Der Pickel ist das Sehnsuchtsobjekt meines Zehnjährigen. Wochenlang nervt er mich mit der Frage, wann er nun endlich seinen Pickel bekomme. «Am ersten Kurstag, nur Geduld», so meine Standardantwort. Am Schluss der Ausbildungswoche hat der Pickel aber ausgedient. Alles rund ums Klettern ist cool, Hochtouren mit Pickel und Steigeisen hingegen sind blöd. Doch dazu später. Der Familien-Bergsteigerkurs findet in Saas Fee im Wallis statt, dem Kanton mit den meisten Viertausendern der Schweiz. Wunderschönes und ideales Lerngelände also im Saastal für uns Bergnovizen.

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Knotentechnik lernen die Kinder schnell

Gleich nach dem Einchecken in der modernen Jugendherberge mit Wellnessanlage gehts in den nahen Klettergarten etwas unterhalb in der Feeschlucht. Der Bergführer Dominik Schwitter, 29, stellt der sechsköpfigen Gruppe, einer Familie mit zwei Kindern sowie meinem Sohn und mir, das Ausbildungsprogramm vor. Seiltechnik, Klettergarten, Klettersteigtour, Eisausbildung auf dem Gletscher und zuletzt, als Höhepunkt der Woche, die Besteigung des Allalinhorns (4027 Meter über Meer) – einer der einfachsten Viertausender der Alpen. Dann zeigt uns Schwitter die wichtigsten Knoten. 

Zum Anseilen den Achterknoten, zur Partnersicherung den Halbmastwurf und den Prusik als Klemmknoten zur Selbstsicherung. Erstaunlich, wie schnell sie die Kinder beherrschen, zu dritt eine Seilschaft bilden und die Felswand hochklettern. Sie sichern sich gegenseitig – einen Erwachsenen könnten sie nicht halten, da der Gewichtsunterschied zu gross ist. Klettern soll das soziale Verhalten fördern, da die Kinder lernen, Verantwortung füreinander zu übernehmen und sich anderen anzuvertrauen. Sichtlich stolz grinsen sie zu uns Erwachsenen herab, die etwas ängstlich ihren Kraxeleien zuschauen, bevor wir es selber probieren. 

Alle in der Gruppe wandern gern. Kletter- und Hochtourenerfahrung hat aber kaum jemand. Deshalb besuchen wir diese Ausbildungswoche. Bergführer Schwitter sagt: «Dieser Kurs ist für Familien gedacht, die das Bergsteigen mit all seinen Facetten kennenlernen wollen. Ziel ist, danach auf leichte bis mittlere Hochtouren mitgehen zu können.»

Da am nächsten Tag das Wetter schlecht ist, fahren wir zum Hohlaubgletscher statt in den Klettergarten ob Saas Almagell. Wir sind früh unterwegs, aber nicht allein: Die jüngsten Schweizer Kader-Nachwuchsskifahrer sind ebenfalls in den Gondeln.

Verankerungen für Schnee und Eis

Nach etwa 30 Minuten Wandern auf dem Gletscher mit Steigeisen kommen wir beim Übungsgelände an. Es ist Hochsommer und dennoch kalt, und es regnet leicht. Das Eisklettern mit zwei Pickeln finden die Kinder trotzdem toll. Sie sind angeseilt – bis auf meinen Sohn. Der klettert lieber solo und ungesichert; Bergführer Schwitter beruhigt mich, weit fallen könne er nicht. Wirklich gelassen bin ich nicht.

Ruck, zuck schaffen die drei Kinder die steile Wand. Dominik Schwitter zeigt, wie man Verankerungen zum Sichern in Schnee und Eis baut: den sogenannten T-Schlitz im Schnee (mit Pickel und Bandschlinge) oder das Setzen von Eisschrauben. Wie man eine Eisbirne baut, wenn man keine Schrauben zur Verfügung hat. Langsam dringt die Kälte bis in die Knochen, der Rückweg ist fast schon eine Erlösung. 

Obwohl es zünftig bergauf geht über den Gletscher und uns warm wird, sind alle glücklich, wieder in der Gondel zu sitzen. 

Kinder sind begeistert vom Klettersteig

Der frühzeitige Höhepunkt der Woche ist für meinen Sohn die Klettersteigtour aufs Mittaghorn, 3144 Meter über Meer. Dessen Gipfel bildet mit dem Egginer, 3367 Meter, einen Felskamm am Ende des Saastals. Von Saas Fee aus dominiert das Mittaghorn das Panorama im Süden, daher kommt auch sein Name, weil die Sonne mittags über ihm steht. 

Von der Seilbahnstation Morenia (2576 Meter) dauert es eine gute Stunde bis zum Einstieg. Ein Klettersteig ist eine künstlich angelegte Route, die durch Stahlseile, Eisenstifte, Eisentreppen, Eisenklammern oder Seilbrücken vorgegeben wird. Dank diesen Hilfsmitteln ist es auch für Nichtkletterer möglich, einen Klettersteig zu bewältigen. Allerdings nur mit der richtigen Ausrüstung: Klettersteigset, Klettergurt und Helm. Handschuhe sind von Vorteil. Voraussetzungen sind zudem Trittsicherheit und Schwindelfreiheit. Zudem sind Länge und Steilheit sowie die Ausgesetztheit entscheidende Faktoren. Anfänger sollten sich eher an kürzere sowie nicht allzu ausgesetzte Steige wagen.

Bergführer hilft Kind mit Kletterausrüstung

Bergführer Dominik Schwitter hilft dem Nachwuchsbergsteiger mit der Kletterausrüstung.

Quelle: Birthe Homann

Das Mittaghorn gilt als leicht bis mittelschwer, der Klettersteig allein ist in etwa zwei Stunden zu bewältigen. Vor allem im oberen Teil gibt es einige steile Stellen, die aber gut machbar sind. Bald ist nur noch das Geräusch der Karabiner am Stahlseil zu hören: ritsch, ratsch! Die Kinder sind begeistert, die Zeit verfliegt im Nu. Die Gruppe schafft auch die schwierigeren Stellen ohne Probleme.

Das Panorama auf dem Gipfel entschädigt für alle Anstrengungen. Viertausender rundherum, so weit der Blick reicht. Gewaltig – und diese Stille! Einfach schön. An unserem Picknickplatz unterhalb des Gipfelkreuzes wirds plötzlich hektisch: Ein Mäuschen versucht, etwas von unserem Proviant zu erhaschen. Wie überleben Mäuse hier oben auf einem felsigen Dreitausender? Bergführer Schwitter, der auch Biologe ist, erklärt: «Sie ernähren sich tatsächlich von den Essensresten der Bergsteiger. Auch auf dem Kilimandscharo gibt es viele Mäuse.» Wir fühlen uns Afrika plötzlich ganz nah.

Klettern spannender als Abwärtslaufen

Der steile Abstieg zur Seilbahnstation Plattjen macht meinen Sohn ziemlich hässig. Hinaufklettern ist halt viel spannender als Hinabwandern, das hat er jetzt definitiv gelernt. In der Beiz ist er dann aber stolz auf seine Leistung. Und das zu Recht.

An diesem Abend gehts früh zu Bett, am nächsten Tag steht die Tour zum Allalin an, der Höhepunkt der Woche. Bei wunderschönem Wetter machen wir uns auf und fahren mit der Metro Alpin bis auf 3500 Meter über Meer. Nach dem Überqueren der Skipisten ziehen wir die Steigeisen an, bilden zwei Seilschaften und ziehen mit den Pickeln los. Vorbei an gewaltigen Spalten gehts langsam hinauf zum Feejoch (3826 Meter), dem «Rastplatz». Das Wetter ändert sich leider schnell. Jetzt ist alles nur noch verhangen, man sieht kaum all die anderen Tourengänger vor und hinter einem; schade, denn auf dem Feejoch wäre eine wunderschöne Aussicht auf Rimpfischhorn, Strahlhorn, Matterhorn und das Monte-Rosa-Massiv zu geniessen. 

Hier oben macht mein Sohn schlapp. Er hat starke Kopfschmerzen, mag nicht mehr weiter. Höhe und Kälte machen ihm zu schaffen. So kurz vor dem Gipfel umzudrehen fällt mir nicht leicht. Aber es muss sein. Wir zwei seilen uns los, bilden eine Zweierseilschaft und steigen ab. Ein mulmiges Gefühl, plötzlich Bergführerin des Sohns zu sein. Ich bin heilfroh, als wir auf der Terrasse der Bergstation sitzen. Wir warten auf die anderen der Gruppe, die zwei Stunden später von ihrem ersten Viertausender zurückkommen. Mein Sohn sagt: «Hochtouren sind doof. Viel zu anstrengend!», und spricht damit wohl vielen Kindern aus dem Herzen. Das monotone Marschieren empfinden sie häufig als langweilig. Der Pickel ist für meinen Sohn bedeutungslos geworden. Er wünscht sich nun ein Klettersteigset zum Geburtstag. Der Gedanke daran muntert ihn wieder auf. Sichtlich erholt, fragt er: «Wann gehen wir wieder auf einen Klettersteig?» 

Karte mit Kursen und Klettersteigen für Familien
Quelle: Infografik: Andrea Klaiber
Kurs und Klettersteige für Familien

Schwierigkeitsskala von K1 (leicht) bis K6 (extrem schwierig)

  1. Saas Fee: Der Kurs «Familien-Bergsteigen (Fels/Eis)» in Saas Fee wird von der Bergschule Höhenfieber durchgeführt. Vier Übernachtungen im Vier-Bett-Familienzimmer in der Jugendherberge, Halbpension, Bergführer, Seil- und Übungsmaterial sind inbegriffen. Der Kurs wird empfohlen ab zehn Jahren.www.hoehenfieber.ch 
  2. Tälli (K3): Klettersteig ob Meiringen, grossartige Kulisse. Langer Steig mit luftigen Passagen. Nur bei sicherem Wetter gehen, da kein Zwischenabstieg möglich ist. Im Frühsommer oft noch Altschneereste (Steigeisen und Pickel mitnehmen). 
  3. Brunnistöckli (K2): Leichter Klettersteig ob Engelberg, mittlere Kondition erforderlich, geeignet für Einsteiger. Durchgehend gesichert mit einem Stahlseil. 
  4. Rigidalstock (K3): Tolle Trainingsrouten hoch über Engelberg. Rigidalstockgrat (östlich): mittelschwerer Klettersteig als Auf- und Abstieg. Gute Kondition erforderlich, geeignet für Einsteiger. 
  5. Braunwald (K3): Fantastische Glarner Alpenkulisse. Der Einsteiger- und Kinderklettersteig befindet sich an den Felsen 100 Meter oberhalb des Berggasthauses Gumen. Ein kleiner Rundgang, totale Stahlseillänge zirka 250 Meter.
  6. Via ferrata del diavolo (K2–K3): Spektakuläre Route in Granitfelsen der Schöllenen. Mässig schwieriger Klettersteig, ideal für Einsteiger. Mit 700 Metern Drahtseil, 265 Eisenstiften und Haken, künstlichen Tritten und zwei Leitern gesichert.