Es ist Sommer, im Hockeystadion von Ambri-Piotta kochen die Emotionen hoch. 5000 Leute sind im 700-Seelen-Dorf zusammengekommen. Sie wollen ihre Helden von Ambri-Piotta sehen, wie sie die Trikots der neuen Saison überziehen und sich unters Volk mischen. «Mannschaftsvorstellung» nennt sich das. Eis gibt es dabei nur am Stiel, Schlittschuhe und Schläger bleiben im Spind.

Egal. In der Curva Sud toben die Fans, singen den Klub in die nächste Saison, orchestriert vom Capo mit dem Megafon, die weiss-blauen Fahnen wehen – auf dass die Mannschaft die Meisterschaft der National League A gewinnen möge. Was den Biancoblu in ihrer 77-jährigen Geschichte noch nie gelungen ist.

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Eisiger Talwind bläst durch die Halle

Gesang und Getrommel übertönen Stimmengewirr und Kindergeschrei zwischen den Ständen und Festbänken unten. Jetzt dominieren sie, die echten Fans, die Ultras. Mittendrin: Urs Dürig, 42, aus dem Kanton Luzern. Er ist Aussendienstmitarbeiter, Frühaufsteher, stählt seinen Körper im Kraftraum, geht gern mit Kollegen aus. Doch wenn sein Klub spielt, steht er im Stadion.

Während der Saison fährt Dürig an nahezu jeden Match: für die Heimspiele in der Leventina knapp eineinhalb Stunden mit dem Auto durch oder auch einmal über den Gotthard. Und das auch dann, wenn seine Mannschaft die Spiele regelmässig verliert. Die kleine Eishalle Valascia, deren Grundmauern seit 55 Jahren stehen, ist das letzte offene Stadion der Liga. Der kalte Talwind bläst übers Eisfeld und durch die Zuschauerreihen, im Winter fallen die Temperaturen schnell unter null und bis zu minus 20 Grad. Links und rechts der Südkurve drängt Geäst vom Lawinenhang her ins Stadion. Dürig kommt von den Spielen oft nicht vor halb zwei Uhr morgens nach Hause. Und um sieben muss er bereits wieder aus den Federn. Sein Chef weiss von seiner Leidenschaft. Solange die Gesamtleistung stimme, sei das für ihn aber okay. Dürig pafft seinen Zigarillo und bläst den Rauch ins Stadion.

Fans. Laut Duden sind dies «begeisterte Anhänger von jemandem oder etwas». Sie machen da Ferien, wo die Mannschaft ihr Trainingslager aufschlägt, sind über Monate tief betrübt, wenn ihre Lieblingsband sich auflöst. Sie sammeln mit Eifer Puppen oder Krawatten oder geben viel Geld für eine Briefmarke aus, die bei anderen nur Achselzucken auslöst.

Die Fans der «Simpsons» haben in jeder Lebenslage einen passenden Spruch aus der US-Zeichentrickserie parat, James-Bond-Anhänger schwärmen an ihren Treffen von den neuesten 007-Requisiten des Geheimagenten, die online zu ersteigern sind. Und als Hollywoodstar Nicolas Cage Elvis-Tochter Lisa Marie Presley heiratete, spotteten die Medien, der bekennende Fan von Elvis habe sich ein exklusives Sammlerstück geschnappt.

Eine zeitintensive Leidenschaft

Eins ist allen Fans gemein: Der Rest der Welt schüttelt irritiert den Kopf und versteht nicht, warum jemand so viel Energie, Zeit und Geld in sein Objekt der Leidenschaft steckt. Plinius dem Jüngeren, Anwalt und Senator im alten Rom, ging es schon so: Er soll sich ereifert haben über das Publikum von Wagenrennen, wie im Buch «Fans. Soziologische Perspektiven» zu lesen ist. Es erstaune ihn schon sehr, dass so viele tausend erwachsene Menschen solch eine kindische Leidenschaft dafür entwickelten, immer und immer wieder galoppierenden Pferden und Wagenfahrern zuzusehen.

Urs Dürig war 18, als ihn das Virus Ambri befiel. Ein Kollege schleppte ihn in die Valascia, weil die Stimmung dort gut sein sollte. Ambri gegen Kloten. «Es nahm mich voll rein», sagt Dürig lächelnd, ohne dies erklären zu können. Ambri verlor damals haushoch. Eine Woche später stand der Innerschweizer in Biel bereits wieder an der Bande.

Das Fansein spielt in der Entwicklung zum Erwachsenen eine wichtige Rolle, sagt Moritz Daum, Entwicklungspsychologe an der Universität Zürich. «Jeder Mensch braucht Vorbilder. In der Auseinandersetzung mit ihnen entwickeln Jugendliche ihre Identität. Von Idolen schauen sie sich Verhalten ab, eifern ihnen nach.» Teenager können sich so einer Subkultur zugehörig fühlen und bekommen eine Bestätigung der eigenen Persönlichkeit. Anderseits grenzen sie sich zusammen mit den Gleichgesinnten ab. «Irgendwann beginnen die Jugendlichen dann zu differenzieren und merken, dass sie in gewissen Aspekten gar nicht wie ihr Star sein wollen. Ein essenzieller Punkt auf dem Weg zur eigenen Identität», so Daum.

Fans sind meist keine Fanatiker

Fantum ist aber mitnichten ein Phänomen der Jugend. Bei vielen überdauert die Liebe die Teenagerjahre. Urs Dürig zählt zu ihnen. Freundinnen kamen und gingen – Ambri-Piotta ist geblieben.

Neben dem Krafttraining ist der Leventiner Hockey-Club die Konstante in Dürigs Leben. Seine Familie. Eine Frau hätte darin Platz: «Aber es wäre schön, wenn sie sportbegeistert wäre», er deutet in die Curva, «und das hier verstünde.» Gunter A. Pilz und Anton Lehmann beschäftigen sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem Fanphänomen. Sie sagen: Es geht gar nicht um die Mannschaft, den Star, die Briefmarke. Zumindest nicht nur. Fansein ist viel komplexer. Soziologe Pilz, selbst langjähriger Fan von Bayern München, erklärt: «Als Fan kann man am Erfolg seiner Mannschaft oder seines Stars teilhaben.» Erfolg sei heute gesellschaftlich sehr wichtig, aber privat oder beruflich nicht jedem gegeben. «Fans sind überzeugt, dass sie mit ihrem Einsatz und ihrer Unterstützung für den Erfolg elementar sind.» Laut Anton Lehmann, der die

Urs Dürig in der Valascia des HC Ambri-Piotta.

Quelle: Philipp Rohner

Schweizer Fanszene im Fussball und im Hockey seit langem mitverfolgt, hat sich dieses Gefühl durch die Professionalisierung des Sports noch verstärkt: «Die Spieler werden heute als Ware gehandelt, was die Verbundenheit zum aktuellen Klub stark relativiert. Die Fans sehen sich als die einzigen treuen Seelen – auf die der Verein wirklich angewiesen ist.» Für viele Anhänger kommt ein Wechsel deshalb nicht in Frage.

Wie wichtig die Fans für einen Klub sind, weiss keiner besser als Ambri-Piotta: Zweimal sicherten Spendenaktionen der Anhänger dem Klub das Überleben. Nach der Saison 1998/99 kamen durch Spenden zweieinhalb Millionen Franken plus weitere zwei Millionen von prominenten Gönnern zusammen. Und nach der Saison 2010/11 wurden innert weniger Monate über 2,7 Millionen Franken gesammelt.

Vor der Curva Sud hängt an diesem Samstag ein Transparent an der Bande: «Ein weiteres Jahr mit Kampfgeist, Herz und Mut». Noch hat die Saison nicht begonnen. Noch herrscht gute Stimmung. Das kann schnell kippen. Spielt die Mannschaft schlecht, werden die Sprüche an der Bande und die Gesänge in der Kurve rauer. Dann landen auch mal Flaschen und Feuerzeuge auf dem Spielfeld, sagt Urs Dürig. Aber wegen verlorener Spiele das Ambri-Trikot an den Nagel hängen? Für den Ultra käme das einem Verrat gleich.

Fast eine Familie

In Urs Dürigs Schrank liegen 40 Schals, unzählige Spielertrikots, T-Shirts, Kapuzenpullis und Jacken. Alles Ambri-Piotta. Jedes Jahr kreieren er und seine Kollegen aus der Innerschweiz neue Shirts und Jacken für ihre Gruppierung, die Teil der weiss-blauen Bewegung ist. Intensiv wird im Sommer diskutiert, wo der Schriftzug hinsoll und in welcher Grösse und Farbe. «Momentan sind von uns mehrere T-Shirts in Umlauf, das müssen wir ändern. Es muss einheitlich sein», sagt Dürig. Diese Art von Corporate Identity stiftet laut Gunter A. Pilz gegen innen Identität und gegen aussen ein unverkennbares gemeinsames Erscheinungsbild. Dabei gingen die Fans «fast wie Designer» ans Werk.

Die Curva Sud springt im Takt, die Hände in der Höhe. «Ambri! Ambri!» Dürigs zur Igelifrisur gegelter blonder Haarschopf hüpft auf und ab. Emotionen. Miteinander. Darum geht es. Dürig umschreibt es so: «50 Prozent Mannschaft, 50 Prozent Familie» – und erzählt vom Moment, als die Mannschaft in Budapest in der Eishalle verblüfft realisierte, dass ihr 500 treue Fans an das Vorbereitungsturnier ins Ausland gefolgt waren. «Mit unseren Gesängen und Choreografien haben wir die Fans der Gegner in Grund und Boden gedrückt.»

Dürig, dessen Schulterbreite und Oberarmumfang locker mit jedem Eishockeyspieler mithalten können, stand nicht immer da, wo er heute in der Curva steht. Er fing wie alle unten irgendwo an der Seite der Fankurve an. Da, wo die «Normalos» stehen. «Modefans» nennt der Ultra sie auch. Sie kommen nur an den Wochenenden, nur wenn der Klub gut spielt.

Inzwischen ist er oben rechts angelangt. Es herrscht eine klare Hierarchie in der Kurve, einzelne Abschnitte sind bei wichtigen Spielen den Ultras vorbehalten. Der Innerschweizer findet das richtig. «Zuerst kommen wir, die für die Mannschaft alles tun. Das ist arrogant, aber ich habe mich auch hocharbeiten müssen.» Heute hat er seinen Rang, die Jungen begegnen ihm mit Respekt. Wie er das gemacht hat? Er habe sich engagiert, bei Choreografien mitgearbeitet. Mehr will er nicht sagen.

Asterix bei den Leventinern

Choreografien sind für die Ultras entscheidend. Wer hat die bessere, die originellere? Die gegnerischen Fans oder man selbst? Urs Dürig erinnert sich an eine ganz besondere, über ein Jahr hätten die Vorbereitungen gedauert. Thema: Asterix und Obelix. Ambri, das kleine Leventiner Dorf, das gegen die reichen Römer respektive den HC Lugano kämpft. Die Anführer der Curva in Asterix- und Obelix-Kostümen liessen die Fans ein riesiges Tuch mit Malereien in die Höhe halten. «Videos der Choreografie gingen um die Welt.» Dürigs stahlblaue Augen blitzen.

Laut Gunter A. Pilz bringt das Fansein Anerkennung unter Gleichgesinnten, im besten Fall sogar vom Idol selbst. Ein weiterer wichtiger Aspekt, warum Menschen sich mit all ihren Ressourcen dem Fansein verschreiben – egal, ob Jugendliche oder Erwachsene. «Anerkennung haben die Fans auch von Nichtfans verdient», finden Pilz und Lehmann. «In den Gruppen wird viel geleistet», sagt Lehmann, der sich in mehreren Fanprojekten engagiert hat und heute für Swiss Olympic den Lehrgang für Sicherheits- und Fanverantwortliche leitet. Fans seien engagierte, kreative Menschen mit einer Mission. Sie lernten viel an den Aufgaben innerhalb der Gruppe. «Jede Fangemeinschaft gibt Geborgenheit, setzt Leitplanken und ermöglicht es jungen Leuten, ihre Wildheit auszuleben.»

Diese Wildheit entlädt sich auch in Gewalt. Gerade im Fussball und im Hockey. Das liegt laut Soziologe Pilz im Aufeinandertreffen der gegnerischen Mannschaften: «Provokationen sind dabei fester Bestandteil. Sie haben Tradition.» Anton Lehmann glaubt, dass bei sehr körperbezogenen Sportarten die Aggressivität vom Spielfeld eher auf das Publikum überschwappe. Hinzu kämen das Prestige, das Fussball und Hockey hierzulande geniessen, und die schiere Menge der Fans, die bei vielen anderen Sportarten fehlt. «Die gelebte Rivalität, die provokativen Gesänge und Slogans ziehen aber auch eine gewisse Art von Fans an», so Lehmann.

Urs Dürig kennt sie, die Pöbeleien mit Fans anderer Klubs – von früher. Er sei gesetzter geworden, sagt er. «Ich unterscheide zwischen auf und neben dem Eis.» Und zu seinem Kollegenkreis zählten schon immer auch Anhänger der Erzfeinde.

Abschied vom «Hexenkessel»

Der HC Ambri-Piotta, daheim im kleinen Leventiner Dorf, wo im Winter kaum ein Sonnenstrahl hinreicht und von wo die Jungen nach Lugano und Bellinzona abwandern, kann sich dem Rest der Welt nicht entziehen. In den nächsten Jahren muss die Valascia einem geschlossenen Stadion weichen. Eine schlimme Vorstellung für die Ultras. Vieles wird anders, die Pyros werden verschwinden – oder zumindest seltener. Urs Dürig will sich im neuen Stadion einen Sitzplatz nehmen. «Ich mache den Jungen Platz.» Aber unscheinbar abtreten und in der Menge der Sitzplatz-«Normalos» untergehen, das wäre nicht sein Stil. «Wir Urgesteine werden dafür sorgen, dass die Mannschaft und die anderen Fans uns weiter wahrnehmen», sagt er und zeigt sein Spitzbubengrinsen.

Doch noch kocht der Hexenkessel Valascia, als Abschieds-Choreografie lassen die Ultras zwischen dem Feuerrot der Pyros und dem Weiss-Blau der Fahnen 1.-August-Vulkane sprühen. Gleichzeitig stimmt die Menge die Ambri-Piotta-Hymne «La Montanara» an. Und Urs Dürig ist mittendrin.

Fan von Mangas: Jasmin Hunziker, 17

«Früher habe ich über die Freaks gespottet, die sich als japanische Mangafiguren verkleiden und sich an Anlässen treffen. Cosplay nennt sich das. Heute gehöre ich dazu und gebe mein ganzes Geld, das ich als Gymnasiastin habe, dafür aus. Ich schlüpfe gern in Rollen. Meine Lieblingsfigur ist Hanji Zoe, eine Korporalin und Forscherin, die die Bevölkerung vor Titanen beschützt. Sie habe einen ähnlichen Charakter wie ich, sagt meine Freundin, die mit mir diese Welt entdeckt hat. In meinem Zimmer stehen 118 Mangabücher. Ich zeichne selbst Mangas, spiele auf dem Klavier Lieder aus Animefilmen nach, und in Alltagssituationen fallen mir oft passende Szenen aus den Geschichten ein. Nur Japanisch kann ich leider noch nicht.»

Jasmin Hunziker

Quelle: Philipp Rohner
Fan von Vespas: Daniel Urben, 48

«Vespa, das ist Meer, Sonne, Ferien. Wer ‹Roman Holiday› (Ein Herz und eine Krone) mit Gregory Peck und Audrey Hepburn gesehen hat, weiss, wovon ich spreche. Vespafahren ist Lebensgefühl. Als einjähriger Knirps stand ich auf der Vespa meines Vaters. Meine erste eigene konnte ich mir mit 20 leisten. Inzwischen habe ich zwölf Stück und meine Leidenschaft zum Beruf gemacht: Ich führe einen Laden, in dem wir ausschliesslich Vespas flicken und verkaufen, mitsamt Zubehör, Helmen, Kleidern, Tassen, Büchern. Meinen Job als Grafiker habe ich an den Nagel gehängt. Ich liebe es, an der Vespa zu schrauben, ich liebe ihre Form, das Fahren. Mit dem Fanklub machen wir Ausflüge und fachsimpeln. Auf der Vespa fühle ich mich einfach am freisten.»

Daniel Urben

Quelle: Philipp Rohner
Fans von Leonard: Reto Zimmermann, 47, und Madeleine Villars, 49

Zimmermann: «Ich führe den Schweizer Fanklub von Schlagerstar Leonard. Wir sind eine kleine Fangemeinde, aber mit den richtigen, treuen Fans kann man viel erreichen. Etwa wenn ich Aufrufe mache, damit alle online in den Hitparaden ihre Stimme abgeben. Bei Auftritten treiben wir Leonard zur Höchstleistung an. Derzeit planen wir mit dem Management das Adventswochenende, das er jedes Jahr mit uns verbringt. Ich würde das für niemand anderen tun, es ist viel Arbeit. Aber über die Jahre sind wir Freunde geworden.»

Villars: «Als ich Leo vor 20 Jahren erstmals am Fernsehen sah, hatte ich Gänsehaut. Er singt, was ich fühle. Als ich einige familiäre Schicksalsschläge erlebte, war er eine Art musikalischer Psychiater und Schutzengel. Er ist mir oft näher als jeder andere Mensch. Aus Dankbarkeit und Treue habe ich mir ein Tattoo mit Musiknoten und seinen Initialen stechen lassen. Er sagte mir, dass dies eine Ehre für ihn sei. Ich lade meine Fotos von den Konzerten auf eine Website, damit alle Fans etwas davon haben. Leo hat sich dafür bedankt. Dabei gebe ich ihm nur etwas zurück.»

Reto Zimmermann und Madeleine Villars

Quelle: Philipp Rohner
Videos: Fan Choreographien weltweit