 weisser Marmor in riesigen Rohblöcken abgebaut. Die Firma Cristallina SA hat bis vor kurzem auch die Weiterverarbeitung in Peccia betrieben, ist für diesen Arbeitsgang aber aus Kostengründen nach Riveo weiter unten im Maggiatal gezogen.
Wie Wolkenkratzer der Urgeschichte türmen sich die geschliffenen Wände fast 200 Meter hoch vor einem auf. Die Blöcke, die aus dem Berg gefräst werden, bestehen aus hochwertigem Marmor, dessen Vorkommen bis ins Wallis reicht. Ein paar Männer in Overalls sind gerade dabei, Sicherungsvorkehrungen zu treffen. Am Zufahrtssträsschen liegen überall Marmorblöcke, und der etwas vergammelt wirkende Maschinenpark lässt darauf schliessen, dass das Unternehmen schon bessere Zeiten gesehen hat.
Den zweiten Rohstoff des Tals – Wasser – nutzt die Firma Ofima, die Maggia-Kraftwerke AG. Doch auch in dieser Branche sind durch die Automatisierung Arbeitsplätze verlorengegangen. Hinten in Piano di Peccia stehen wir neben dem Ausgleichsbecken und blicken auf den Eingang des Zufahrtsstollens zur Turbinenhalle. Das Bauwerk erinnert in seiner trutzigen Wehrhaftigkeit an einen Bunker am Gotthard.
Für eine Besichtigung müsste man sich zwar voranmelden, doch nach Rücksprache mit seinem Vorgesetzten macht der Elektriker Walter Ferrari eine spontane Führung durch die riesige, 1955 erbaute Maschinenhalle. Man wähnt sich in einem Museum der Schweizer Maschinenindustrie: Zwei mächtige Turbinen von Sécheron SA und zwei stattliche Pumpen von Sulzer laufen; weiteres Mobiliar stammt aus der Maschinenfabrik Oerlikon und aus dem Hause Von Roll. «Ja, hier findet ihr all die Namen versammelt, die der Schweiz zu ihrem Ruf als erstklassige Industrienation verholfen haben», sagt Ferrari. «Das Schöne: Die Dinger funktionieren immer noch zuverlässig, und das nach bald 60 Jahren!»
Das Spektakulärste und Ungewöhnlichste aber ist der Fliesenboden. Er besteht aus hellem Peccia-Marmor und verleiht dem nüchternen Turbinensaal etwas Feierliches, Pompöses. Er wird gewissermassen zu einer Kathedrale des Industriezeitalters, und das symbolträchtige Bild lässt uns unweigerlich an die herrliche Kirche von Mogno oberhalb von Peccia denken, die wir tags zuvor besucht haben. Der Stararchitekt Mario Botta hat sie 1992 bis 1996 gebaut, aus weissem Marmor aus Peccia und schwarzem Gneis aus Riveo – Werkstoffe, die in dem Bau ein spannungsvolles Wechselspiel eingehen.
eiter gehts in Richtung Maggiatal: Zeitweilig dem murmelnden und in den Kaskaden schäumenden Peccia-Bach folgend, führt der Weg durch die Weiler, hier Fraktionen oder auch Quartiere genannt: San Carlo, Cortignelli und Veglia. Jede Siedlung hat ihre eigene Kirche und ihren eigenen Friedhof. In der Kapelle von Cortignelli liegt ein Verstorbener aufgebahrt; trotzdem bitten uns die Angehörigen hinein, damit wir das der Schwarzen Madonna von Einsiedeln geweihte Oratorium besichtigen können. Die Kirche von Veglia wartet derweil mit hübschen Fresken auf. Alle Fraktionen präsentieren sich mit gut erhaltenen Dorfkernen und Ensembles, aber auch immer wieder mit Kolonisatorenkitsch wie Wagenrädern, Gartenzwergen und schmiedeeisernen Laternen – sichere Hinweise darauf, dass die Häuser als Ferienwohnungen in der Hand von Deutschschweizern sind. In Veglia soll heute noch eine einzige Tessinerin leben.
Der Blick zurück ins Tal offenbart im mächtigen Felsdreieck des Pizzo Castello die hellen Bänder des Marmors im dunklen Gneis. Und genau dieser Marmor findet sich dann wieder eingangs des Dorfes Peccia. Noch bevor wir die Maggia überqueren, erklingt von einer Anhöhe links eine seltsame Melodie: helles metallisches Meisseln, begleitet von dumpfem Hämmern. Wer den Tönen folgt, stösst auf einen geräumigen Werkplatz mit gedeckten Arbeitsplätzen und einem Laufkran für die Marmorblöcke. 15 Frauen und Männer arbeiten an ihren Steinen, betreut und beraten von Instruktoren. Zur Anlage gehören auch ein grosses Atelierhaus und Atelierappartements für Gastbildhauer, zudem eine Aula, eine Werkstatt und ein Lager.
Die Scuola di Scultura wurde 1984 gegründet. Seit 1986 führt sie der Sankt Galler Kunstpädagoge und Bildhauer Alex Naef, seit 2001 zusammen mit der Kunstpädagogin und Kunsttherapeutin Almute Grossmann-Naef. «Das war immer mein Traum», so der 58-Jährige, «in einem verlassenen Steinbruch im Tessin zu arbeiten, vielleicht mit Freunden.» Die Wahl des Ortes erfolgte nicht zufällig. «Peccia war eine Zeitlang so etwas wie das Carrara der Schweiz», sagt er und erinnert daran, dass berühmte Künstler wie Hans Aeschbacher und Hans Arp mit Peccia-Marmor gearbeitet haben.
Schon vor der Gründung der Scuola war ganz hinten im Tal, gleich am Fusse des Steinbruchs, eine Werkstätte für Kunst und Kreativität anthroposophischer Ausrichtung zu Hause. «Unsere Leute kommen sehr gerne hierher, denn so ein harmonisches Zusammenspiel von Geologie, Natur und Landschaft fördert die Kreativität», sagt Frank Grave. Der Kunstpädagoge aus Freiburg im Breisgau unterrichtet jeden Sommer Hobbybildhauer im Bearbeiten des Steins.
Die private Bildungsinstitution Scuola di Scultura wurde anfangs als eher exotische Erscheinung belächelt, doch heute wird sie weitherum geschätzt und respektiert. Denn inzwischen ist aus dem Geheimtipp für Freaks ein blühendes Unternehmen geworden. Naefs Initiative hat dem Schweizer Marmor zu neuer Beachtung und dem Tal zu einem gewissen Aufschwung verholfen: Seine Schule lockt jedes Jahr um die 300 Leute an, die in meist zweiwöchigen Kursen die Grundlagen der Stein- und Holzbildhauerei oder auch der Metallgiesserei erlernen und in Weiterbildungskursen ihre persönliche Formensprache entwickeln.
Im reichen Kursangebot für Anfänger und Fortgeschrittene mit 43 Kurswochen pro Jahr gibt es auch eine Einführung ins Zeichnen und in Kunstgeschichte. Fachlich geniesst die Schule einen ausgezeichneten Ruf. Derzeit plant man den Ausbau zu einem «Centro Internazionale di Scultura»: In sieben Ateliers sollen dereinst sieben Bildhauer aus sieben Nationen gleichzeitig werken und wirken. Das würde Peccia vollends zu einem erstrangigen Kulturplatz machen.
Für Freunde der Bildhauerei ist die Scuola di Scultura längst zu einem Begriff geworden. Auch im Tal ist man mächtig stolz auf sie, und die entstandenen Arbeiten werden regelmässig in Ausstellungen in Peccia, aber auch in Locarno oder Ascona gezeigt. Das hat dem Ort zu Medienpräsenz und Bekanntheit verholfen. Die Gemeinde Lavizzara ist heute mit ihren 187 Quadratkilometern zwar die zweitgrösste politische Gemeinde des Kantons Tessin, verfügt aber über weniger als 500 Einwohner. Man weiss hier sehr wohl um die Notwendigkeit von Überlebensperspektiven.
Als Logis für ihre Schüler hat die Scuola mehrere Häuser gemietet, die zuvor leerstanden, und natürlich profitieren auch die drei, vier Hotels und Restaurants im Tal von den Gästen. «Die Scuola bringt Leute hierher und damit Verdienst», sagt Bruna Monaci vom Albergo Monaci in San Carlo. «Und das ist gerade in einer Zeit, in der viele Besucher wegbleiben, schon fast lebenswichtig», fügt Cornelia Medici vom Albergo Medici in Peccia an.
Auch Michele Rotanzi, 58, der Bürgermeister der Comune di Lavizzara, ist voll des Lobes: «Abgesehen vom Ökonomischen: Die Menschen, die die Kurse der Scuola besuchen, empfinden Liebe und Achtung für das Tal und für die Natur. Sie sind uns sehr willkommen und machen Peccia über die Landesgrenzen hinaus bekannt.»
An den gedeckten Arbeitsplätzen unter den Zeltplanen wird derweil fleissig weitergehämmert, -poliert und -geschliffen. Veronica Jud aus Genf, 47 und von Beruf Bibliothekarin, ist eine der Schülerinnen. Sie arbeitet gerade an einem Kopf aus Peccia-Marmor, dessen klare Formen sowohl an eine Figur von Amedeo Modigliani als auch an einen Gott der Azteken erinnern. Vor einem Jahr habe sie gelernt, fachmännisch mit Stein und Werkzeug umzugehen, erzählt sie, und jetzt wage sie sich erstmals an eine dreidimensionale Figur. Ihr schwarzes T-Shirt ist weiss vom Staub des Marmors.
Ob sie ihr Werk einmal in eine Ausstellung geben oder gar verkaufen wird? Sie reibt die schmerzenden Handgelenke und sagt: «Ich glaube nicht, dass das jemand kaufen will. Ich verstehe mich nicht als Künstlerin. Wichtig ist mir der Umgang mit dem Stein. Die Herausforderung, der tägliche Kampf. Dieses ständige Zwiegespräch mit dem Stein führt mich zu mir selbst.» Ihre Augen leuchten. Kein Zweifel, da hat jemand seine Bestimmung gefunden.
Anreise Mit dem Bus innert 50 Minuten vom Bahnhof Locarno nach Bignasco Posta, weiter mit dem Postauto in Richtung Fusio bis Peccia (35 Minuten Fahrt). Ab Peccia verkehrt zwischen 6.40 Uhr und 19.35 Uhr sechsmal täglich ein Postauto bis Piano di Peccia im hinteren Teil des Tals.
Essen
Grotto Pozzasc
6695 Peccia
Telefon 091 755 16 04
www.pozzasc.ch
Gilt als beste Adresse im Tal. Direkt am Peccia-Bach gelegen. Berühmt für seine Polenta und weitere Tessiner Spezialitäten.
Übernachten
Albergo e Ristorante Medici
6695 Peccia
Telefon 091 755 15 02
Gleich um die Ecke befindet sich die Scuola di Scultura.
Albergo e Ristorante Monaci
6695 San Carlo
Telefon 091 755 11 45
Idyllisch gelegen weiter hinten im Tal. Gute Küche.
Azienda Agricola Mattei
6695 Piano di Peccia
Telefon 091 755 14 67
Agrotourismus zuhinterst im Tal
Sehenswürdigkeiten
Cava di Marmo
6695 Piano di Peccia
Im einzigen Marmorsteinbruch der Schweiz wird Peccia- oder Cristallina-Marmor abgebaut.
Maggia-Kraftwerke Ofima
6695 Piano di Peccia
Voranmeldung erforderlich:
Telefon 091 756 66 66
www.ofima.ch
Scuola di Scultura
6695 Peccia
Telefon 091 755 13 04
www.bildhauerschule.ch
www.centroscultura.ch
Kirche San Giovanni Battista
6695 Mogno
Der Weiler Mogno liegt zwischen Peccia und Fusio. Mario Botta verwendete für den Bau hellen Marmor aus Peccia und dunkel- grauen Gneis aus Riveo, einem Ort weiter südlich. Er schuf damit eine enge Verbindung zwischen Architektur und Bergwelt.
Wandern
Eine sechsstündige Rundwanderung führt von Piano di Peccia zur abgelegenen Käserei in Corte della Froda, zur Alp Piatto della Froda und zum nicht bewirteten Rifugio Poncione di Braga.
Sehr schön sind die Routen zum Lago di Naret und nach Robiei (von hier fährt die Luftseilbahn nach San Carlo im Val Bavona).
Buchtipp
Rudolf Meyer, Alex Naef, Almute Grossmann-Naef (Hg.): «Marmor macht Schule. Vom Werden und Wirken der Bildhauerschule von Peccia»; Haupt-Verlag, 2011, 176 Seiten, CHF 43.90 Die Geschichte der Schule und des Peccia-Marmors. Reich illustriert und sehr informativ.