Wenn sich irische Rabauken auf die griechische Mythologie berufen, muss eine Tragödie passiert sein. Tatsächlich: Das Stadion von White City, diesem Ort «von Schnelle und Geschick» im Westen Londons, ist abgerissen worden. Untergegangen wie das sagenumwobene Inselreich Atlantis. Was die Folk-Punk-Band The Pogues mit Pathos besingt, ist zwar über 30 Jahre her und der letzte Match der Queens Park Rangers an diesem Ort noch länger, aber verklärte Erinnerungen vergehen nie. Am allerwenigsten bei Fussballfans.

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In England herrscht ein regelrechter Kult um die «Lost Grounds», um die ausgedienten Stadien, von denen nur noch Bruchstücke übrig geblieben sind – wenn überhaupt.

Um zu spüren, was nicht mehr zu sehen ist, reisen die Nostalgiker unter den Fussballfreunden an frühere Stätten grosser Schlachten und versuchen sich auszumalen, wo im neu hingestellten Wohnkomplex früher einmal ein Torpfosten gestanden haben muss.

«Oh sweet city of my dreams, of speed and skill and schemes, like Atlantis you just disappeared from view.»

The Pogues: «White City»

Ihr Tun basiert auf folgenden Disziplinen:

  • Groundhopping: möglichst viele Fussballspiele in immer anderen Stadien besuchen.

  • Die Vertiefung heisst Groundspotting: Groundhopping ohne Spiele – die Magie leerer Arenen erfahren.

  • Und der Königsweg ist Urban Exploration: Aufspüren und Erkunden verlassener Einrichtungen im städtischen Raum.


Die Jäger und Sammler von verlassenen und erst recht von verschwundenen Stadien verstehen sich als die wahren Liebhaber des Fussballs, weil sie seinen Kern erforschen: die identitätsstiftenden Orte, an denen er gespielt wird oder wurde. Public Viewing bei seelenlosen Grossanlässen wie der bevorstehenden Europameisterschaft? Das würde ihnen nicht einmal im Traum einfallen.

Längst sind es nicht allein wunderbar verschrobene Engländer, die ihre Freizeit mit dieser Art des Reisens verbringen. Stadionarchäologen sind unterdessen in ganz Europa unterwegs. Die Schweiz hat ihnen einiges an Anschauungsmaterial zu bieten, wurden doch hierzulande in den letzten Jahren etliche verlotterte Arenen ausser Betrieb gesetzt.

Die «Lost Grounds» sind dabei immer auch ein städtebaulicher Faktor. Einst üblicherweise am Stadtrand angelegt, sind die Stadionareale heute von den gewachsenen Städten umzingelt und bieten attraktiven Entwicklungsraum. Was immer dort entsteht oder bereits entstanden ist: Die neuen Nutzer sollten sich nicht über Besucher wundern, die mit glasigem Blick übers Gelände schleichen.

Diese Schweizer «Lost Grounds» haben wir besucht:

Kapitel 1: Landhof, Basel

Kapitel 2: Charmilles, Genf

Kapitel 3: Espenmoos, St. Gallen

Kapitel 4: Gurzelen, Biel

Kapitel 5: Hardturm, Zürich

Quelle: Kuster Frey

Weitere Informationen zum Thema



Buchtipp:

  • Werner Skrentny: «Es war einmal ein Stadion... Verschwundene Kultstätten des Fussballs»; Verlag Die Werkstatt, 2015, 176 Seiten, CHF 34.90. Hier bestellen.
Quelle: Kuster Frey

Was war: Das Stadion Landhof in Kleinbasel war gleich mehrfach ein Vorreiter. Hier wurde 1908 die erste Tribüne des Landes erstellt, damit das erste Länderspiel zwischen der Schweiz und Deutschland stattfinden konnte; für die Deutschen war es die Premiere überhaupt. Die Schweiz gewann vor 4000 Zuschauern 5:3. Bis 1920 blieb der «Ländi» das Nationalstadion. Vor allem aber war er die Heimat des FC Basel. 1898 gab es das erste Ligaspiel, ein Derby gegen die Old Boys. In jener Zeit war um das Feld eine Radrennbahn angelegt, nobel «Vélodrome de Bâle» genannt. Bis Mitte der Fünfzigerjahre schlug im Landhof das Herz des Basler Fussballs – dann kam das St.-Jakob-Stadion.

Was ist: Geblieben ist der Fussballplatz, den Quartier- und Plauschteams nutzen. Auch die Stehrampen rundherum bestehen noch. Bloss sieht man sie kaum mehr, denn die Natur hat sie zurückerobert – wuchernde Sträucher stehen fast so dicht wie früher die Zuschauer. In der einstigen Tribüne deutet ein Töggelikasten darauf hin, dass hier Jugendarbeit angeboten wird. In erster Linie ist der heutige Landhof aber eines: eine Oase im dicht bebauten Wettsteinquartier. Ein geschlossener Ring an Wohnhäusern, früher eine Gratistribüne für die Anwohner, beschützt das Areal fast trotzig: Hände weg vom «Ländi»!

Was wird: Der Landhof bleibt tatsächlich, was er ist: grün. Und er bleibt auch ein kleines bisschen Stadion. Das Umgestaltungskonzept sieht das Anlegen eines wilden Stadtgartens vor. Dabei wird das Spielfeld als Referenz an die Vergangenheit in voller Grösse erhalten, und aus den Stehrampen werden Spielflächen. Nur die lottrige Holztribüne wird abgerissen, voraussichtlich 2017.

Quelle: Kuster Frey
Quelle: Kuster Frey

Was war: Eine Tribüne mit 464 Plätzen (Eintritt: CHF 6.35) und steile Betonrampen für die Stehplatzzuschauer (CHF 1.90) – mit diesen Merkmalen galt das Stade des Charmilles im gleichnamigen Genfer Stadtteil bei seiner Eröffnung 1930 als Mass der Dinge in der Schweizer Stadionlandschaft. Böse Zungen würden sagen: Von da an ging es nur noch abwärts. Denn gegen Ende seines Lebenszyklus’ zerfiel das Bauwerk in Raten. 1995 verfügte die Liga eine Teilschliessung – die vernachlässigte Tribune A drohte einzustürzen. Als der traditionsreiche Servette FC 1999 seinen bislang letzten Meistertitel feierte, wurden nur noch 9250 Zuschauer in die Arena gelassen, die einst 40'000 Leuten Platz geboten hatte. Ende 2002 gingen die Lichter endgültig aus, und die Charmilles wurde während Jahren dem Zerfall überlassen. 

Was ist: Neues Leben an der Rue de Lyon, längst eine gefragte Lage für die Stadtentwicklung, kündigte sich Mitte der Nullerjahre an. Erste Pläne für einen Park mit angrenzenden Wohn- und Fabrikbauten wurden geschmiedet. Dahinter stand die Genfer Bankiersdynastie Hentsch – genauer: die Nachfahren von Gustave Hentsch (1880 bis 1962), einst Torhüter und Captain des Servette FC. Zur gebauten Realität wurden die Pläne schliesslich im vergangenen Sommer mit der Eröffnung des öffentlichen Parc Hentsch. Er ist 3,8 Hektaren gross und mit 20'000 Pflanzen bestückt. Wer hier noch Fussball sucht, muss genau hinschauen: Vom alten Stadion ist einzig ein 25 Meter hoher Beleuchtungsmast übrig geblieben.

Was wird: So bald nichts mehr – mit dem Parc Hentsch ist die Zukunft für eine Weile gebaut.

Quelle: Kuster Frey
Quelle: Kuster Frey

Was war: In der jüngeren Vergangenheit wurde die Atmosphäre im Espenmoos gerne mit «hitzig» oder «aufgeladen» beschrieben. Nicht von ungefähr: Eng und laut wars meist bei den Spielen des FC St. Gallen, die grün-weissen Fans hoffnungslos einäugig – ein Hexenkessel. Umso gemächlicher ging es im Stadion, in dem der älteste Schweizer Fussballverein ab 1910 spielte, früher zu und her: Bis in die Fünfzigerjahre weideten nämlich regelmässig Schafe auf dem Spielfeld, weil der Platzwart noch keinen Rasenmäher hatte. 1969 wurde mit dem Neubau der eleganten Haupttribüne mit dem geschwungenen Dach ein architektonischer Glanzpunkt gesetzt. Trist verlief hingegen der Abschied des FC St. Gallen vom guten, alten Espenmoos: Im Mai 2008 stieg der Verein nach dem letzten Spiel ab, und randalierende Fans richteten schwere Verwüstungen an. Für einmal war es zu hitzig geworden.

Was ist: Nach dem Exodus der Profis wurde die Anlage für den Breitensport umgenutzt. Alle Nebentribünen riss man ab, dafür legte man einen zusätzlichen Kunstrasenplatz an. Vom vormaligen Stadion existieren nur noch die Haupttribüne sowie die markanten Beleuchtungsmasten. Neben Fussball wird auf dem Espenmoos heute auch Rugby und American Football gespielt.

Was wird: Am liebsten nichts mehr Neues, wenn es nach den Nostalgikern unter den St. Galler Fussballfreunden geht. Als die Stadt vor zwei Jahren die teils havarierten Original-Schalensitze auf der Tribüne durch Holzbänke ersetzen wollte, liefen sie Sturm – als würde mit den Stühlen auch die Erinnerung an die schönen Zeiten aus der Verankerung gerissen, da sich im Bratwurstduft unter dem halbrunden Dach die Lokalprominenz ihr Stelldichein gab. Die Sitze sind noch da.

Quelle: Kuster Frey
Quelle: Kuster Frey

Was war: «FC Biel Bienne» prangte in riesigen roten Lettern über den vier Kassenhäuschen mit dem vermeintlich schwebenden Betondach. Unübersehbar und irgendwie grösser, als es der örtliche Fussballklub je war. Immerhin: In der Saison 1946/47 holten sich die Bieler den Schweizer Meistertitel in ihr damals schon nicht mehr ganz taufrisches Gurzelen-Stadion (erstellt 1913). Dem absoluten Highlight folgte kurz darauf der Tiefpunkt in der über hundertjährigen Geschichte: 1951 brannte nach einem Spiel die Haupttribüne nieder – das darunter gelagerte Sägemehl, mit dem in jener Zeit die Spielfeldlinien markiert wurden, hatte sich durch eine weggeworfene Zigarette entzündet. Im Neubau schnürte sich ein paar Jahre später ein gewisser Jupp Derwall regelmässig die Stollenschuhe. Was er als Trainer auf der Gurzelen lernte, führte ihn schliesslich bis zum Posten als erfolgreicher deutscher Bundestrainer.

Was ist: Verlassen und verriegelt, beiseitegestellt wie eine verschmähte Geliebte – das ehrwürdige Stadion Gurzelen ist seit der Dernière im Mai 2015 ein «Lost Ground» par excellence. An diesem Ort mag die Zukunft rosig sein, aber ein grosser Match wird hier nie mehr angepfiffen.

Was wird: Frühestens ab 2020 wird das alte Stadionareal nicht mehr wiederzuerkennen sein. Dann könnten nach den Plänen der Stadt Biel die ersten Gebäude eines gänzlich neuen Stadtteils in die Höhe gezogen werden. Geschichtsbewusste Groundspotter dürfen hoffen: Die Kassenhäuschen mit dem Betondach sollen in einen öffentlichen Platz integriert werden. Das architektonische Schmuckstück des maroden Stadions ist im städtischen Bauinventar als «schützenswert» eingestuft.

Quelle: Kuster Frey
Quelle: Kuster Frey

Was war: Das Hardturm-Stadion in Zürich-West war ein Ort der Höchstwerte: Hier sicherte sich Rekordmeister GC die meisten seiner 27 Titel. Unerreicht für hiesige Fussballstadien ist auch die Anzahl Tribünenbrände: zwei (1934/68). Und als Superlativ fand im Hardturm 1956 mit einem Länderspiel gegen Brasilien das erste Spiel unter Flutlicht in der Schweiz statt. Die 1929 eröffnete und später mehrfach umgebaute Arena galt mit ihrem «britischen» Charakter – Tribünen bis ans Feld – als eines der stimmungsvollsten Schweizer Stadien. Im Herbst 2007 machte sich das Publikum nach der Partie Grasshoppers – Xamax über den Rasen her und trug ihn in Pizzaschachteln stückweise nach Hause: Der letzte Match im baufälligen Hardturm war gespielt. Im Jahr darauf besorgten die Bagger den Rest.

Was ist: So gut wie nichts. Das Areal ist eine öde Brache, ans Stadion erinnert nur ein Teil der Stehrampen. Gelegentlich machen Zirkusartisten oder Fahrende hier Station, Leben herrscht sonst einzig im Quartiergarten auf dem alten Trainingsplatz. Letzten September flackerte im Hardturm kurz Fussballstimmung mit Fangesängen und Pyros auf: GC-Fans hatten ein «Legendenspiel» organisiert – der guten alten Zeiten wegen.

Was wird: Die Aktion zielte aber auch auf die Zukunft: Im «Lost Ground» Hardturm soll der Fussball wieder aufleben. Der Weg zu einem neuen Stadion an diesem Ort ist allerdings steinig. Nachdem das Stimmvolk 2013 ein Vorhaben der Stadt bachab schickte, sollen es nun private Investoren richten; für diesen Juni ist die Jurierung der eingereichten Projekte geplant.

Quelle: Kuster Frey